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Die folgenden Tage regnete es heftig. Die Gassen verwandelten sich in Schlammflüsse. Eines Tages kam der Ingenieur C. C. Kung an. Ungefähr zur gleichen Zeit erschien auch Folke Bergman. Beide hatten mit ihren kleinen Karawanen unser Hauptquartier, Lager 70, am Kum-darja verlassen und auf verschiedenen Wegen den Kuruk-tagh durchquert. Kung hatte südlich von Turfan alle seine Tiere durch Verdursten verloren. Fast wäre er selbst mitsamt seinen Begleitern ums Leben gekommen.
Es ist unmöglich, alles zu erzählen, was sich in dieser schweren Zeit zutrug. Wir lebten in den Monaten der dritten Gefangenschaft in dauernder Spannung. Ich gebe nur einige Episoden und Geschehnisse nach dem Tagebuch wieder, um einen Begriff von den Verhältnissen zu vermitteln, unter denen unser Leben in dieser barbarisch zurückgebliebenen Stadt verstoß.
Das russische Visum für die Heimreise Hummels und Bergmans hatten wir schnell und leicht erhalten. Auch der mächtige Sheng Tupan empfing uns freundlich und versprach uns für unsere Heimkehrer Pässe und die Erlaubnis, über Tschugukschak die Provinz zu verlassen. Trotzdem verging noch fast ein Monat bis zur Abreise. Dr. Saposchnikoff schrieb ein ärztliches Zeugnis. Er bescheinigte darin unter Amtseid, daß Hummel sich wegen seiner Blutvergiftung in einem Institut für Tropenkrankheiten behandeln lassen müßte. So schmerzlich es auch war – er mußte um seiner Gesundheit willen die Expedition verlassen. Gewiß ging es ihm besser. Sein Zustand konnte sich aber unterwegs wieder verschlimmern. Ich konnte die Verantwortung nicht auf mich nehmen, ihn die lange Reise allein machen zu lassen. Nur Folke Bergman kam als Begleiter in Frage, was für mich doppelten Verlust bedeutete. Ich versuche nicht zu schildern, was es für mich hieß, in diesen kritischen, unsicheren Zeiten meine beiden schwedischen Freunde zu verlieren!
Wie sollten wir uns dem russischen Arzt für die uns geleisteten Dienste erkenntlich zeigen? Er weigerte sich bestimmt, ein Honorar anzunehmen. Glücklicherweise hatte Hummel 1928 einen Teil seiner medizinischen Ausrüstung zurückgelassen. Darunter befand sich ein Kasten mit erstklassigen chirurgischen Instrumenten. Diese erweckten bei Dr. Saposchnikoff Freude und Bewunderung. Die Apotheke dagegen wurde von dem Chef der Auswärtigen Abteilung Chen Teh-li gekauft, der in russischen Rubeln bezahlte. Dieses Geschäft stellte eine willkommene Aufbesserung unserer Finanzen für Hummels und Bergmans Heimreise dar.
Unsere Reisekasse war für acht Monate berechnet, während wir schon neun Monate unterwegs waren. In der Kriegszeit war das Leben in Sinkiang teuer, auch war der Wert des Geldes gesunken. Die ganze Rückreise nach Nanking stand uns noch bevor. Wir setzten daher ein Telegramm an den Eisenbahnminister Dr. Kuo Meng-yü auf, worin wir um eine zusätzliche Bewilligung von 20 000 mexikanischen Dollars baten. Das Telegramm wurde beinahe drei Monate lang unbeantwortet gelassen.
Eine kleine Hilfsexpedition wurde zu Georg, Effe und Chen nach dem Kum-darja gesandt. Der Kosak Konstantin leitete sie. Er führte auf einer von dem freundlichen Bürgermeister zur Verfügung gestellten Araba dem Lager 70 Nachschub zu. Vor allem Benzin und Öl, das wir glücklicherweise bekommen hatten, außerdem Proviant und Geld. Als Fuhrleute hatte er zwei Osttürken und als Begleitmannschaft drei chinesische Soldaten.
Ein über das andere Mal machten Yew und ich Sheng Tupan unsere Aufwartung. Er empfing uns immer höflich und freundlich und versprach alles, was wir wünschten. Kein Versprechen wurde jedoch gehalten. Daraufhin schrieben wir Briefe, die nach einigen Tagen beantwortet wurden. In einem versprach er uns Benzin, das niemals kam, und ein eigenes Expeditionshaus, das niemals fertig wurde.
Vielleicht ist es einer Menschenseele nützlich, geläutert und in Geduld gestärkt zu werden. Wir lernten aus eigener Erfahrung, wie es einem lebenslänglichen Gefangenen zumute sein muß. Ganze Tage lang saßen wir auf der Veranda und starrten auf die Sonnenrosen, Tomatenblüten und Oleander im Garten. Wie langsam verging die Zeit. Trotzdem hatten wir niemals Ruhe. Man fühlte sich unsicher und wartete, daß irgend etwas geschehen müsse. Man sehnte sich und sah kein Ende der Zeit der Gefangenschaft. Mit neidischen Blicken folgten wir immer dem rastlosen Zug der Wolken über dem Tien-schan auf ihrem Weg nach Gottes Berg. Könnten wir nur auf ihren blaugrauen Drachen und Wikingerschiffen zur Wüste und ihrer großen Stille zurückfahren. Es dunkelt. Ein Zyklon zieht sich über Urumtschi zusammen. Undurchdringliche Staubwolken führen im Garten einen Hexentanz auf. Die Stengel der Sonnenblumen beugen sich demütig vor der wilden Jagd der Dämonen. Ein gewaltiger Regenguß rauscht nieder. Wir ziehen uns in unser Zimmer zurück.
Reisende, die von Norden kommen, berichten, daß der Wasserlauf des Manas und andere Flüsse in der Dsungarei heftig angeschwollen sind. Wie sollen Hummel und Bergman durchkommen?
Sheng Tupan versucht, Kung zu überreden, bei ihm zu bleiben und beim Straßenbau behilflich zu sein. Dazu sind wir gerade gekommen. Trotzdem werden wir gefangengehalten und wie Spione behandelt. Kaum schauen wir über die Stadtmauer hinaus, so glaubt man schon an Fluchtabsichten.
Sheng Tupan kauft eins unserer Lastautos. Wir versuchen, den Preis hochzuhalten, aber er drückt uns bis auf 2500 mexikanische Dollar herunter. Der Betrag soll bei der russischen Bank einbezahlt werden – morgen. Das Geld kommt jedoch wochenlang nicht, und immer wieder heißt es »morgen«.
Apresoff hat von der Regierung in Moskau eine telegraphische Anfrage wegen unserer Expedition erhalten. Man hatte gehört, daß wir überfallen seien, in Gefahr schwebten, und verlangte nun Aufklärung. Apresoff antwortete, daß er mich täglich träfe und die ganze Expedition wohlauf sei.
Nach einiger Zeit schickten wir eine neue Erinnerung nach Nanking betreffs der 20 000 mexikanischen Dollar. Leider konnten wir nicht mitteilen, daß wir gegen unsern Willen festgehalten wurden. Das Telegramm wurde ja vom Tupan selbst zensiert. Wir sagten jedoch, daß wir uns ohne die erbetene Unterstützung auf eine Hungerzeit gefaßt machen müßten. Wir müßten, falls wir keine Hilfe von Nanking erhielten, alle Kraftwagen verkaufen. Sowohl Sheng Tupan als auch die Russen wollten sie gern haben. Dann konnten wir versuchen, mit Araben auf der Seidenstraße oder mit der Eisenbahn durch Sibirien fortzukommen. Wenn wir überhaupt Erlaubnis erhielten, die Stadt zu verlassen! Wer über Nowo-Sibirsk nach Moskau reiste, wurde als unschädlich angesehen. Wer sich aber ostwärts begab, war gefährlich. Denn dort lag Nanking. Die hohen Beamten wünschten eben nicht, daß die Zentralregierung neue Berichte über die Politik in Sinkiang empfing.
Am 1. August wurde eine politische Massenversammlung in der Stadt abgehalten. Sie dauerte 7½ Stunden. Dabei hielt Sheng Tupan eine Rede:
»Der Krieg ist gänzlich zu Ende. Ma Chung-yin ist besiegt und geflohen. Nun herrscht überall Friede und Glück, der Bauer kann heimziehen auf seinen Hof und seinen Acker bebauen. Jeder soll das Seine genießen. Es herrscht volle Freiheit, man kann ungehindert überallhin reisen. Nun beginnt die goldene Zeit, der Wiederaufbau …« Er sagte jedoch nichts davon, daß der Handel durch eine Sintflut vollständig ungedeckter Noten erstickt wurde, nichts von dem Verbot, nach Turfan oder Hami zu reisen.
Unter den Rednern bemerkte man auch ein dreizehnjähriges Mädchen, das keck die Schale seines Zorns über das »Große Pferd« ausgoß. »Wir Frauen haben mehr als die Männer gelitten durch die Gewalttaten, die diese Banditen gegen unser Geschlecht verübt haben!«
Kou hielt eine Rede, die ihm den Kopf hätte kosten können. Er war von Nanking hierher geschickt, um mit Sheng Tupan über die Fluglinie Schanghai-Urumtschi-Berlin zu verhandeln. Bisher war er aber auch nicht vom Fleck gekommen. Er sagte:
»Der Tupan von Sinkiang ist ein ausgezeichneter Generalgouverneur. Wenn jedoch alle seine Untergebenen schlecht sind und sich nicht um das Beste der Provinz bemühen, so wird der Generalgouverneur zu einem neuen Ma Chung-yin. Gute Verbindungswege, sowohl in der Luft als auf der Erde, sind notwendig. Es ist ein Skandal, daß man für eine Reise nach Kaschgar einen Monat opfern muß, wenn man dorthin im Auto in ein paar Tagen fahren und im Flugzeug in ein paar Stunden fliegen kann.«
Mitten in der Rede erhob sich Sheng Tupan und ging. Kou behielt jedoch seinen Kopf und durfte, was noch verwunderlicher war, nach einiger Zeit abreisen, nachdem er über drei Monate lang auf die erbetene Erlaubnis gewartet hatte.
Am 2. August fand ein Siegesfest statt. Ein gewaltiger Zug sammelte sich im Vorhof des Damen des Generalgouverneurs. An der Spitze marschierten 1500 Soldaten in feldgrauer Uniform, die neue russische Gewehre trugen; einige hatten Schuhe, andere Stiefel. Die Marschhaltung war nicht untadlig. Kleine drei- oder viereckige Fahnen flatterten über der Schar. Breite weiße oder rote Tücher waren zwischen zwei Stangen aufgespannt und wurden quer im Zug getragen. Die Inschriften waren wie üblich chinesisch, osttürkisch oder russisch: »Nieder mit dem Imperialismus, nieder mit Japan!« Dann folgte das Kadettenkorps mit Musik und Fahne, Beamte, Schulkinder, Knaben und Mädchen, jeder seine eigene kleine Fahne in der Hand. Zum Schluß fuhren sechs mit Studenten bemannte Lastautos. Das Ganze machte einen recht festlichen Eindruck. Die sechs Musikkapellen verübten einen Höllenlärm. An alle Hausecken hatte man rote und grüne Lappen geklebt, und auf den Dächern und Verkaufsständen waren Fahnen gehißt. Man sah die Kuomintangflagge – eine weiße strahlende Sonne in blauem Feld – und die rote Nationalflagge mit der Kuomintangflagge als Gösch in der oberen Innenseite. Fünf Flugzeuge schwebten über der Stadt und warfen Tausende von roten, grünen und weißen Zetteln ab. Sie waren mit Propagandaschriften auf chinesisch und türkisch bedruckt. Wir lasen einige davon auf und verbrachten eine genußreiche Stunde des Zuhörens, als Yew uns den Inhalt übersetzte:
»Die Vorhut des Imperialismus ist besiegt, aber noch lebt der Imperialismus selbst und versucht, unser Sinkiang zu überschwemmen. Er will die Provinz und ganz China erobern. Dabei werden die Bannerträger des Imperialismus miteinander in Streit geraten. Damit ist ein neuer Weltkrieg in vollem Gang. Wir sind zu schwach, um in dem zweiten Weltkrieg eine Rolle zu spielen. Es wird unser Schicksal sein, wie in einer Hölle zu leiden. Deshalb lautet unsere Forderung: Nieder mit dem Imperialismus, bleibt standhafte Feinde eines zweiten Weltkriegs.«
Auf einem andern Zettel stand:
»Mitbürger, Kameraden! Ma Chung-yin ist vernichtet. Er kann niemals mehr nach Sinkiang zurückkehren, um uns aufs neue zu quälen. Deshalb haben wir allen Grund, unsere Feste zu feiern. Für den Sieg haben wir der Weitsicht unserer neuen Regierung zu danken. Sie sah mit uns die Notwendigkeit, alle Stämme zu vereinigen. Nur so wurden wir vor den Verheerungen Ma Chung-yins gerettet. Nun feiern wir unsern Sieg. Wir müssen von nun an unsere neue Regierung bis zum äußersten unterstützen, ihr helfen, Sinkiang zu entwickeln. Dann werden wir Frieden haben und für ewige Zeiten glücklich und in Wohlstand leben.«
Man erkennt sie wieder, diese Locktöne und ihren Ursprung. Die Stämme Sinkiangs wünschen sich nichts Besseres, als in Frieden leben zu dürfen, wie sie das jahrhundertelang unter China getan haben. Ein unfähiger Generalgouverneur, Chin Shu-jen, hatte alle Tore für Revolten und Bürgerkrieg geöffnet. Das Volk hatte sich in seiner Not an den mohammedanischen General Ma Chung-yin um Hilfe gewandt. Der neue Generalgouverneur Sheng Tupan sah seine Macht von Ma bedroht. Er hatte sich an Rußland gewandt und alle Unterstützung erhalten, die er wünschte und brauchte. So glitt Sinkiang langsam und sicher unter russischen Einfluß, genau wie einige Jahrzehnte vorher die Äußere Mongolei. Vor dieser Form von behutsamem Imperialismus warnten die Flugblätter in keiner Weise. Man warnte nicht vor Rußland, sondern vor Japan. Von russischer Propaganda merkte man im übrigen im Sommer 1934 nichts. Für Rußlands Belange genügte es, Sinkiang hinsichtlich des Heerwesens, der Finanzen und des Handels in Händen zu haben. Die Ostgrenze Sinkiangs war gegen allen Handel mit dem eigentlichen China völlig abgeschlossen.
Inzwischen marschierte der Siegeszug durch die enge, schmutzige, zwischen türkische Läden und Verkaufsstände eingeklemmte Hauptstraße der Stadt. Die Kaufleute und die wenigen Kunden blickten stumpf und uninteressiert auf den lärmenden, bunten Karneval. Für sie war der Begriff Imperialismus eine dunkle Redensart. An die Versprechungen von Gold und reichen Ernten nach dem Siege über Ma konnten sie bei der herrschenden Teuerung nicht glauben. Nur wenige Bauern besaßen Mehl. Aus Furcht vor Hungersnot hüteten sie sich, ihren Vorrat zum Kauf anzubieten. Ganz zu schweigen von dem Zwang, Mehl an die Magazine der Regierung abzuliefern.
Am Abend des 4. August saßen wir plaudernd in unserm Zimmer, als ein Brief vom Sekretariatsbüro der Provinzialregierung abgeliefert wurde, der an »Die nordwestliche Autostraßenexpedition« adressiert war. Yew übersetzte ihn:
»Wir haben ein Telegramm vom Ministerium des Auswärtigen in Nanking erhalten. Dem Ministerium wurde berichtet, daß Dr. Sven Hedin und zehn Teilnehmer der nordwestlichen Autostraßenexpedition, der Postkommissar Kierkegaard aus Peking und der Geologe Parker Chen in der Provinz Sinkiang von Räubern angefallen, gefangen und nach Aksu geführt worden seien. Es ist festgestellt worden, daß diese Räuberbande unter dem Befehl eines gewissen mohammedanischen Führers stand. Bitte schicken Sie sofort Truppen aus, stellen Sie eine Untersuchung an, leisten Sie Hilfe und geben Sie uns Antwort.«
Unterzeichnet vom Ministerium des Auswärtigen am 13. Juni.
»Wir erlauben uns die Anfrage, ob der Inhalt des Telegrammes auf Wahrheit beruht. Wo befinden sich jetzt der genannte Postkommissar und der Geologe? Bitte stellen Sie Untersuchungen an und geben Sie uns Antwort, für die wir im voraus danken.«
Wir lachten Tränen über diesen kuriosen Brief. Man hätte in Nanking wohl wissen sollen, daß Kierkegaard nicht zu meiner Expedition gehörte, daß Parker C. Chen Astronom war und nicht Geologe. Das Ganze bezog sich wohl nur auf den Überfall in Korla und die Beschlagnahme unserer Kraftwagen auf dem Weg nach Kutscha und Aksu. Man kann verstehen, daß Nanking durch diese Nachrichten aus der Fassung gebracht war. Die Provinzialregierung in Urumtschi mußte jedoch wissen, daß ich nicht vom »Großen Pferd« als Gefangener nach Aksu geführt worden war. Auch auf Kierkegaard traf das nicht zu. Er hatte den Behörden seine Abschiedsbesuche gemacht, ehe er am 18. Juni die Heimreise nach Kopenhagen angetreten hatte. So einfache Ereignisse erzeugen schon eine so wilde Verwirrung! Man fragt sich, wie jemals Klarheit über Fragen von großer Tragweite gewonnen und wichtige Beschlüsse gefaßt werden sollen.
Yews Antwort an das Sekretariatsbüro hätte auch ihren Platz im Simplizissimus finden können. Sie war sehr lang und eingehend und schilderte unsere Erlebnisse und die Heimfahrt des Postchefs einfach und leichtfaßlich.
Am 7. August befanden wir drei Schweden uns nachmittags um 5 Uhr 45 im Zimmer. Bergman las laut vor. Da erfolgte ein ziemlich heftiger ringförmiger Erdstoß. Der Tee in unsern Gläsern lief über, der Mauerbewurf fiel an einigen Stellen herunter. Die Fensterscheiben klirrten. Hummel und Bergman eilten auf die Veranda hinaus und hinab in den Garten. Aus einer Art wunderlicher Neugier blieb ich einen Augenblick zurück, um zu sehen, ob das Dach einstürzen würde. Es hielt, aber der Raum schien sich zu drehen. Ich fühlte einen unbehaglichen Schwindel und folgte den andern. Dann lag die Erdkruste wieder so ruhig wie gewöhnlich da. In unserer Nachbarschaft waren drei Häuser zerstört. Vier Menschen sollen durch ein niederstürzendes Ziegeldach getötet worden sein.
Zwei Tage später hörten wir, daß dreißig Personen nachts 2 Uhr wegen Umtriebe gegen die Regierung verhaftet worden seien. Darunter befand sich der Leiter der Provinzialbank Soo. Fünf andere waren Weißrussen. Beim Verhör waren der Generalgouverneur und Chen Teh-li anwesend. Tupan fragte Soo:
»Bin ich nicht immer dein Freund gewesen, und habe ich nicht immer die größte Rücksicht auf dich genommen?«
»Ja, für meine eigene Person habe ich nicht zu klagen. Aber wie hast du das arme, unglückliche Volk in der Provinz behandelt?«
Man berichtete, daß fünfzehn Verhaftete erschossen worden wären. Das Gefängnis für politische Verbrecher liegt im Yamen des Generalgouverneurs. Wenn Gefängnismauern reden könnten! Da würde man furchtbare Berichte über Grausamkeiten und unmenschliche Martern zu hören bekommen. Die Leichen der Hingerichteten werden über die Stadtmauer geworfen.
Seit mehr als einem Monat hatten wir für Hummel und Bergman auf eine Möglichkeit gewartet, Urumtschi zu verlassen. Der Zustand unseres Doktors hatte sich nicht verbessert. Er hatte immer noch Fieber. Wie alles andere, hatten sich auch die Vorbereitungen zum Aufbruch unnötig lange hingezogen. Doch jetzt war endlich alles fertig. In der Nacht zum 12. August sollte eine Kolonne von zehn russischen Lastautos nach Tschugutschak, Bakhty und der Eisenbahn abgehen. Daß es diesmal wirklich Ernst wurde, ging auch daraus hervor, daß Apresoff am Nachmittag des 11. den Abschiedsbesuch der beiden Reisenden erwiderte.
Um 8 Uhr sollte das Südtor der Chinesenstadt geschlossen werden. Da die Autos vom russischen Stadtteil aus abfuhren, mußte man auf die Zeit achten. Wir essen zum letztenmal zusammen. Langsam vergehen die Stunden. Es naht sich die letzte, in der wir Abschied nehmen müssen, um auf getrennten Wegen unbekannten Schicksalen entgegenzugehen. Eine unerforschlich gnädige Vorsehung ließ uns nach acht Monaten wieder zusammentreffen. Da konnten wir uns dann gemeinsam freuen, daß der Abend des 11. August 1934 der Vergangenheit angehörte.
Bergman war lange vor 8 Uhr fertig. Hummel nahm die Sache jedoch ruhig und diktierte noch um ½9 Uhr Yew Anweisungen. Bergman war verzweifelt. Wenn sie diese Gelegenheit verpaßten, so konnten sie noch einen weiteren Monat warten. Es fehlten nur noch zehn Minuten an 9 Uhr, als der Doktor mit eiserner Ruhe zu uns auf die Veranda herauskam. Die Droschke des Postamts stand bereit. Das geringe Gepäck für die Reise nach Schweden war schon verladen. Große Umarmung! Dank für Geduld und Treue, Grüße an die Heimat! Das Hoftor wird bei Laternenschein geöffnet. Ein letzter Handschlag. Ein Peitschenknall. Schon hört man das Rollen des Wagens nur noch aus der Ferne.
Yew und Kung hatten die Droschke in einem Pekingkarren begleitet, falls es am Tor Schwierigkeiten geben sollte.
Ich war daher ganz allein. Grabesstille breitete sich über unsern Hof. Ich ging in das Zimmer und sank in einen Lehnstuhl. Es ist gut, daß man manche Augenblicke vergessen kann, daß die Erinnerung an böse Stunden nicht jahrelang die Freudentage des Lebens verdunkelt. Nach einer Stunde kam Yew zurück. Er berichtete, daß das Stadttor geschlossen gewesen war. Die Militärposten hätten sich geweigert, zu öffnen. »Man darf die Stadt nicht so spät verlassen – haben Sie Pässe? Nun gut, dann kann man ja nach dem Yamen telephonieren.«
Das war geschehen. Das Tor hatte sich geöffnet, und die Droschke war nach der Autostation weitergefahren. Erst um 5 Uhr morgens hatten sich die Kraftwagen in Marsch gesetzt und damit die lange, abenteuerliche Fahrt begonnen. Unsere Reisenden erreichten mit heiler Haut Nowo-Sibirsk, wo sie bei unserm Freund, dem deutschen Konsul Großkopf, Aufnahme und Unterstützung fanden.
Erst am 29. August, dem Tag, als Hummel und Bergman in Berlin ankamen, empfing ich die telegraphische Mitteilung von Großkopf, daß sie wohlbehalten durch seine Stadt gekommen wären. Das war eine frohe Botschaft, denn nun brauchten wir nicht länger in Sorge um sie zu sein.
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