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Neueste Aussicht
Unerwartet ist vieles, was eben kommt, und ich würd' es selber nicht glauben, wenn ichs nicht selber erzählte. Niemals denkt man mehr an seinen Kopf, als wenn man in ihm drinnen etwas sucht (wie ich hier den anständigen Beschluß), oder auf ihm oben etwas trägt, wie Fleischer, Mauerer, Wäscherinnen die Gefäße; in jedem solchen Falle gibt man auf den Kopf acht; wer Kronen trägt, ist ein zu seichter Einwand.
Die Sache war nämlich so: nachdem der bisherige Fluß der Fibelschen Geschichte gleichsam als eine perte du Rhône nur unter die Erde hin verschwunden war: so mußt' ich nachsuchen, wo die Geschichte oder der Fluß wieder hervorbräche, und befragte deshalb alle Welt. Diese versetzte: mir könne wohl niemand Auskunft geben als das alte Herrlein in Bienenroda, ein trefflich steinaltes Männchen von mehr als 125 Jahren, das einige Meilen vom Dorfe abwohne, und das am gewissesten alles wisse, was sich etwa zu dessen Jugend-Zeiten mit Fibeln zugetragen.
– Nicht der Ruhm (man glaube mir), ein Hadrian zu sein, der bei dem Orakel über Homers Lebensumstände nachfragte (nämlich ich bei dem alten Herrlein in Rücksicht des Abc-Stellers), sondern die nahe Aussicht entzückte mich, endlich einmal nach meinem jahrelangen Wunsche einen ältesten Mann der Erde lebendig in die Hände zu bekommen; aber darunter verstand ich weniger einen Methusalem von 969 Jahren als einen Peter Zorten von 185 Jahren aus dem Temeswarer Bannat, weil jetzt unserem Gefühle und Gewohntsein und Gewißsein eigentlich der Ungar älter vorkommt als der Jude. »Eine eigne Empfindung,« sagt' ich, »ja eine neue müßt' es erwecken, ein ganz abgefloßnes Jahrhundert lebendig und kompakt im noch laufenden vor sich zu haben – nämlich einen vorsündflutigen (antediluvianischen) Menschen der Zeit bei der Hand und Haut anzugreifen, über dessen Haupt so manche Jugend-Morgen und Alter-Abende ganzer Zeugungen weggeflogen und vor dem man selber am Ende weder jung noch alt dasteht – einen ausländischen, hinterzeitigen, fast unheimlichen Menschen-Geist zu hören, welcher allein unter den eisgrauen Tausendschläfern und Bekannten seines schon überlebten Greisen-Alters übrigblieb und der nun als Wache vor den alten Toten sehr kalt und befremdet ins närrische Neue des Lebens blickt, in der Gegenwart keine Abkühlung findend für den angebornen Geister-Durst, kein Zauber-Gestern und Zauber-Morgen mehr, nur das Vorgestern der Jugend und das Übermorgen des Todes.« – Und wenn nun folglich der gar zu alte Mann, wie sich denken läßt, immer nur von seiner Vor-Vergangenheit, von dem Früh-Rot spricht, das jetzt am längsten Abende seines längsten Tages ordentlich mit dem Abend-Rot in Mitternacht zusammenrückt: so muß man schon vorher romantisch werden und empfinden, ehe nur der Über-Greis gestorben ist, dem seine Todes-Sonne in später Mitternacht aufgeht.
Dennoch wird auf der andern Seite einer wie ich nicht sonderlich jünger neben einem solchen Stunden-Millionär, wie der besagte Mann in Bienenroda sein soll, und muß weit mehr von Sterblichkeit als von Unsterblichkeit dabei empfinden; ein Greis erinnert stärker als ein Grab, je älter jener, desto mehr spiegelt er Sterben vor, je älter dieses, desto weiter schauet man in zurückliegende, hintereinander abgeblühte Jugenden hinein, und das eingesunkne beherbergt zuweilen eine Jungfrau, aber der veraltete, zusammengefallne Leib nur einen eingedrückten Geist.
– Meine Sehnsucht nach dem alten Herrlein nahm durch die Nachricht, daß er sich bloß den Bienenroder nenne – wobei jedem von selber das Bienrodische Abcbuch einfällt –, dermaßen zu, daß ich die erste Gelegenheit ergriff, die sich im folgenden Nachkapitel zur Reise nach dem Dorfe darbot.