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Am 14. August kommt ein Telegramm vom Eisenbahnminister in Nanking. Die für die Autoexpedition vorgesehene Zeit sei bereits überschritten … Wir wünschten jetzt nach Nanking zurückkehren zu dürfen. Die Expedition müßte jedoch nach dem ursprünglichen Plan noch nach Tschugutschak, Kuldscha oder Kaschgar gehen. Wenn sie jetzt zurückkehre, so habe sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. Wir sollten sofort die Gründe mitteilen, die uns den Abbruch der Reise wünschenswert erscheinen ließen.
Das Telegramm war die Antwort darauf, daß wir unserer vorgesetzten Behörde, dem Eisenbahnminister, mitgeteilt hatten, daß es für uns zwecklos sei, länger in Urumtschi zu bleiben, denn wir könnten die Erlaubnis nicht erhalten, einen der drei Wege einzuschlagen.
Erneut schrieben wir ein Gesuch an Sheng Tupan. Er sollte uns auf Grund des erwähnten Telegramms ein Lastauto und 1½ Tonnen Benzin für eine zwanzigtägige Reise nach Kaschgar leihen. Unsere Lastwagen befänden sich ja noch am Kum-darja und hätten weder Öl noch Brennstoff für die Fahrt. Wir bewiesen, daß dieser Ausflug leicht zu bewerkstelligen sei. Nach siebzehn Tagen kam die Antwort: eine höfliche, aber bestimmte Absage. Die Provinz sei arm an Kraftwagen. Die vorhandenen Wagen würden für Kriegszwecke gebraucht.
Am 21. bestand der Eisenbahnminister in einem Eiltelegramm nochmals darauf, daß wir einen der drei Wege innerhalb der Provinz befahren müßten. Wir konnten leider nicht antworten, daß der Generalgouverneur uns die drei Wege aus politischen Gründen sperrte. Eine solche Mitteilung würde Sheng Tupan niemals weiterbefördert haben. Es gehört zu der Geschichte, daß Bergman auf seiner Reise mit Hummel nach Tschugutschak Notizen über die Beschaffenheit der Straße machte. Sie wurden später dem Bericht der Ingenieure beigefügt. Wir hatten somit auch in diesem Punkt gewissermaßen den uns erteilten Auftrag ausgeführt.
Unsere Stellung war, gelinde gesagt, sonderbar. Wir wünschten nichts sehnlicher, als nach Kaschgar zu fahren, konnten aber hierfür keine Erlaubnis erhalten. Der Eisenbahnminister machte uns Vorwürfe, daß wir die Reise nicht antraten. Wir aber konnten ihn nicht von der Ursache des Stillsitzens unterrichten. Wir schrieben Brief auf Brief an Sheng Tupan und verlangten Antwort auf unsere Fragen. Aus Rußland waren uns Benzin und Motoröl versprochen worden. Sie konnten aber nicht vor Bezahlung geliefert werden. Sheng Tupan hatte einen unserer Wagen für 2500 mexikanische Dollar gekauft. Er wollte jedoch den Preis nicht bezahlen, ehe er das Auto hätte. Dieses aber befand sich am Kumdarja und konnte ohne Öl und Benzin nicht herbeigeschafft werden. Es wurde später noch schlimmer!
Dem Verbot in unserer Instruktion entsprechend, führten wir auf der Reise nach Sinkiang keine archäologischen Grabungen aus. Als jedoch Bergman, Parker, Chen und ich an den Ufern des Kum-darja einige alte Gräber fanden, gruben wir sie aus. Die Fundstücke, darunter auch Menschenschädel, nahmen wir mit. Wir wollten sie der entsprechenden Behörde in Nanking überlassen. Die Funde hatten uns Rückschlüsse ermöglicht, die die Fragen um die alte Seidenstraße erhellen konnten. Es dürfte ja kaum möglich sein, die geplante Autostraße zu bauen, ohne zuvor gründliche archäologische Forschungen zu betreiben. Man kann nämlich sicher sein, daß eine Autostraße von Sian-fu nach Kaschgar zu 90 vom Hundert der alten, sogenannten Seidenstraße folgen wird.
Am 26. August empfing ich ein am 7. Juli vom Eisenbahnminister aufgegebenes Telegramm, das die dramatische Spannung auf ihren Höhepunkt führte. Es lautete:
»Habe vom Unterrichtsminister einen Brief empfangen: ›Dr. Hedin gräbt ohne Erlaubnis am Lop-nor und am Tarimfluß nach archäologischen Schätzen. Das geschieht entgegen dem nationalen Gesetz und den Instruktionen des Ministeriums. Diese Vergehen fallen unter die Verantwortung Ihres Geschäftsbereichs. Bitte, die Angelegenheit zu untersuchen und mir das Ergebnis mitzuteilen. Dr. Sven Hedin und seine Expeditionsmitglieder haben kein Recht, archäologische Ausgrabungen vorzunehmen, was in den früher erteilten Instruktionen ausdrücklich festgelegt ist.‹ – Da ich aufgefordert worden bin, diese Frage zu untersuchen, so muß ich – wenn die Angaben auf Wahrheit beruhen – sagen, daß Ihre Handlungsweise unberechtigt ist. Sie müssen die Ausgrabungen sofort einstellen. Wenn Sie Funde gemacht haben, so muß jedes Stück an den Unterrichtsminister ausgeliefert werden. Ich erwarte Ihre umgehende Antwort.«
Nachdem ich das Telegramm nochmals genau durchgelesen hatte, war ich mir über meine Stellung klar. Ich sagte meinem Freund Yew, daß ich keinen Tag länger im Dienst des Ministeriums bleiben könnte, sondern sofort meinen Abschied nehmen müßte. Yew war verzweifelt und wollte davon nichts hören. Auch Kung war aufs tiefste erschrocken. Er meinte, daß die Expedition nur durch meinen Namen und meine Eigenschaft als Ausländer gerettet werden könnte. Alle andern Teilnehmer würden für unabsehbare Zeit inhaftiert werden, wenn ich sie verließe.
Zunächst beschlossen wir, ein Antwortschreiben an den Eisenbahnminister zu verfassen, das am gleichen Tag in Telegrammform abgehen sollte. Es wurde ein sehr langes Schriftstück. Zunächst erinnerten wir an Zweck und Ziel der Expedition. Wir wiederholten, wie wir mitten in den Bürgerkrieg geraten seien und beinahe erschossen worden wären. Wie wir uns Ende März auf Grund einer Instruktion von Sheng Tupan für zwei Monate nach dem Lop-nor zurückgezogen hätten. Wir hätten uns in zwei Gruppen geteilt. Die eine sollte die Straße durch den Kuruk-tagh nach Osten suchen, die andere die Bewässerungsmöglichkeiten erforschen, die der neue Fluß böte. Sodann berichteten wir über die Gräberfunde. Wir wiesen darauf hin, daß diese Gräber jeden Tag Gefahr liefen, von Wind und Wetter und vor allen Dingen durch die wandernden Wasser des Lop-nor zerstört und eingeebnet zu werden. Da sie geeignet seien, Kunde von Chinas Vorzeit zu geben, hätten wir geglaubt, sie nicht unberührt liegenlassen zu sollen. Wir hätten sie geöffnet und die Funde in der Absicht mitgeführt, sie dem Minister zu übergeben. – Wir fuhren fort: »Ihr Telegramm hat uns höchlichst verwundert. Wir werden Ihnen die Funde in Nanking persönlich übergeben und damit beweisen, welcher Art die ›Schätze‹ sind, die wir ausgegraben haben.«
Das Telegramm wurde von mir und von den chinesischen Expeditionsteilnehmern unterzeichnet und zur Zensur an Sheng Tupan geschickt. Nach zwei Tagen kam es mit der Bemerkung zurück, daß es zu lang sei. Wir sandten das Schriftstück daher als Brief. Yew verfertigte einen Auszug, der die Hauptpunkte enthielt und auf telegraphischem Wege abgesandt wurde.
Am 29. August ging folgendes Eiltelegramm von mir an den Eisenbahnminister ab:
»Habe Ihr Telegramm vom 7. Juli erhalten und erwogen. Es erregt meine Verwunderung, da es auf falschen Berichten beruht. Die Tatsache, daß Ew. Exzellenz Lügnern Glauben schenkt und Vorwürfe gegen mich erhebt, hat in höchstem Grade mein Ansehen untergraben und meine Ehre gekränkt. Da ich nicht beabsichtige, mich weiteren Beleidigungen dieser Art auszusetzen, reiche ich hiermit mein Abschiedsgesuch ein. Ich teile mit, daß ich mich vorbereite, sofort nach Schweden aufzubrechen, sobald ich die Erlaubnis habe, die Provinz zu verlassen.«
Erst nachdem dieses Telegramm abgesandt war, erhielt ich Kenntnis von einem andern, das gleichzeitig mit dem meinen abgegangen war. Es war nur von den chinesischen Teilnehmern unterzeichnet. Ich erhielt später eine Abschrift davon. Es war sehr schmeichelhaft für mich und enthielt unter anderm die Mitteilung, daß die Expedition zu völliger Auflösung verurteilt sei, falls ich sie verlassen würde.
Beide Telegramme wurden uns von Sheng Tupan am 2. September zurückgesandt. Sie hatten ihm offensichtlich Spaß gemacht, denn mit eigener Hand hatte er unter seinen roten Stempel auf mein Abschiedstelegramm geschrieben: »wird sofort abgesandt«, und auf das der Chinesen »wird ohne jeglichen Verzug abgesandt«.
Schneller als je zuvor, schon am 5. September, kam die Antwort auf mein Telegramm an den Eisenbahnminister:
»Ihr Telegramm vom 29. August ordnungsgemäß empfangen. Die Untersuchung über die Verlängerungsmöglichkeit der Suiyuan-Sinkiang-Straße nach Kaschgar ist sehr wichtig. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen umfassen ein weites Gebiet. Ihr Name ist in der ganzen Welt wohlbekannt. Sie haben Ihre Arbeit mit großem Verantwortungsbewußtsein und mit großer Energie in Angriff genommen, welche Tatsache höchst bewundernswert und zufriedenstellend ist. Ich bitte Sie dringend, zu bleiben und Ihre Arbeit fortzusetzen, um die gestellte Aufgabe zu erfüllen. – Kuo Meng-yü.«
Daraufhin dauerte es nicht lange, bis wir ein weiteres Telegramm mit der Mitteilung erhielten, daß der verlangte zusätzliche Betrag bewilligt und bei der Deutsch-Asiatischen Bank in Peking eingezahlt sei. Unsere Stellung war somit befestigt.
Am 4. September saßen Yew und ich um 6 Uhr abends auf unserer Veranda. Da ertönte vor dem Hoftor eine wohlbekannte Sirene. Wir eilten hinab. Das Tor öffnete sich, und eins unserer Lastautos, der treue »Edsel«, rollte in den Hof. Georg, Chia-kwei, Tschockdung und der Kosak Nikolei sprangen heraus. Hoch aufgerichtet, vergnügt und sonnengebräunt eilte Georg uns entgegen.
»Wo sind die andern, leben sie?«
»Alles wohl, allen geht es glänzend!«
Welche Freude! Alle unsere Sorgen waren verflogen!
Wir hatten vor drei Wochen Serat mit Benzin auf einer Araba nach Korla geschickt. Hier traf er die ganze Kolonne. An sich hätten sie gleich nach Urumtschi aufbrechen können und schon vor ein paar Wochen bei uns eintreffen müssen. Der Adjutant des Generals Bektieiews, Oberst Proschkurakoff, war aber vor einigen Monaten mit einem Lastauto nach Korla gekommen und hatte das dort von uns zurückgelassene Lastauto vorgefunden. Proschkurakoff hatte aus unserm Wagen lebenswichtige Teile des Motors herausgenommen, die er für seinen brauchte. So mußte Georg die ganze Reise von Korla nach Toksun zweimal machen. Dadurch war auch bedeutend mehr Benzin verbraucht worden, und die Kolonne war nicht weiter als bis Toksun gekommen. Von hier hatte Georg nur »Edsel« nach Urumtschi gebracht. Er mußte am 6. September mit neuem Benzin nach Toksun zurückkehren und die übrigen heranholen. Am 8. September waren wir aber alle versammelt, da auch Chen, Effe und Dschomtscha angekommen waren. Wir feierten ein Freudenfest, das eine der schönen Erinnerungen dieser Reise bildet.
Ein Teil unseres in Korla zurückgelassenen Gepäcks war von russischen Soldaten gestohlen worden. Die gestohlenen Motorteile konnten nie ersetzt werden, so daß wir später das schadhafte Lastauto in Urumtschi zurücklassen mußten.
Wie lange würden wir noch in diesem elenden Loch zurückgehalten werden? Anstatt uns nun, da alle Expeditionsmitglieder und alle fünf Lastautos in Urumtschi beisammen waren, fortzuhelfen, verfiel man auf einen neuen Kniff, um unsere Abfahrt zu verhindern. Am 13. erschien bei uns ein Adjutant Sheng Tupans mit dem Befehl, daß alle archäologischen Funde in der Provinz zurückbleiben müßten, da sie nach dem Gesetz nicht ausgeführt werden dürften. Er teilte uns ferner mit, daß einige andere Adjutanten Befehl erhalten hätten, nach dem Lop-nor zu reisen und nachzuprüfen, was wir getan hätten und wo wir gewesen wären. Ein glänzender Gedanke, da wir nur unbewohnte Gegenden besucht hatten!
Am nächsten Tag kam der Befehl, daß unser ganzes Gepäck zur Untersuchung nach dem Gasthaus gebracht werden müßte. Nur die zwei großen Kisten mit den Gräberfunden blieben versiegelt auf unserer Veranda stehen. Ein Adjutant wiederholte, daß eine Untersuchungsexpedition nach dem Lop-nor abgehen sollte, um die von uns dort verborgenen Schätze zu suchen. »Wenn wir sie finden, so werdet ihr alle ins Gefängnis geworfen.« Solange diese Expedition dauerte, mußten wir in Urumtschi warten. Was half es, daß wir auf Ehre und Gewissen versicherten, auch nicht eine Stecknadel am Lop-nor oder anderwärts verborgen zu haben.
Ich berichtete Apresoff unsere Lage, als wir alle sechs am gleichen Tage bei ihm zum Mittagessen eingeladen waren. Er sagte mir, daß – wie er gehört habe – Sheng Tupan berichtet worden sei, wir hätten bei den Ausgrabungen am Lop-nor kostbare Schätze gefunden. Sie seien von uns in oder bei Korla versteckt worden. Der Grund für unser wiederholtes Ansuchen, nach Kaschgar fahren zu dürfen, sei der, daß wir die in Korla verborgenen Schätze ausgraben wollten. Wir würden sie mit uns nach Kaschgar nehmen und dort dem englischen Generalkonsul anvertrauen. Mit seiner Hilfe würden sie dann nach Indien befördert. Diesem Märchen hatte Sheng Tupan Glauben geschenkt, und so wurden unsere Funde versiegelt und zurückgehalten.
*
Am 17. September wurden wir alle sechs von Sheng Tupan empfangen. Er saß an einem niedrigen Tisch und hielt Rat mit seiner Regierung. In einem angrenzenden Raum, durch den wir in das Audienzzimmer geführt wurden, saßen zehn Türken und Chinesen und warteten darauf, vorgelassen zu werden.
Wir brauchten nicht lange zu warten, bis der Generalgouverneur eintrat und zwischen uns und dem üblichen Tee Platz nahm.
Zunächst bat er uns, kein Gold außer Landes zu schmuggeln, da das Goldausfuhrverbot noch in Kraft sei. Er habe festgestellt, daß bedeutende Mengen heimlich über Turfan ausgeführt worden seien. »Wir brauchen selbst alles Gold, das in Sinkiang aufzutreiben ist. Flugzeuge, Munition und anderes Kriegsmaterial, das wir von Rußland gekauft haben, sollen damit bezahlt werden.«
Auf unsere Bitte um die Erlaubnis, aufbrechen zu dürfen, sobald unsere zwei beschädigten Lastautos ausgebessert seien, antwortete er:
»Den Paß können Sie haben, wann Sie wollen. Wie lange brauchen Sie zur Reparatur der Autos?«
»Etwa zehn Tage.«
»Dann wollen wir sagen, daß Sie Urumtschi am 1. Oktober verlassen.«
Er fügte hinzu:
»Ich habe von der Zentralregierung in Nanking den Befehl erhalten, jede Art von archäologischen Ausgrabungen zu verbieten und zu verhindern. Darunter fällt besonders das Öffnen von Gräbern. Wer gegen dieses Gebot verstößt, wird sogleich ins Gefängnis geworfen.«
Wir berichteten den ganzen Hergang der Ausgrabungen. Bergman hatte einen größeren Begräbnisplatz gefunden, der schon vor einigen Jahrzehnten von Türken fast ausgeplündert worden war. Nur eine Anzahl von Skeletteilen und Stoffetzen waren übriggeblieben. »Jemand hat Ew. Exzellenz gemeldet, daß wir kostbare Schätze gefunden und bei Korla verborgen hätten. Das ist nicht wahr.« Schließlich baten wir, zur Rückreise den Weg über Kucheng-tse wählen zu dürfen. Sheng Tupan beliebte zu scherzen:
»Sie, Herr Doktor, sind von Sinkiang so entzückt, die Bevölkerung der Provinz hat Sie gern, so bleiben Sie doch hier! Helfen Sie uns, die Provinz zu entwickeln und zu verbessern. Die Herren Yew und Kung wären gleichfalls für uns von Wert. Es ist nicht so leicht, Ingenieure von der Küste hierher zu bekommen. Wir haben uns daher gezwungen gesehen, uns an Sowjetrußland zu wenden.«
Den Inhalt solcher Audienzen pflegten wir an den Eisenbahnminister zu telegraphieren. Wir wußten, daß Sheng Tupan alle Telegramme selbst las. Er gewann somit an Gesicht in Nanking und erfuhr, wie hoch wir seine Höflichkeit schätzten.
Der 18. September war der Jahrestag des Falls von Mukden. Er wurde mit einem Trauerumzug durch die Stadt und mit einer flammenden Rede Sheng Tupans gefeiert.
Selbst jetzt bot die schmutzige orientalische Stadt mit ihrer bunten Mischung von chinesischem und türkischem Volk ein lebendiges Bild. In den Toren drängten sich Araben, Pekingkarren, Reiter, Eselkarawanen mit Baumwolle von Turfan, Wanderer, Hausierer, zerlumpte Buben und verlottertes Gesindel. Ein feuerrotes Flugblatt trug folgenden lehrreichen Text:
»Am 18. September vor drei Jahren haben die japanischen Imperialisten die uns gehörige Mandschurei erobert mit der Absicht, sich selbst vor Gefahren zu schützen und ihren unwürdigen Einbruch in unser Land durchzuführen. Die Regierung hat die Mandschurei ohne Widerstand aufgegeben. Sie hat damit dreißig Millionen unserer Landsleute der Unterdrückung durch die Imperialisten ausgeliefert. In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Invasion den Imperialisten jedoch gewisse Schwierigkeiten bereitet. Als Folge der ungleichen Verteilung der Kolonien wird eines schönen Tages ein Krieg zwischen den Imperialisten ausbrechen. Bevor der zweite Weltkrieg ausbricht, versuchen die verschiedenen imperialistischen Mächte, festen Grund unter die Füße zu bekommen. Durch ein einfaches militärisches Abenteuer eroberten die japanischen Imperialisten in ganz kurzer Zeit die Mandschurei. Sie werden zweifellos ihre Invasion in China ohne Unterbrechung fortsetzen. So haben zum Beispiel die Japaner am Ende des Kriegs längs der chinesischen Mauer alle wirtschaftlichen und militärischen Vorrechte in Nordchina mit Beschlag belegt. Nun schickt Japan Beamte, die Unruhen in Sinkiang anstiften sollen. Alles geschieht in der Absicht, auch diese Provinz zu erobern. Nur hierfür haben die japanischen Imperialisten den Plan gefaßt, die Eisenbahnen Peking-Suiyuan und Lunghai bis Hsing-hsing-hsia weiterzuführen. Dadurch bekommen sie Gelegenheit, in Sinkiang einzubrechen. Sinkiangs Bürger müssen das erkennen und alle diese schmutzigen Hunde totschlagen oder aus der Provinz vertreiben. Wir müssen scharf auf der Hut sein, um einige weitere schmutzige Hunde daran zu hindern, wieder in die Provinz einzudringen. Um das Gedenken an den 18. September zu ehren, müssen wir unser Bestes tun, die ganze Provinz Sinkiang zu verteidigen, ihre Vorrechte und Länder zu schützen, ihre verschiedenen Stämme zu einen, die Imperialisten anzugreifen und alles Land wiederzuerobern, das man uns genommen hat. Um alle Volksstämme zu einer festen Einheit zusammenzuschweißen, müssen sie gleichgestellt und gleichbehandelt werden. Mit Entschlossenheit müssen wir jeden Augenblick gegen den Imperialismus auf der Hut sein und ihm nur die eine Antwort geben: Blut! Nieder mit dem Imperialismus!«
Man behauptete, daß dieser Ausbruch gegen die schmutzigen Hunde an unsere Expedition gerichtet wäre! Davon, daß wir unsern Auftrag von der Zentralregierung in Nanking hatten, und daß dieser dahin ging, leistungsfähige Straßen nach und in Sinkiang zu schaffen, zu Nutz und Frommen der Chinesen und der von ihnen abhängigen Untertanenvölker, sagte man kein Wort. Man hielt uns nun schon seit langer Zeit zurück und verbot uns, einen der drei genannten Wege zu befahren. Damit bewies man deutlich, daß man uns als Feinde und Spione und nicht als Freunde betrachtete, die ausschließlich zum Vorteil der Provinz arbeiteten.
*
In Urumtschi wurde Hochzeit gefeiert. Von Zeit zu Zeit wurden Lote Menschen aus der Stadt hinausgebracht. Anfang September starb die Frau des alten Zivilgouverneurs Li Yung. Bereits am 19. war der graubärtige, freundliche und korpulente alte Herr bereit, eine neue Ehe einzugehen. Seine Wahl fiel auf eine dreißigjährige Frau von ganz außergewöhnlicher Häßlichkeit. Das Brautpaar und die Gäste fuhren in zwölf Wagen einher. Kaum waren sie vorbei, kam der Leichenzug eines Oberrichters. An der Spitze wurden gewaltige Papierlaternen getragen. Dann folgten eine Bahre, weiterhin schaukelnde Tragstühle und einige Wimpel an hohen Stangen. Eine Schar kleiner Kinder gehen im Zug mit. Sie tragen rote Gewänder, spitze Mützen und riesige Sonnenschirme. Rotgekleidete Buddhapriester und taoistische Mönche begleiten den mit weißen Tüchern geschmückten Wagen, der die Seele des toten Richters enthielt. Hinter ihm folgte eine Kompanie Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr. Dann erst begann das eigentliche Trauergefolge der Verwandten in weißer Trauerkleidung. Sie fuhren hinter der Musikkapelle, während andere Trauergäste zu Fuß durch den Schmutz gingen. Unter einem weißen Tabernakel kam der Sarg auf einer Bahre, die von sechzehn Trägern getragen wurde. Des Richters Tochter und andere weißgekleidete Damen erfüllten die Straße mit lautem Weinen. Zunächst wurde der Richter in einen Tempel verbracht, um dort geduldig auf einen für das Begräbnis glücklichen Tag zu warten.
Ein Gastmahl beim Außenminister artete zu einer barbarischen Veranstaltung aus. Die Speisen waren russisch, ebenso die Köche und die aufwartenden Diener. Die meisten Chinesen waren mehr oder weniger betrunken. Ein hoher Beamter taumelte umher und goß jedem Gast, den er leiden mochte, Reisbranntwein ins Haar (ich gehörte nicht zu seinen Günstlingen). Einige ältere Osttürken saßen still und vornehm am Tisch und rührten die alkoholischen Getränke nicht an. Sie verzogen keine Miene. Man konnte jedoch ihre Gedanken erraten. Um des lieben Friedens willen mußten sie anwesend sein. Sie heulten aber nicht mit den Wölfen. Sie haßten den Gastgeber und sein Volk und schämten sich, unter der Oberhoheit von Leuten zu stehen, die sich betranken.
Am 22. September besuchte ich den beratenden Sowjetgeneral Malikoff. Er ist in militärischen Geschäften Sheng Tupans rechte Hand und hat bedeutenden Einfluß. Bei dieser Gelegenheit sprach ich mit ihm auch über das tragische Schicksal des jungen Hanneken. Dieser war im Herbst 1933 von Peking nach Lan-tschou gereist. Dort traf er einen russischen Tataren, der ihm wegen seiner Sprachkenntnisse gefiel. Hanneken hatte sicherlich keine Ahnung davon, daß der Mann acht Jahre lang wegen Mordes im Gefängnis gesessen hatte. Im September des gleichen Jahres war Hanneken nach Hami gekommen und hatte seine Reise nach Chi-ko-sching-tse fortgesetzt, wo sich die Wege teilen. Der rechte führt nach Kucheng-tse, der linke nach Turfan. Hanneken war nach links abgebogen. Bald aber riet der russische Tatar, den Weg nach Kucheng-tse zu gehen. Für diesen Weg hatte sich Hanneken denn auch entschieden, war aber nie in Kucheng-tse angekommen. Seither war er verschollen. Die katholischen Patres hatten alles getan, was in ihrer Macht stand, um Klarheit über sein Schicksal zu gewinnen. Man erzählte mir, daß Hanneken einen großen Windhund gehabt habe, eine Hündin, die ihm immer treulich gefolgt sei. Einem von Ma Chung-yins Soldaten aus Su-tschou war die Hündin mit ihrem schwarzweißgefleckten Fell aufgefallen. Als der Soldat im Jahre 1934 wieder nach Su-tschou kam, hatte er berichtet, daß er bei einem Pelzhändler in Hami ein ähnliches Hundefell gesehen habe. Seiner Überzeugung nach müsse es von jener Hündin stammen, denn es gäbe sicherlich nicht zwei Hundefelle von der gleichen seltsamen Zeichnung. Der Soldat kannte die Treue des Tieres zu seinem Herrn und war davon überzeugt, daß die Hündin zugleich mit ihrem Herrn getötet worden sei. Bischof Loy und Pater Haberl waren der Ansicht, daß der junge Deutsche entweder von Kirgisen oder von dem russischen Tataren ermordet wurde. Sie hatten alle Hoffnung aufgegeben.
Nun erzählte ich General Malikoff die traurige Geschichte. Er hörte mich sehr aufmerksam an und stellte einige Fragen. Als ich ihn um Entschuldigung bat, daß ich seine Zeit in Anspruch nähme, antwortete er:
»Nein, nein, im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar. Detektivgeschichten haben mich immer interessiert.«
Daraufhin machte er sich ausführliche Notizen über alle Einzelheiten meines Berichts.
»Ich werde mein Bestes tun, um diese Sache aufzuklären. Zunächst werde ich untersuchen, welche Offiziere im September und Oktober 1933 während des Krieges mit Ma Chung-yin an der Straße von Chi-ko-sching-tse nach Kucheng-tse gelegen haben.«
»Ja«, antwortete ich, »selbst wenn Hanneken, was leider wahrscheinlich ist, nicht mehr lebt, so wäre es doch von größter Bedeutung, eine Bestätigung seines Todes und nähere Einzelheiten über sein unglückliches Schicksal zu bekommen. Vielleicht kann man sein Tagebuch oder andere Sachen von ihm finden.«
Ich erzählte auch, daß die Mutter des verschwundenen Jünglings, die Generalin Hanneken, Manfred Bökenkamp ausgesandt habe, um nach dem Vermißten zu suchen. Bökenkamp hatte ein Empfehlungsschreiben von dem verstorbenen Generalfeldmarschall von Hindenburg, der ein alter Freund des verstorbenen Generals Hanneken gewesen war.
Wie bereits berichtet, hatte ich Sheng Tupan gebeten, bei der Rückreise die Straße über Kucheng-tse und Chi-ko-sching-tse benutzen zu dürfen. Ich wählte diesen Weg besonders in der Hoffnung, einen Teil der dort wohnenden Kirgisen zu treffen und über Hanneken ausfragen zu können. Leider schlug diese Berechnung fehl. Wir wurden so lange aufgehalten, bis die Quellflüsse im Talboden zwischen den beiden Orten zufroren und den ganzen Weg mit einer dünnen Eisdecke überzogen, die für unsere schweren Wagen unbefahrbar war.
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