Jean Paul
Leben Fibels
Jean Paul

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11. Judas-Kapitel

Wald-Gang

Unbeschreiblich mit sich und dem Leben zufrieden, sich und die Landschaft beschauend und über keinen Zaun und Hügel verdrießlich, kam er, mit den statt der Uhren pulsierenden Fingern in den Uhrtaschen, vor dem bekannten Jägerhause an, dessen echte Geweih-Kronen auf den hölzernen Hirschköpfen er bis auf jedes Ende auswendig wußte. Alles war offen, aber niemand zu Hause als ein paar Hunde, welche bloß wedelten, ohne aufzustehen. Auch die Leerheit war ihm etwas Altes. Der alte Wildmeister, am Tage mit der Büchse belastet, abends mit dem Kruge, überließ der Tochter – die er deshalb so hoch schätzte wie den besten Hühnerhund – das Haus und den Tag. Oft saß sie in langen Winterabenden, nur vom finstern Sturme und vom krachenden Walde umgeben, unter Tieren allein und zog sich nur durch Vorarbeiten des Morgens in die schwarze Nacht einen kleinen lichten Raum. Schnaubte freilich ihr Vater frostrot und trinkrot endlich ein, so kam Lenz und Morgenrot in die Stube, und alle Hunde sprangen. Jeder Bericht von ihm war ihr ein Roman aus der Leihbibliothek, und jedes Zankwort bloß ein Vexierzug, der ihr Instrument stumm machte. Wie sanft tut einer Einsamen abends ein Mensch, wenn sie den ganzen Tag keine menschliche Stimme gehört als ihre singende, und kein Gesicht gesehen als ihres! – Ists daher ein Wunder, daß wir uns untereinander nicht viel inniger lieben als Wölfe und Spinnen, wenn man bedenkt, daß wir alle ganz verschwenderisch mit Menschen übersättigt werden, daß der eine in der Mittelstadt 10 000 Menschen zu lieben vorbekommt, der andere in der Residenzstadt gar 50 000, und vollends ein Kerl in Paris? Werft aber einen Pariser Egoisten nur ein Vierteljahr in einen einsamen Hunger- oder nur Leuchtturm und seht dann nach, wenn ihr ihm wieder aufmacht, ob er nicht als weicher Menschenfreund heraufkommt.

Als der wartende Gotthelf am offnen Fenster saß und die Hunde bewirtete, ergriff ihn eine Hand von draußen an den Haaren – die vollrosige Drotta guckte unter ihren großen Augenbraunen herein und sagte: »Will Er mit einbeeren? – Guten Abend!« und hob eine Hand voll Vogelbeeren für die Drosseln-Schneuß empor.

Er war sogleich dabei und draußen. Er ließ sie raten, was heute für ein Tag sei. »Peters-Tag«, sagte sie. »Noch ein anderer«, sagte er. Er bat sie, seinen grünen Plüsch zu betrachten – er gab ihr 1 Lot gemahlnen Kaffee – sie erriet nichts. Er ließ sie das Beeren-Eis trinken, sie wurde nicht klüger. Endlich sagte er: 1, 2, 3, und zählte bis 15. »Was denn?« versetzte sie – »Wenn Er aber etwa Seinen Geburtstag meint: so hat mir ihn die Mutter schon vorgestern gesagt, und unser Herr Gott wird gewiß für Ihn sorgen, nicht allein dieses Jahr, sondern auch die folgenden, was ich von Herzen wünsche.« – Sie gab ihm hastig das Vogelbeer-Drittel mit der Bitte zu eilen, damit sie sich zu Hause vernünftig setzen könnten und ein Wort reden. Auf daß er sich nicht im Walde verlaufe, schlug sie ein geistliches Lied zu singen vor, sie einen Vers, dann er einen. Sie wählte das Abendlied: »Der lieben Sonne Licht und Pracht.« Aber sie sangen sich bald auseinander, weil er die Gegensängerin näher glaubte, da er (vielleicht aus Einfalt) nicht wie sie seine Stimme zugleich mit der Ferne verdoppelte. Die Finken, welche in ein wärmeres Land gerade in dem Monate abfliegen, wo er selber im kältern angekommen war und wo der sel. Siegwart am Geburtstage einen als Geisel gefangen hatte, schlugen oder schrieen schon durch den sonst herbststummen Wald; dasselbe taten die Kreuzschnäbel, wie er in diesem Monat eben angekommen; und es war überhaupt im ganzen Wald viel lebendiger Ton, und man dachte mehr an Lenze als an sonst was. Endlich legte gar die Abendsonne an mehreren Stellen einen kleinen Waldbrand an, und viele Stämme flammten von der Wurzel bis an die Gipfel.

Ihm wurde das Innere süß-schwer, er wußte nicht wie – und gleich dem Wasser in einem unsichtbar-lecken Schiffe stieg es ihm die Brust immer voller hinan; die meisten Beeren legte er während Drottas Singen außerhalb der Schlinge. Sie kam wieder und hatte zwanzig Fallen mehr eingeködert und verbesserte kopfschüttelnd die seinigen.

Er sah einige Tropfen auf ihrem Gesicht für Arbeits-Regnen an; sie sagte, sie habe weinen müssen, weil sein Singen in der Ferne wie das ihrer seligen Mutter gelautet:»Ach Gotthelf,« setzte sie hinzu, »wohl dem, der noch eine hat!« Hier floß er ganz ins Lob der seinigen auseinander, die jeden Menschen so pflege und warte. »Nun,« sagte sie, »das täte noch lieber eine Tochter an ihr, und es schickte sich auch nicht anders.« Er wußte aber, von der Liebe zart gemacht, kein Mittel, der Haupt-Sache näher zu kommen und etwa damit herauszufahren, daß sie und seine Mutter einander unendlich beglücken würden. Gerührt und verwirrt war er ohnehin von Drottas Versicherung seiner Echo-Stimme aus dem mütterlichen Grabe und überhaupt vom ganzen Gespräch über zwei gute Mütter zugleich – denn das männliche Geschlecht hat eine besondere Achtung für Liebe gegen Mütter –; er faßte ihre Hand. »Was Er für eine weiche Hand hat gegen meine!« sagte sie. »Vom Studieren«, sagte er; »mich sticht alles.«

Während sie in der Zimmer-Finsternis Licht anschlug, trieb ers so weit, daß er seufzete: »Ich wollte, ich wäre sechzehn Jahre alte« – Sogleich hielt ihn wieder das ferne Gebetläuten aus seinem Dorfe auf, währenddessen beide die Hände schweigend falteten und laut sagten: »Amen!« Leichter wurde ihm sein Redefaden unter ihrer Arbeit zu spinnen und zu zwirnen, als sie Abendbrot für Hund und Wildmeister einschnitt und den Kaffee für sich und Helf abkochte. Er holte die neueste Zeitung zur Welt – übrigens sogar für die lesende Welt und Nachwelt die älteste –: Jetzt dauer' es nur noch sein Jährchen, so werde das Schränkchen aufgemacht. – »Wenn nun aber nichts drinnen wäre?« sagte sie. »Nun, so wär' ich ein geschlagner Mann«, versetzte er. »Ernähren will ich mich und die Mutter wohl mit meiner bloßen Feder, nach dem Beispiel der allergrößten Gelehrten, die ich im Drucke kenne; aber damit allein ist mir und der Mutter schlecht geholfen!« – »Leider Gottes!« sagte sie traurig. Nach diesem Wörtchen war es ihm nicht möglich, aus der Kaffee-Schüssel mit eingebrocktem Brote mitzuessen, so sehr sie ihm auch die Tasse, nämlich einen Löffel aufzwang. Er hatte nachzusinnen. So ist der Mensch; hundert Zweifel an seinem Glücke durchfliegen wie Wölkchen ohne Schatten seine Seele, er merkt es kaum vor Sonnenschein. Jetzt sprech' aber ein anderer von den nämlichen Zweifeln einige aus, sofort ist sein Himmel bedeckt.

»Iß Er!« – sagte sie – »was hilft alles? Er kennt meinen Vater. Dieses Jahr lang dürfen wir einander nicht gut sein und an nichts denken.« Er sah die Hirschgeweihe an den Wänden an, und sie kamen den feuchten Augen rege und stechend vor. Sie trocknete ihre eigenen und streichelte zärtlich von seiner Achsel bis zur Schreibhand herab und fügte bei: »Schick' Er nur die Mutter immerfort! – Ein Jahr ist bald vorbei.«

Diese warme Gegenwart siegte über die kalten Bilder der Zweifel; aus dem Kaffee-Satze waren anmutigere Prophezeiungen zu holen. Auf welchen Sonnenstäubchen fliegt oft dem Menschen eine kleine Sonne, ein Himmelsgarten an und wurzelt ein! Ein solches flatterndes Stäubchen bewohnt' er jetzt und sah davon herab.

Das Stäubchen wurde viel breiter, als sie das Licht ausschneuzte und sagte, sie wolle ihn ein wenig begleiten und durch den dunkeln Wald auf den kürzern Holzwegen führen. Sie zog ihn im Finstern an seiner Hand und befühlte einen weichen Finger nach dem andern. Als beide endlich aus dem Walde kamen und vor die hinabliegende, im Monde gleitende Landschaft traten, an deren Abhang unten sein lichtervolles Dörfchen lag: begleitete sie ihn wieder über nächste Raine und Fußsteige. Die Nacht war vielleicht die letzte schöne laue des Novembers, der einen verkürzten Nachsommer des Nachsommers mitbringt; der Mond war nach seiner Herbst-Sitte unerwartet früher im Himmel erschienen – das Saatgrün des künftigen Frühlings und die rote Blätterglut des Laubholzes färbten die bleiche Nacht und Jahres-Zeit lebendiger – rufend kamen im Himmel Winter-Vögel an, und Sommer-Vögel zogen ab, und auf den silbernen Gebirgen aus Gewölk, dachte man, müßten die Sommer-Gäste ausruhen und in die künftigen Länder schauen – und die ganze hinabglänzende Abdachung der Landschaft nach dem noch erleuchteten Dörfchen hin füllte die Seele mit Wunsch und Glück.

Lange sah Drotta den im Mondlicht blinkenden niedrigen Kirchturm an. Dann sagte sie hastig: »Gute Nacht«, behielt aber seine Hand. Er sagt' es auch und faßte ihre zweite.

»Ich habe schon gute Nacht gesagt, lieber Helf!« sagte sie mit anderer Stimme, und der Mond schien auf sie und zeigte den Liebesglanz ihrer Augen und alle offnen Rosen ihres Angesichts. »Auf ein ganzes Jahr gute Nacht?« fragte er und konnte seiner Tränen sich nicht enthalten. Und sie sanken einander in den ersten Kuß, ohne zu wissen wie. Alle Glut und Kraft und Kühnheit ihres Wesens wollten Drottas Lippen gleichsam in seine eindrücken, und die Küssende unterschied sich wild von der Sprechenden. »Schick' Er morgen die Mutter!« sagte sie und entlief.

Er sah ihr wenig sehend nach, bis sie der Wald verschlungen hatte. Dann sprang er mit Schwingen am Rücken den Abhang hinab. – Jeden Graben und Zaun überflog er leicht treffend. – Im Dorfe und in seinem Häuschen verwunderte er sich über die vielen Lichter, als wäre er so gar lange weggewesen. – Die zu einer schmerzhaften Lage herniedergeschlummerte Mutter weckt' er gelinde und führte die Schlaftrunkne an ihr Bette und sagte ihr, er wolle schlafen, und morgen erzähl' er schon alles.

Er sah aber vorher lange in den Mondschein hinaus – Landschaft und Seele verwebten sich ineinander seltsam und süß – er floß mit dem Schimmer in die Auen hin, und der Schimmer zog wieder in sein Herz und glänzte auf allen Gedanken. Und als er endlich die Augen schloß, hörte er nur eine, eine Stimme unaufhörlich, und die Liebesträne quoll davon heiß aus den geschloßnen Augenliedern.

O gönnt Jugend und Traum den Sterblichen! Sie gleichen den Blumen zu sehr, welche nur so lange schlafen, als sie blühen; sind sie abgeblüht, so stehen sie aufgetan der kalten nassen langen Nacht. Jünglinge und Jungfrauen schlummern, und daher träumen sie; raubt ihr den Schlaf, so raubt ihr den Traum und den zarten Keimen der Zukunft den Schirm!


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