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Um diese Zeit, wo der Kampf zwischen den Girondisten und den Bergmännern oder vielmehr dem Gemeinderat in Paris begann, warf sich mein Bruder Georg mit jugendlichem Ungestüm nach der Seite der ersteren. Die Türen des Gefängnisses waren für ihn gleichsam schon geöffnet, als es ihm noch gelang, sich als Arzt des dänischen Krankenhauses halb und halb unter den Schutz der dänischen Gesandtschaft zu stellen. Als aber in den folgenden Monaten nach Camilles und Dantons Hinrichtung der Sturm ohne Schonung raste, erhielt er mit Hülfe des dänischen Predigers und eines Freundes (den er in einem Schreiben an Reinhold »unsern ältern Bruder« nennt), des nachmaligen Grafen Reinhard, Sohnes des württembergischen Dekans zu Balingen, einen Paß für die Schweiz. Reinhard, mit dem er später in die innigsten Verhältnisse trat, war durch eine Reihe außerordentlicher Zufälle in das Departement der auswärtigen Angelegenheiten als Chef de Bureau geworfen worden. Mit Reinhards Paß kam er nun binnen drei Tagen beinahe nackt und entblößt von allem Geld in der Schweiz an, von Reinhard, der die Schweiz unter sich hatte, an Bacher und Barthelemy, die französischen Geschäftsträger, empfohlen. Er fand, wie er sich ausdrückte, hier Gelegenheit, der Sache der Freiheit auf fremdem Boden zu dienen, während sie im Innern Frankreichs von den wildesten Tollköpfen täglich gemordet wurde.
Es wurde ihm aber sein Aufenthalt in der Schweiz durch die Parteisucht, die auch hier schon wütete, sehr unangenehm gemacht. Freund der republikanischen Freiheit, wurde er auch hier von den Aristokraten aufs bitterste verfolgt, und Feind der Bluthunde, war er von den wilden Demokraten eben nicht geliebt. Die Zahl der gemäßigt Denkenden war auch in der Schweiz klein, und sie waren überdies noch furchtsam und schwach. Als einen Proskribierten konnten ihn Bacher und Barthelemy nur schwach beschützen.
So durfte er nur wenige Tage in Basel verbleiben. Zu Zürich erhielt er mit Mühe die Erlaubnis, auf drei Monate in einem Privathause sich aufzuhalten. In Winterthur begehrte man auf Anstiften von Züricher Aristokraten einen württembergischen Paß von ihm.
Dazumal war der 10. Thermidor schon vorüber, die französischen Heere flogen von einem Siege zum andern. Freunde drangen in ihn, nach Württemberg zu reisen, und auch er hatte die allen Württembergern eigene Sehnsucht nach seinem Vaterlande, die ihn wohl noch stärker dahin trieb als der Gedanke, den er sich immer vorspiegelte, auch hier der Sache der Freiheit dienen zu können. Zu Fuße, mit höchst beschränkten Mitteln, unternahm er nun die Reise nach Ludwigsburg. Der Vater empfing ihn, wie zu erwarten war, sehr kalt. Dagegen fand er selbst bei einigen Räten des Herzogs Wohlwollen und Gehör, was Eifersucht und Argwohn erregte. Mit Vorwissen des Herzogs empfing ihn der Geheimsekretär desselben, Herr Schwab, der bei dem Herzog als ein sehr rechtschaffener Mann viel Gewicht hatte, und besprach sich mit ihm, als einem Wohlunterrichteten, über die Zustände Frankreichs, die Folgen seiner Revolution usw. Da er aber zum Anschlusse an Frankreich riet und auf die Frage, ob es denn nicht möglich sei, daß der Konvent an die Stelle Ludwigs XVI. seinen Sohn als Ludwig XVII. auf den Thron setzen könnte, lachte und auf die Sonne deutete und fragte, ob diese sich wohl freiwillig in den Mond verwandeln würde, erkannte man allerdings mit Schrecken, woher er kam und wie weit es mit diesem ehemaligen Ludwigsburger gekommen.
Demgemäß erschien auch schon nachmittags nach dieser Unterredung im Auftrag des Herzogs eine Emigrantin, die Gräfin Malchewska (die öfter Botschafterstelle beim guten Herzog vertrat), bei meinem Vater und brachte ihm bei, daß der Herzog nur aus Schonung für ihn seinem Sohne im stillen den Befehl erteilen lasse, sobald als möglich wieder über die Grenze zu gehen. Es erfolgte kein Abschied von dem Vater mehr.
Kaum gewann meine Mutter noch Zeit, dem Sohn Kleider und Weißzeug auszubessern. Mit einer kleinen Summe Geldes, das die Mutter ihm ohne Wissen des Vaters zusteckte, trat er die Fußreise gegen die Schweiz an, aber als er nach Aldingen, in die Gegend von Balingen kam, befand sich dort ein österreichischer Kordon, welchem er verdächtig erschien. Dieser nahm ihm seine Papiere ab, die allerdings von der Art waren, daß sie seine Lage sehr erschwerten. Er wurde nun ins Gefängnis gebracht, wahrscheinlich zu einem schmählichen Tode bestimmt, da erschien in der Mitternacht der Schultheiß des Orts, er hieß Meßner, im Gefängnis. Er hatte Kleider eines Mädchens aus der Baar, blauen Rock, rote Strümpfe und eine Haube für ihn mitgebracht, gab ihm einen Korb auf den Kopf und hieß ihn so aus dem Gefängnis mit nach Hause gehen. In diesem Anzug setzte er noch vor Tagesanbruch in Begleitung eines Knechts des Schultheißen seine Reise durch die österreichischen Truppen bis zu einem benachbarten Orte, wohin sie sich nicht mehr erstreckten, fort, und so kam er nun bald über die deutsche Grenze in die Schweiz. Nach kurzem Aufenthalt daselbst kam er zu Anfang Januars wieder in Paris an.
Korrespondenzen, die er nach Hamburg und in Usteris politische Monatsschrift einschickte, beschäftigten und unterhielten ihn. Er wohnte den bekannten Bewegungen bei, die im Frühling und Sommeranfang statthaften. Am 1. Prärial fiel er beinahe unter dem Mordstahl eines irregeleiteten Volkshaufens und entrann nur mit Mühe der Gefahr. – Von seinen späteren Schicksalen wird noch die Rede sein. Die hier erzählten fielen in mein frühes Knabenalter, in die Zeit, wo ich oft, im Schlafzimmer meiner Eltern liegend, sie noch in stiller Nacht mit Sorge von diesem meinem der Heimat ungetreuen Bruder reden hörte, dessen Schicksale sich meiner jugendlichen Phantasie in bunten Farben einprägten.