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Nach-Freuden statt der Nach-Wehen
Da die Liebe in der dürftigen Zeit mehr darreicht als die Ehe in der reichen, ähnlich den Vögeln, welche auf den unbelaubten Zweigen schlagen, aber im Herbst auf den fruchttragenden verstummen: so hatte Gotthelf ein Jahr voll froher Jahrzehende vor sich; denn den herrlichen Kuß konnt' ihm niemand nehmen; und das goldne Ophir und Peru, aus welchem seine Eheringe geholt und geschmiedet werden konnten, lag ihm im Wandschränkchen sicher verwahrt. Er wunderte sich daher, wie er bei Drotta ein- oder ein paarmal habe ins Lamentieren geraten können; aber die vielen Rührungen durch das Wiegenfest erklären es jedem. Jetzt lebte und zehrte er von dem besten Kusse, den es unter den vier Arten und Jahreszeiten der Küsse gibt, nämlich vom Frühlingskusse, recht gemächlich.
Ich weiß nicht, ob allen Lesern die Einteilung so bekannt ist als mir – die Sache selber ist etwas Altes, und ich wundere mich über Unwissende; um aber diesen auch zu helfen, verschwend' ich ein paar Worte.
Mit dem besten, dem Abschieds- oder Valet- oder Schluß-Kuß – denn jeder kann ihn anders nennen –, fängt jeder an, so wie Fibel; ein blutjunger Mann hat nämlich lange und weich-warm gesprochen, getraut sich aber nicht – und er triffts auch –, seine Lippen anders anzuwenden. Beim Abschiede springt er davon, nachdem er vorher den Dixi-Kuß für notwendig und nicht für zu kühn gefunden. Ein Schulmann von mehr Witz als Geschmack wurde dies die erste Konjugation von vieren nennen.
Unter dem zweiten oder Mittel- oder Orientier-Kuß kann man nie etwas anders meinen als den ohne Stock und Hut – den nämlich, den sich junge Leute in einer Rede geben, die sie fortsetzen, wenn sie können vor Liebe – aber freilich wird oft länger jener als diese fortgesetzt.
Zum dritten – hier sei einmal kein Einfall – greift das Brautpaar; er wird beim Eintritte unter vier oder vierzig Augen ohne Bedenken gereicht. Er präludiert schon sehr dem vierten Kusse vor und ist dessen augenscheinlicher Vorläufer.
Von diesem vierten oder der kalten Jahrszeit aus dem Quartett wüßt' ich nichts zu sagen – er seines Orts kann überall gegeben werden, es sei vor oder nach dem Zanken, oder nach der Ehescheidung.
Aber durch welche Mittel ertrug Gotthelf eine durch die feste Drotta ausgesprochne jahreslange Ehescheidung vor der Ehe? Denn der Winter male der Liebe immerhin den Frühling voraus, und der Frühling ihr das Paradies, und dieses spiegle sie selber zurück: man hat nicht daran genug, man will einander ins Auge fassen und bei der Hand. Auch die Mutter konnte nicht ganz die Stellvertreterin oder den Widerschein der Geliebten vorstellen (ob sie gleich, als ein Weberschiffchen zwischen beiden hin- und herschießend, sie noch fester ineinanderwebte, indem sie zu Hause die Geliebte erhob und im Walde den Sohn und beider Tugenden ab- und zutrug); denn auch das stärkste Erregen der Sehnsucht trägt wenig zum Stillen derselben bei. War Helf aber nicht so glücklich – könnte ein Mann sagen, der im Dorfe die kleinsten Kindereien seines Nächsten wüßte –, die Wildmeisterin gerade am Sonntage in der Kirche und im Kirchenputze zu sehen? Und macht nicht die Sonntags-Glasur und Lasur des mittlern und tiefern Standes, den man sechs Tage lang im abgerissenen Einbande gesehen, einen tiefern Eindruck als alle Parade-Farben einer Dame, welche man nie ungefärbt erblickt, und die sich nur für fremde Augen, nicht für eigne Hände kleidet? Und ist es denn so unbekannt – könnte der Mann fortfahren –, daß sich Helf am zweiten Pfingsttage auf dem Chore hinter eine Birke stellte und unaufhörlich der zu einer Goldschleie aufgeschmückten Drotta – da auf dem Lande am zweiten Feiertag die Kleider-Ausstellung des jungen Volks ist – unaufhörlich und umgesehen ins andächtige Gesicht sah, so daß er sich teils durch den Maienduft der grünenden Kirche, teils durch die Augen einen Doppel-Rausch zuzog? Endlich – beschließt der Mann aus dem Dorfe – kann er ja bekanntlich das frohe Ereignis nicht leugnen, daß ein lungensüchtiger Anverwandter des Wildmeisters und des Vogelstellers begraben wurde, und Helf mit Drotta den Leichentrunk einnahm, nach dörflicher Sitte, und er sie, wie den Abendstern der Liebe, in der schönen Nacht des Trauerkleids erblickte, ja sie über den Tisch hinüber hörte; wie oft aber auf dem Lande der Genius des Todes sich bloß die Augen zubinde, um als ein Amor herumzufliegen, ist wirklich stadtkundig.
Aber was auch der Heiligenguter sage: wem einmal ein Frühlingskuß auf den Lippen sitzt wie Helfen, der würde, von der teuern Geberin abgeschieden, nicht zu bleiben wissen – er würde, mit den feurigen Naphthaquellen in der Brust, in der ein Jahr langen Wüstenei desto leichter verdursten – er würde stark sich Werthern nähern, folglich dem Pulver, das die Mühle selber, worin es bereitet wird, in die Luft sprengt – dies würde er so gewiß tun, als ich hier erst das 12te Kapitel schreibe, sobald sich nicht aus den Wolken selber ein Arm ausstreckte mit dem besten Arzneifinger an der Hand – sobald es daraus nicht plötzlich Brandsalben oder Balsam auf dergleichen Schmerzen regnete und gösse – sobald der Mann nicht unerwartet in einen zweiten Glückshafen oder Glückstopf einliefe – sobald das Schicksal nicht einen ganz unerwarteten Mardi gras an seine Fasttage stellte. – – – Aber Helf überkam den gedachten Finger – gedachten Balsam – Hafen – Topf – und mardi; – und von wem?
Von sich; er erfand das alte sächsische oder Bienrodische Abcbuch.