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Am 14. Dezember 1934 tobte ein heftiger Staubsturm. Wir kehrten aus der ödesten Wüste der Erde, der Gaschun-Gobi, nach An-hsi zurück. Hier blieben wir einige Tage. Die Kraftwagen wurden durchgesehen, die Sachen gepackt und aufgeladen. Vier Tage später fuhren wir durch das südliche Stadttor Suiyuan-men. Bald erreichten wir die Straßengabel, wo der Weg nach Tun-hwang westwärts, der nach China ostwärts abzweigt.
Im Süden erheben sich in der Entfernung von ein Kilometer niedrige Berge. Im Norden erblicken wir Steppe, die in gelben Farbtönen schimmert. Wir sind jetzt auf der Seidenstraße, die hier durch eine Gruswüste läuft. Der Nan-schan rückt immer näher. Der Pei-schan hebt sich in der Ferne schwach ab. Links ist der Weg zum Osttor von An-hsi undeutlich zu sehen. Er ist jetzt durch Flugsand gesperrt. Die Straße wirkt tot und verlassen. Bisweilen fahren wir an einem mit Brennstoff beladenen Karren vorüber oder an ein paar Reitern auf Eseln. Einmal begegneten wir zwei alten Männern und einem Knaben, die singend und scherzend zu Fuß wanderten. Wie konnten sie in diesem Lande der Armut und Not zum Scherzen aufgelegt sein? Die Garnison von An-hsi sollte gerade heute abgelöst werden und nach Osten zurückkehren. Sie sollte alles Getreide und 130 Schafe ohne Entgelt mitnehmen. Wir hatten alle Aussicht, wieder auf Truppen zu stoßen und von diesen halbwilden tunganischen Gesellen gerupft zu werden. In dem unbewohnten Dorf Hsiao-wan kommen wir an der ersten Station der Postverbindung nach Osten vorüber. Der Boden senkt sich leicht nach Norden, man ahnt die Nähe des Suloho. Jenseits des Flusses steigt das Gelände kaum merkbar zum Fuß des Pei-schan an. An den Ufern des Suloho sind niedrige Jardangterrassen zu sehen.
Hier kommt ein Postreiter, dessen Pferd ein Schellenhalsband trägt. Eine Karawane von zwanzig Kamelen bringt Mehl nach Westen. Die Bronzeglocken klingen melodisch. Sicherlich ertönte diese Melodie schon in den Tagen der Handynastie. Seidenballen aber werden auf diesem Wege heute nicht mehr befördert. Streckenweise ist der Weg bis zu zwei Meter tief in den Boden eingeschnitten. Unzählige Ochsenkarren und Karawanen sind nötig gewesen, um eine solche Abnutzung zu erzielen. Das Alter dieser Straße muß ja auch nach Jahrtausenden gerechnet werden.
Am Morgen des 19. Dezember wurde unsere Geduld durch ein Mißgeschick auf die Probe gestellt. Die Limousine wurde von Effe gesteuert, Yew, Chen und ich waren Fahrgäste. Effe mußte die roten Fähnchen auf dem Wege einschlagen. Sie bezeichneten die Kompaßpeilungen für unsere Karte von der Seidenstraße. Kung, der in Serats Fahrerhäuschen saß, sammelte sie wieder ein. Georg bildete mit dem »Edsel« den Schluß der Kolonne. Er war lange außer Sicht gewesen. Nach kaum zwanzig Kilometern hielten wir in dem Dorf Wang-chia-chuang-tse, um die Verbindung mit Georg wieder aufzunehmen. Er hatte einen Schaden am Motor und konnte ohne Hilfe nicht fertig werden. Serat mußte umkehren und den »Edsel« ins Dorf schleppen. Hier wohnten einige Familien, und in ihrer Nähe wurden unsere Zelte aufgeschlagen. Ein kleines Lehmhaus wurde unsere Werkstatt. Der streikende Motor wurde losgeschraubt und in seine kleinsten Teile zerlegt. Ein paar Lager waren ausgelaufen und mußten ersetzt werden. Georg, Esse, Serat und Dschomtscha arbeiteten, feilten und putzten mehrere Tage. Inzwischen wurde es immer winterlicher. In der Nacht zum 20. Dezember hatten wir 21 Grad unter Null. Am nächsten Tag fiel Schnee, das ganze Land wurde weiß. Durch die Verzögerung entgingen wir den heranrückenden Truppenabteilungen. Als wir am 23. Dezember unsere Fahrt fortsetzten, waren die Soldaten schon vorbei.
Der Weg ist nach wie vor tief in den Boden eingeschnitten und nur drei Meter breit. Glücklicherweise ist der Verkehr sehr unbedeutend. Hier und da finden sich kleine Nebengleise, um das Ausweichen zu ermöglichen. An den schmälsten Stellen läuft ein Mann vor der Araba her und ruft und schreit, um etwaige entgegenkommende Karren zu warnen.
Pu-lung-chi (Bulungir) ist eine kleine Stadt mit verfallener Mauer und einem gähnenden Loch an Stelle des Stadttors. Der größte Teil der Stadt bestand aus Ödland. An manchen Stellen sah man alte Gräber. Nur in der Nordostecke wohnten gegen dreißig arme chinesische Familien. Fast die ganze Einwohnerschaft sah unserm Einzug durch das östliche, gleichfalls zerstörte Stadttor zu.
Über harte Grassteppe steuern wir nach Südosten und entfernen uns vom Suloho. Fünf Ochsengespanne bringen Brennstoff von der Steppe zur Stadt. Einige Male schrecken wir äsende Antilopen auf. Im Süden wie im Norden sind Gebirge zu sehen, jetzt in größerer Entfernung als leichte graublaue Schattenrisse. Links breitet sich ein vereister Sumpf aus. In einiger Entfernung läuft nördlich eine andere Karawanenstraße. Hier zieht gerade eine Kamelkarawane nach An-hsi. Fasanen huschen durch das Gras. Bei einem alten Wachtturm errichteten wir das Lager 143. Die Gegend hieß Chi-tao-kou. In der Nacht sank die Kälte auf 22 Grad. Am Morgen des Weihnachtstages war das ganze Land weiß von Rauhreif.
Wir überqueren ein sechzig Meter breites, ausgetrocknetes Flußbett. Auf den steilen Uferterrassen weidet eine große Schafherde. Wir fahren durch das Dorf Chi-tao-kou. Es besteht nur aus einigen grauen Lehmhäusern und Mauern und wenigen verstreut liegenden Gehöften. Man holpert und stolpert über die Kanalwälle. Tiefliegende Autos laufen ständig Gefahr, festzufahren. Jedesmal müssen die Spaten heraus, und die ganze Kolonne wird aufgehalten.
Durch ein einfaches Stadttor fahren wir in die gewundenen Straßen des großen Dorfs San-tao-kou hinein. Einige unserer Diener machen in den Läden des Basars schnell Weihnachtseinkäufe. Zwischen der Bauweise hier und den türkischen Städten und Dörfern in Sinkiang bestehen kaum Unterschiede. Es ist derselbe Schmutz und Staub, dieselbe Armut, es sind die gleichen verhungerten Schlucker mit nach Almosen ausgestreckten Händen. Überall sieht man Ruinen. Die Gegend soll früher viel dichter bewohnt gewesen sein. Die Bevölkerung hat sich durch Auswanderung, Hungersnot und schlechte Verwaltung von Jahr zu Jahr gelichtet. Am schlimmsten wirken sich die Erpressungen gewissenloser Generale für den Unterhalt ihrer Armeen aus. Diese Heere haben nur den Zweck, in ständig neuen Bürgerkriegen andere Generale zu bekämpfen. Alles wird mit immer neuen Abgaben und Steuern belegt. So reichen die Ersparnisse der Bauern nicht aus, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Schreckliche Kriege haben in den letzten Zeiten Kansu heimgesucht. Der Rest der Bevölkerung wird von ihren Oberen ausgesogen. Dabei gilt San-tao-kou, »Das dritte Tal«, als das blühendste und größte Dorf, das An-hsi untersteht. An-hsi ist eine Stadt mit Magistrat und Bürgermeister. San-tao-kou ist der östlichste Ort in seinem Bezirk. Im Osten schließt sich Yü-men an.
Wir hielten einen Augenblick an einem Basarladen. Unser prächtiger Koch reichte uns einen Korb mit Birnen, Kräutern und Feuerwerkskörpern als Weihnachtsgeschenk. Dann fuhren wir durch das Osttor und überquerten ein 120 Meter breites Flußbett mit mehreren Wasserarmen. Jenseits des Flusses war der Weg so sandig, daß er sich für unsere Kraftwagen nicht eignete. Wir kehrten daher um und folgten dem Flußbett, dessen Sohle weiter aufwärts mit tragfähigen Eisschollen bedeckt war. Später kommen wir in eine eigenartige Landschaft. Sie gleicht den durch Wind und Wasser herausgemeißelten Tonsedimenten, die für das Lop-Land so kennzeichnend sind. Sie werden von den Türken »Jardangs« genannt.
Zu beiden Seiten des Wegs sehen wir mehrere Antilopenherden. Die Tiere lasten sich durch uns nicht stören, halten sich aber in angemessener Entfernung. Este stoppt, nimmt seine Flinte und pirscht sich an die Antilopen heran. Er verschwindet in den Büschen und Unebenheiten des Geländes. Ein Schuß fällt. Die Antilopen fliehen pfeilschnell. Doch eine bleibt liegen. Es ist geradezu eine Sünde, die schönen Tiere zu töten, noch dazu am Weihnachtsabend. Das Opfer wurde ausgeweidet. Nun hatten wir frisches Fleisch zum Abend.
Die Brücke über den Suloho bei Yümen. Kung
Vor uns zeichnet sich ein dunkler Streifen, ein Vegetationsgürtel, ab. Er verrät deutlich die Nähe des Suloho, der an der kleinen Stadt Yümen vorüberfließt. Eine Weile später erreichen wir das Westufer des Flusses. Der Lastwagen mit den Zelten war vorausgefahren. Unser Lager war schon fast fertig, als wir anlangten. Der Suloho hatte ein 30 Meter breites und 4 Meter tief eingeschnittenes Bett, in dem ein etwa 60 Zentimeter tiefer Wasserarm floß. Vom Weihnachtslager hatten wir eine hübsche Aussicht auf das Flußbett und die Gärten am gegenüberliegenden Ufer. Eine kleine Brücke führt hier über den Suloho. Wir befinden uns am westlichen Rand der Stadt Yümen. Von ihrem Stadttor trennen uns Fluß und Brücke.
Weihnachten 1933 war festlich und gemütlich gefeiert worden. Damals waren wir gerade am Edsin-gol angelangt und hatten unsere Zelte im Walde aufgeschlagen. Hummel und Bergman waren noch bei uns gewesen. Sie hatten rechtzeitig die Vorbereitungen getroffen, um das höchste Fest des Jahres würdig zu begehen. Doch jetzt waren sie nicht mehr bei uns. Diese zweite Weihnacht unserer Autofahrt hatte ich nur die Schweden Georg und Effe bei mir.
Wir waren recht müde und hatten keine Zeit für besondere Festlichkeiten übrig. Aber die Chinesen waren Christen und hielten das Weihnachtsfest fast ebenso hoch wie wir. Nach einem Ruhestündchen in der Limousine erhielt ich gegen 6 Uhr die Botschaft, daß in meinem Zelt alles hergerichtet war. Ich fand das Innere des Zeltes strahlend hell und festlich erleuchtet von zahlreichen Kerzen. Auf dem gedeckten Tisch standen das Teegeschirr aus blauem Email und ein paar Teller mit Gebäck aus dem Basar von Yümen. Das Zelttuch über meinem Bett hatte Chen mit dem Spruch: » God Jul« (Frohe Weihnachten) geschmückt. Die riesigen Buchstaben waren aus rotem Papier ausgeschnitten und an dem Zelttuch befestigt worden. Um den Weihnachtsgruß herum schwebte eine Schar Weihnachtswichtel. Nur einen Tannenbaum hatten wir diesmal nicht.
Um 8 Uhr war das Essen fertig. Da »tunkten wir Weihnachtsbrühe« nach schwedischem Brauch und verzehrten unsern Festschmaus. In den späten Abendstunden ließen wir das Grammophon spielen und hörten zuerst das alte feierliche Weihnachtslied »Wie schön leucht' uns der Morgenstern«. Das Beste war jedoch, daß wir alle gesund waren und all die Gefahren, die uns entgegentraten, gut überstanden hatten. Die Stimmung wurde durch das Bewußtsein gehoben, daß wir nur noch anderthalb Monate bis zur Küste brauchten.
Dann erloschen die Lichter, und die Sterne der Christnacht glitzerten über dem großen Asien.
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Über die 13 Meter lange und 6 Meter breite Brücke über den Suloho fahren wir am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages zum Westtor Siu-teh-men von Yümen. Es ist mit einem Triumphbogen geschmückt. Hier werden wir von fünf Soldaten in hellgraublauen Uniformen und schwarzen Pelzmützen angehalten. Auf dem Rücken tragen sie gerollte Mäntel und Reserveschuhe. Ihr Anführer will unsere Pässe sehen. Er muß sich aber mit unsern Besuchskarten begnügen, die er in den Yamen des Bürgermeisters schickt. Wir selbst dürfen auch dorthin fahren. Der Sekretär empfängt uns und führt uns in ein Wartezimmer, das einer Gefängniszelle gleicht. Der höchste zivile Beamte der Stadt tritt ein und ladet uns zum Essen ein. Wir entschuldigten uns und fuhren weiter zum Kommandanten Ma Yo-ling, der uns dieselbe Höflichkeit erwies. Er erzählte, daß die Garnison aus 250 Mann, Chinesen und Tunganen, bestand. Die Zivilbevölkerung der Stadt zählte 400 Familien, von denen nur 30 Tunganen, die übrigen Chinesen waren. Weder Mongolen noch Osttürken wohnten in Yümen. Die Bewohner waren arm und hatten kaum die Mittel, sich Kleidung oder Essen zu kaufen. Die Ernte war ungewiß. Bessere Verkehrsverbindungen hielt Ma Yo-ling für überaus wichtig. Er hoffte, daß die Regierung in Nanking in drei Jahren eine Eisenbahn durch ganz Kansu bauen werde! Auf den engen und schmutzigen Straßen zwischen verfallenen Häusern liefen kleine Kinder umher. Sie waren nur mit einer Pelzjacke bekleidet, im übrigen aber splitternackt.
Tempel Kwei-hsin-lou in Yümen. Chen
Bald darauf verlassen wir Yümen durch das Osttor. Der Weg ist immer noch tief eingeschnitten. Oft kommen wir an Ruinen alter Mauern vorüber. In einem Dorf wuchsen einige Bäume. Hier waren ein paar Landleute und Karren zu sehen. Gefrorene Flüsse und Quellen überquerten wir auf einfachen, gebrechlichen Brücken.
Am 26. Dezember haben wir die südlichen Berge ganz nahe zur Rechten und zur Linken niedrige schwarze Hügel. An einem kleinen gefrorenen See liegt ein Dorf und in seiner Nähe ein Brunnen mit gutem Wasser. Die Bewohner der Gegend sehen arm aus. Die Ernte des Jahres war nur mittelmäßig gewesen. In grellem Gegensatz dazu stehen die beiden ersten Silben in sechs Dorfnamen, Chih-chin, »das rote Gold«. Tief in den Boden eingeschnitten läuft der Weg durch höckerige Grassteppen. Für Rinder, Kamele, Pferde und Schafe ist hier ausgezeichnete Weide. Das Land ist jetzt aber verödet. Vor einem alten Wegzeichen stehen fünf kleine Türme. Sie gleichen abgestumpften Pyramiden und sind von der Zeit übel mitgenommen worden.
Gegen Mittag befanden wir uns in dem Tal Hui-hui-pu in ungefähr 1800 Meter Höhe. Hier liegt, von einer viereckigen Mauer umgeben, eine kleine Stadt. In ihrer Basarstraße kauften wir Brennstoff. Links steht ein kleiner Tempel am Weg. Das Gelände ist recht schwierig. Zwischen Talgängen, Schluchten und Korridoren windet sich der Weg hindurch. Nach ein paar Stunden hört diese zerklüftete Landschaft auf. Wir kommen wieder auf offene Steppe hinaus, die sich sanft nach Osten senkt. Der Weg ist durch kleine Lehmklötze bezeichnet, ungefähr 11 oder 15 auf 10 Kilometer. Hier haben wir eine 1900 Meter hohe Wasserscheide überschritten. Dann fällt das Gelände langsam und geht in eine flache, fast völlig unfruchtbare Ebene über. Schließlich fahren wir durch einen engen Hohlweg, den mehrere Steinhaufen auf beiden Seiten begleiten. Wir kommen durch eine Terrassenpforte und erreichen Chia-yü-kwan, die berühmte Pforte, die in das Reich der Mitte führt. Wir sind an der Großen Mauer angelangt. Es ist eins der gewaltigsten Bauwerke, die je von Menschenhänden errichtet worden sind. Die Tore mit ihren Gewölbebogen, Torhäusern und mit Zinnen versehenen Mauern um kleine Höfe sind vor gut hundert Jahren ausgebessert oder neu erbaut worden. Das Ganze ist ein verwickeltes Bauwerk, wo Altes und Neues vermischt ist. Auf einem Feld in der Nähe eines kleinen Tempels und eines Begräbnisplatzes schlagen wir das Lager 146 auf.
Chia-yü-kwan am Westende der Großen Mauer. Yew
Am folgenden Morgen erstiegen wir die Mauerkronen dieser eigenartigen Anlagen von alten und neuen Toren, Torhäusern, Türmen und überwölbten Gängen und kleinen malerischen Höfen für Wachtsoldaten. Von hier oben hat man eine großartige Aussicht auf die alte Stadt. Gerade unter uns breiten sich ihre Lehmhäuser, Straßen und Gassen aus. Sie bilden innerhalb einer besonderen Stadtmauer ein Quadrat von etwa 100 Meter Seitenlänge.
Das Stadttor Yuan-yuan-men in Chia-yü-kwan. Yew
Alles ist sorgfältig und gediegen gebaut. Die Gewölbe der Tore, die Fußböden aus Steinplatten, die Torgänge mit ihren wunderbaren Durchblicken, alles ist gleich geschmackvoll und reizend. Die Oberbauten der Türme sind aus Holz errichtet und haben geschweifte Dächer. Um das untere Stockwerk ist ein Pfeilergang. Das Ganze ist großartig und ein würdiger Vorposten des eigentlichen Chinas. Das ursprüngliche Eingangstor ist nicht mehr vorhanden. Es ist durch ein neues ersetzt worden, das in seiner gediegenen und schweren Architektur ebenfalls stattlich und vornehm wirkt. Die alten Tore der Stadt stehen dagegen noch. Jedes ist ein Meisterwerk. Zur Mauerkrone klettert man auf stark abfallenden Rampen hinauf, ganz wie bei der Stadtmauer von Peking. Hier entrollt sich ein malerisches Panorama zwischen den äußeren Zinnen und der inneren Brustwehr. Holztreppen mit hohen Stufen führen zu den oberen Stockwerken der Türme hinauf. Jedes Stockwerk hat seinen Holzfußboden, wo man sich vor gähnenden Spalten in acht nehmen muß. In einem Turm hängt eine größere Bronzeglocke: an mehreren Stellen stehen noch kleine, kioskförmige Tempel. Von den Fenstern des obersten Turmstockwerks, wo der Wüstenwind seine alte Melodie singt, hat man eine erstaunliche Aussicht nach allen Seiten. Gerade zu seinen Füßen sieht man die in ihrem Viereck zusammengeballte Stadt Chia-yü-kwan und nordöstlich von ihr neuere Häusergruppen ohne Mauern. Nicht weit davon ist unser Lager bei dem Begräbnisplatz aufgeschlagen. Die mächtigen Zackenlinien der Mauerkronen bilden einen würdigen Rahmen um die verschiedenen Häusergruppen und Höfe.
Die Große Mauer sieht man ungefähr 10 Kilometer nach Süden bis zum Ufer des Flusses Pei-ta-ho. Nach der andern Seite geht sie ebenso weit nach Nordosten, dann nach Südosten, Osten und Ostsüdosten. Deutlich erkennt man die Seidenstraße, die von hier nach Su-tschou weiterläuft. Im Norden breiten sich die Flächen der endlosen Gobi aus. Im Süden zeichnen sich die nächsten Ketten des Nan-schan mit ihren Schneestreifen ab. In einer Entfernung von 30 oder 35 Kilometern liegt davor ein Wald, dessen Kiefern und Fichten als Holz für neue Bauten in Su-tschou und Chia-yü-kwan herhalten müssen.
Ein Künstler könnte Monate und Jahre an diesem wunderbaren Platz zubringen. Täglich würde er neue Entdeckungen für Pinsel und Feder machen. Es würde sich lohnen, diese meisterhaften Schöpfungen der Nachwelt zu bewahren. Sie gehen jetzt wie vieles andere in China ihrem Verfall entgegen. In Peking und Nanking gibt es eine Gesellschaft zur Erhaltung von Altertümern. Hier würde sie ein unerschöpfliches Arbeitsfeld finden. Hier sind die Täfelung und der Sockel des hundertjährigen Tores von Ma Chung-yins Horden abgerissen worden. Dort werden vor unsern Augen Balken und Bretter von den Türmen losgebrochen und als Feuerung verwendet. Ziegelsteine werden aus den Mauerzinnen herausgeschlagen, um zu Neubauten benutzt zu werden. Vergänglichkeit und Zerstörungswut gehen über all diese Schönheit hin, ohne daß die Behörden einen Finger krümmen.
Vor der Großen Mauer befinden sich die Ruinen einer älteren Mauer, die von Aurel Stein untersucht worden ist. Auch sie ist mit Wachttürmen versehen und erstreckt sich bis über Tun-hwang hinaus; das ist nach Westen der äußerste Punkt der Großen Mauer der Hankaiser.
Ehemals pflegten die chinesischen Soldaten, die gegen die Länder des Westens ins Feld geführt wurden, zu sagen: »Ich wünsche mir, daß es mir vergönnt ist, durch Yümen-kwan wieder einzutreten.« Die Soldaten, die von Chia-yü-kwan zu ihren Feldzügen nach Westen aufbrachen, sagten: »Vor uns ist die Wüste Gobi, hinter uns ist Chia-yü-kwan.« Sie meinten damit, daß alles, was sie im Leben liebten, innerhalb sicherer Mauern, östlich von Chia-yü-kwan und innerhalb der Großen Mauer lag.
Durch dieses Tor sind zahllose Heerfahrten gegangen und politische Gesandte gereist. Hier sind die Kaufleute mit ihren Karawanen durchgezogen, und durch diese Torgewölbe sind unzählige mit Seide beladene Ochsenkarren knarrend und knirschend auf ihrem langen Wege durch Innerasien nach dem Abendland gerollt. Wenn die Mauern dieser Torgewölbe reden könnten, hätten sie märchenhafte Abenteuer in unerschöpflicher Menge zu erzählen. Tien-hsia-hsiung-kwan, »Das stärkste Tor der Welt« – diese Worte sind auf einer schwarzen Tafel auf der Außenseite des großen Tores eingemeißelt. Die Inschrift hat vor etwa 120 Jahren ein General Li anbringen lassen, der die Garnison in Chia-yü-kwan befehligte.
Die Mittagssonne erinnerte uns an den Gang der Zeit, und mit schmerzlichem Bedauern verließen wir unsern hohen Aussichtspunkt. Wir gingen zu unsern Wagen zurück, die zwischen den Gräbern auf uns warteten.
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