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Seit gestern nacht regnete es in Strömen. Das war nicht der Grund, warum wir zu Hause blieben. Der Generalgouverneur Sheng Shih-tsai, genannt Sheng Tupan, hatte uns ja durch seinen Adjutanten mitteilen lassen, daß er uns am Mittag zu sehen wünschte. Wir warteten auf Bescheid. Die Stunden krochen langsam dahin. Der Regen plätscherte eintönig auf den Steinfliesen des Hofs, auf den wir von unserm Zimmer aus blicken konnten. Abends um 8 Uhr schickten wir einen Boten nach Sheng Tupans Damen, um Bescheid zu erhalten. Er ließ antworten, daß wir am folgenden Morgen um 8 Uhr empfangen werden würden.
Apresoff, russischer Generalkonsul in Urumtschi
8 Uhr 15 waren wir zur Stelle. Ein Adjutant teilte uns mit, daß Seine Exzellenz 8 Uhr 30 in der Kadettenanstalt Vortrag zu halten habe. Wir mußten daher um 5 Uhr wiederkommen. Wir fragten taktvoll, ob wir in der Zwischenzeit den sowjetrussischen Generalkonsul und den Kommissar des dänischen Postwesens besuchen dürften. Ja, um alles in der Welt, das ist eine Sache für sich. Wir fuhren daher zum russischen Generalkonsulat. Generalkonsul Garegin Abramowitsch Apresoff empfing uns sogleich in Gegenwart von zwei Beamten. Er machte einen vorteilhaften Eindruck, war offen, jovial und heiter. Ich unterrichtete ihn über den Zweck unserer Mission. Er fand es klug von der Regierung in Nanking, Autostraßen nach Sinkiang anzulegen. Gegen unsere Absicht, nach Kuldscha und Tschugutschak zu fahren, habe er nichts einzuwenden. Er riet uns aber, binnen einer Woche dorthin zu reisen. Sonst könnte uns das Hochwasser im Manasfluß aufhalten. Benzin und Öl könnten wir zwar in Urumtschi kaufen, aber nur mit Sheng Tupans Erlaubnis. Unsere Abenteuer in Korla interessierten ihn sehr. Er beglückwünschte uns, daß wir Ma Chung-yins Truppen mit heiler Haut entkommen waren. Im übrigen hegte Apresoff, wie alle Russen, eine aufrichtige Bewunderung für das »Große Pferd«, seine Tapferkeit, Kühnheit und Schlagkraft.
Wir unserseits machten sichtlich einen vorteilhaften Eindruck auf den russischen Generalkonsul. Er lud uns bereits für den 11. Juni ein, in seinem Haus Mittag zu essen. Für uns war es von großer Bedeutung, gut mit ihm zu stehen. Er hatte die Macht, uns zu verhaften. Er konnte uns dabehalten und die ganze Expedition lähmen, falls es ihm behagte, oder falls er den Verdacht hegte, daß wir gegen die russischen Interessen in der Provinz vorgingen. Um gerecht zu sein, müssen wir anerkennen, daß es berechtigt war, uns zu mißtrauen. Die beiden früheren Abgesandten der Nankingregierung, General Hwang Mu-sung und der Außenminister Lo Wen-kang, hatten mit ihren Aufgaben Mißerfolg gehabt. Es war ihnen bedeutet worden, daß ihre Rolle als Vermittler oder »Friedenskommissare« weder erwünscht noch notwendig sei. Was wäre da natürlicher gewesen, als zu argwöhnen, daß wir, die dritte Gruppe von Abgesandten, unter der Maske eines Wegebauauftrages mit einem geheimen politischen Auftrag ausgerüstet wären? Unsere Stellung war daher von vornherein äußerst heikel. Wir mußten mit Vorsicht und größtem Takt auftreten. Unsere Taktik war sehr einfach. Yew und ich waren uns in allen Punkten einig: Vollkommene Aufrichtigkeit – wir hatten nichts zu verbergen, mochte bei uns spionieren, wer wollte. In Nanking war uns bedeutet worden, uns unter keinen Umständen in die Politik der Provinz zu mischen oder zu versuchen, sie zu erkunden. Die Richtlinien, denen wir zu folgen hatten, waren daher einfach und klar. Unser Aufenthalt in Urumtschi wurde trotzdem ein Fegefeuer der furchtbarsten Spannung, eine Zeit, die unsere Geduld bis zum äußersten auf die Probe stellte. Wenige Tage in der Stadt genügten, um uns davon zu überzeugen, daß sie das Ideal einer Intrigenhöhle darstellte.
Nach zweistündiger Unterhaltung bei Apresoff fuhren wir zum Postkontor und wurden schon im Hof von dem Leiter empfangen. Harald Kierkegaard war mir kein Fremdling und ich ihm auch nicht. Manches Mal während der großen Expedition hatten wir Briefe gewechselt. Er hatte uns in schweren Tagen geholfen, besonders in der Zeit, da Ambolt verschwunden war. Er kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen.
Kierkegaard war ein Mann von achtundvierzig Jahren, weißhaarig, lebhaft, munter und jovial wie die meisten Dänen. Nach einigen Minuten hatte ich die Veranlassung seiner überströmenden Freude erkannt. Er hatte seinen Dienst beendigt und sollte in einer Woche die Pesthöhle Urumtschi für Zeit und Ewigkeit verlassen. Wo er auch landete, es würde ein Paradies werden im Vergleich mit dieser elenden Stadt.
Wir begaben uns in sein Empfangszimmer. Dort lernten wir seinen Landsmann Ingenieur Egtarp kennen. Man hatte Egtarp goldene Berge bei der Gründung einer chemischen Fabrik versprochen. Nachdem er aber ein halbes Jahr vergeblich gewartet hatte, sah er die Sache für hoffnungslos an und wollte Kierkegaard auf feiner Heimreise nach Kopenhagen Gesellschaft leisten. Wir schlossen auch Bekanntschaft mit Kierkegaards Assistenten und Nachfolger Chen. Viele Jahre lang war das Postwesen in Sinkiang von Europäern verwaltet worden, während unserer großen Expedition von dem Engländer McLarn, vor ihm von einem Italiener. Wer Sheng Tupan wollte jetzt mit dieser Gewohnheit Schluß machen. Chen war ein Ehrenmann, ruhig, ehrlich und zuverlässig. Unsere Bekanntschaft mit ihm sollte bald sehr eng werden.
Unsere Post aus Korla hatte Kierkegaard richtig erreicht. Er hatte sie ohne Zensur weiterbefördert, etwas, was sonst ganz und gar unmöglich ist. Wir bekamen haarsträubende Schilderungen von den Ereignissen in Urumtschi, Kaschgar und andern Orten. Der russische Tatar Gmirkin war erschossen worden. Wir hatten ihn 1928 als Chef der Garage kennengelernt. Er war dann im Rang immer höher gestiegen. Sein Nachfolger Ivanow war ein alter Bekannter von uns. Seine Stellung galt als gesichert. Kierkegaard gab uns goldene Regeln: »Sprich nie mit jemand, laß die andern reden. Hör zu, sei aber scheinbar gleichgültig. Glaube niemandem, alle lügen, alle sind Spione, Angeber und Verräter. Jeder kann jeden Augenblick verschwinden. Es ist am besten, nicht danach zu fragen, wo er geblieben ist.«
Wieder rollten die Stunden dahin, und es wurde Zeit, zu Sheng Tupan zu fahren. Sein Yamen, Kierkegaards Wohnung und auch unser Haus lagen innerhalb der Mauer der chinesischen Stadt. Die Entfernungen waren also nicht groß, aber die Straßen waren jämmerlich.
Wir durchschritten ein paar Höfe und trafen den Gouverneur. Er führte uns in ein Empfangszimmer und lud uns ein, an einem Tisch Platz zu nehmen. Sheng Tupan war ein Mann von recht vorteilhaftem Aussehen. Er hatte forschende Augen, die jedoch unsern Blicken auswichen. Er begann damit, sich erzählen zu lassen, wie die Reise verlaufen war. Unsere Pässe hatte er gesehen und alles in bester Ordnung gefunden. Alle unsere Wünsche beantwortete er rasch, klar und deutlich. Benzin und Öl würde er selbst der Expedition über Aksu an den Kum-darja schicken. An den Tarim könnten wir reisen, aber erst in drei Monaten, wenn er das Land von Räubern gereinigt hätte. Sein vornehmes Ziel wäre, die vernachlässigte und zurückgebliebene Provinz zu heben und zu entwickeln. Er freute sich über die Hilfe, die wir ihm dabei leisten würden. Wie er gehört hätte, wünschten wir eine ruhigere Wohnung. Er habe daher Befehl gegeben, daß eine Wohnung von drei Zimmern mit einem europäischen und einem chinesischen Koch für uns in Ordnung gebracht würde. Falls wir Ersatzteile für unsere Autos brauchten, konnten wir sie von abgewrackten Wagen in der Garage bekommen. Geld könnten wir haben, so viel wir wollten. Das wurde ja nach Belieben in seinen eigenen Notenpressen gedruckt.
Sheng Tupan und der Verfasser. Yew
Einen liebenswürdigeren Empfang hätte man sich kaum von dem höchsten Beamten dieser Provinz wünschen können. Dabei stand er im Begriff, alle Bande mit dem Mutterland zu zerreißen. Zwei frühere Beamte hatte er schnöde abgewiesen.
Nach der Heimkehr schrieb ich Telegramme an meine Schwestern in Stockholm und an unsern Chef, den Eisenbahnminister. In beiden wurde die liebenswürdige Aufnahme hervorgehoben. Man mußte seine Worte wägen. Kein Telegramm wurde befördert, das nicht mit Sheng Tupans eigenem roten Stempel versehen war, den konnte aber nur er selbst anbringen. Wir standen daher wie alle andern unter der strengsten Zensur. Ein Telegramm, das eine Klage oder eine Mitteilung über die wirklichen Verhältnisse enthielt, wurde niemals befördert.
Am folgenden Tag erschien auf Befehl Sheng Tupans ein russischer Oberst Pavel Alexandrowitsch Pao, von den Chinesen Pao Fan-kwei genannt. Er war der vorzüglichste Dolmetscher des Generalgouverneurs und Meister der chinesischen Sprache. Er sah aus wie ein Sterbender und befand sich offenbar im letzten Stadium der Lungenschwindsucht. Während der Belagerung von Urumtschi Anfang 1934 hatte er Tag und Nacht am Telephon gesessen. Alle Befehle waren durch ihn gegangen. Sheng Tupan hatte ihm jetzt befohlen, für Yew und mich zwei bequeme Schlafzimmer und ein Empfangszimmer mit zwei Schreibtischen und Teppichen herrichten zu lassen. Ein russischer Koch sollte für uns angestellt werden. In drei Tagen sollte alles bereit sein.
In der Garage fanden wir unsern Freund Ivanow. Benzin gab es nicht einen Tropfen. Er erwarte aber gegen fünfzig Tonnen aus Manas. Wenn die angelangt wären, sollten wir bekommen, was wir wünschten. Alles sah recht vielversprechend aus – aber die erwähnten Zimmer wurden nie fertig, und von dem Benzin aus Manas hörte man nie wieder etwas. Wir besuchten einen andern Freund aus dem Jahr 1928, Antonoff. Damals war er bescheidener Kaufmann, jetzt General und Leiter des russischen Emigrantenkontingentes, das im April 1933 den Yamen Chin Shu-jens gestürmt und ihn vor die Tür gesetzt hatte. Antonoff war stellvertretender russischer Generalissimus, während Bektieiew im Feld gegen die Tunganen operierte. Beim Mittagessen bei Kierkegaard trafen wir zwei andere alte Freunde, Pater Hilbrenner von der Kongregation Societas Verbi Divini und Dr. Pedaschenko.
Gerüchte schwirrten durch die Luft wie Hummeln über Sommerwiesen. Jetzt wurde berichtet, daß eins von den »Großen Pferden«, ein Verwandter Ma Chung-yins, mit starken Truppen von An-hsi nach Hami im Anmarsch wäre. Er wollte von neuem in die Provinz einfallen. Würde diese Armee bei Hami geschlagen, so würde sie wahrscheinlich auf einem südlichen Weg wiederkommen. Sie könnte dann unsern am Kum-darja zurückgelassenen Autos gefährlich werden. Aber wie andere Gerüchte war auch dieses aus der Luft gegriffen.
Generalkonsul Apresoff hatte die Freundlichkeit, meine für Stockholm bestimmten Telegramme an die schwedische Gesandtschaft in Moskau zu befördern. Sie wurden russisch, aber des Telegraphisten wegen mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Unsere Telegramme nach China wurden von Yew chinesisch geschrieben und gingen durch Sheng Tupan.
Den 10. Juni verbrachten wir in der deutschen katholischen Mission bei den Patres Hilbrenner, Laedermann und Haberl. Sie erzählten merkwürdige und empörende Geschichten von den Aufständen und dem Bürgerkrieg.
Am 11. Juni hatten wir recht viele Erlebnisse. Zuerst kam Georgs Bruder, Gustav Söderbom, zu Besuch. Seine Lage in Urumtschi war womöglich noch ungewisser als unsere eigne. Vor ein paar Jahren war er zum zweitenmal von Peking im Auto hierhergereist. Er hatte gehofft, mit Billigung der Behörden eine Verkehrslinie zwischen Urumtschi und Kwei-hwa einzurichten. Aber er hatte keinen Erfolg gehabt. Er war in Geldschwierigkeiten geraten und konnte jetzt die Provinz nicht verlassen. Vor einiger Zeit war er in den Dienst eines Chinesen getreten, der den Ackerbau mit Hilfe eingeführter Maschinen verbessern wollte.
Um 1 Uhr waren wir zu Mittag beim russischen Generalkonsul Apresoff und seiner Frau eingeladen. In ihrem Salon hatten sich etwa zwanzig Gäste eingefunden. Unter ihnen war der Außen- und Finanzminister Chen Teh-li, der europäisch gekleidet ist und fließend russisch spricht. Ferner das ganze Konsulatspersonal, Kierkegaard und Egtarp und mehrere vornehme Chinesen, alle mit ihren Damen. Um 3 Uhr stellte sich der Generalgouverneur Sheng Tupan mit Frau ein. Pünktlichkeit ist keine Tugend in China. Yew und ich waren Ehrengäste. Die Wirte sind Armenier aus Baku. Apresoff war fünf Jahre Konsul in Rescht in Persien gewesen. In Meschhed hatte er früher mit Schah Riza Pählewi Schach gespielt. Er hatte auch in Taschkent gewohnt. Nach Urumtschi war er im November 1933 versetzt worden, also erst vor sieben Monaten. Trotzdem hatte er mehr als genug von dieser Stadt und sehnte sich nach Moskau.
Wir nahmen an einem Tisch Platz, der sich bog unter der Last von Flaschen und auserlesenen Speisen. Die Stimmung ging hoch – nicht zu verwundern nach einer solchen Bewirtung. Die Wirtin war hübsch und anmutig und sprach vortrefflich französisch. Der Wirt war unermüdlich in seiner Aufmerksamkeit. Wir scherzten, schwatzten, erzählten Anekdoten und tranken uns zu. Sheng Tupan saß schweigend dabei, ohne seine spähenden Augen von uns zu lassen. Nur einmal machte er eine Bemerkung:
»Sie müssen gute alte Freunde sein.«
»Ja, gewiß«, antworteten wir, »wir sind uns früher schon zweimal begegnet.«
Dann ging es in den Salon zu neuen Bergen von Torten, Gebäck, gesalzenen und gezuckerten Mandeln, Kaffee und Likören. Darauf begaben wir uns in den Park und besichtigten das neue Klubhaus des Konsuls. Schließlich landeten wir an einem freien Platz, wo ein Ballspiel stattfand, an dem Sheng Tupan teilnahm.
Apresoff erzählte, daß Sheng Tupan vor vier Monaten die Nachricht von unserer Ankunft in Hami, Turfan und Korla erhalten hätte. Er sei sehr ärgerlich, verwundert und mißtrauisch gewesen. Aber der Konsul hatte ihn beruhigt und ihm von meinen früheren Reisen in der Provinz erzählt. Der Tag wurde, wie Yew sich ausdrückte, dank der Gastfreiheit Apresoffs ein großer Erfolg für uns. Der gestrenge Tupan, der militärische Generalgouverneur, hatte deutlich vor Augen geführt bekommen, daß wir nicht als Spione behandelt zu werden brauchten.
Es war ein rauschendes Fest! Es dauerte siebeneinhalb Stunden. Seinen Abschluß erreichte es bei neuen Erfrischungen im Salon um die Morgendämmerung. Endlich brach Tupan auf. Wir folgten seinem Beispiel und boten ihm an, ihn und seine Frau in der Limousine nach ihrem Yamen zu fahren. Sie nahmen dankend an. Serat ließ den Wagen laufen. Die fünfzig Reiter, die Tupans Eskorte bildeten, hatten alle Mühe, uns zu folgen. Die Pferdehufe klatschten im Schlamm zwischen den Läden der Türken. Gewehre rasselten und Säbel klirrten. Die verängstigten Bewohner der Stadt fragten sich wohl verwundert, was los wäre.
Am nächsten Tag machten wir Besuch bei dem Zivilgouverneur Li Yung. Er war ein freundlicher, behäbiger Greis mit einem Bocksbart. Er war früher Gouverneur in Hami gewesen. Seinerzeit hatte ihn Marschall Yang nach Peking geschickt, um bei dem Präsidenten Tuan Chi-yu Unterstützung für den Bau von Autostraßen und Eisenbahnen und anderes mehr zu erwirken. Dazu gehörte Geld. Zur gleichen Zeit hatte England die Entschädigung für die Schäden des Boxeraufstandes in Gestalt von einigen zwanzig Millionen mexikanischen Dollars zurückgezahlt. Tuan hatte Li Yung einen Teil davon versprochen. Aber Tuan fiel, und sein Nachfolger Tschang Tso-lin brauchte das Geld für seine Kriege. Nach seiner Rückkehr wurde Li Yung Ratgeber bei Yang und später bei Chin Shu-jen. Als Sheng Shih-tsai im Frühjahr 1933 die höchste Macht an sich riß und Militärgouverneur geworden war, machte er Lin Ting-shan zum Zivilgouverneur. Sheng Shih-tsai wurde aber bei Hwang Mu-sungs Besuch gestürzt und seitdem auf seinem Hof in Urumtschi gefangengehalten. Daher konnte auch ich diesen unsern alten Freund von 1928 nicht besuchen. Erst vor drei Monaten, Anfang März 1934, hatte Li Yung sein hohes Amt angetreten. Uns gegenüber machte er kein Geheimnis aus seinem Haß gegen Chin Shu-jen. Nach seiner Überzeugung trug Chin Shu-jen die Schuld an all dem Unglück, das seit dem Sommer 1931 über Sinkiang gekommen war.
Ich hatte Apresoff zugesagt, im russischen Klub einen Vortrag über meine Reise durch die Wüste Takla-makan im Jahr 1895 zu halten. Der Saal war vollbesetzt von 250 Bolschewiken und einigen Chinesen, die Russisch verstanden, unter ihnen Chen Teh-li. Apresoff leitete die Veranstaltung mit einigen freundlichen Begrüßungsworten ein. Dann bestieg ich das Podium und hielt meinen Vortrag vor einem sehr dankbaren und wohlwollend gestimmten Publikum. Über und hinter mir strahlte auf einem feuerroten Tuch an der Wand in goldener Schrift ein Ausspruch von Stalin, »daß der Krieg ein Fluch sei und daß wir mit allen Völkern der Erde im Frieden leben wollen!«
Ein Balalaikaorchester trat auf. Junge Männer und Mädchen in ukrainischer Tracht führten geschmackvoll und elegant die Volkstänze ihrer Heimat vor.
Eine chinesische Hochzeit war ein ungewöhnliches Ereignis! Sheng Tupans jüngerer Bruder war der glückliche Bräutigam. Yew und ich hatten eine Einladung zur Hochzeit erhalten, die im Dorf Shui-mo-ko oder »Wassermühle« gefeiert wurde. Es liegt im Nordosten der Stadt, und war mit dem Wagen in einer Viertelstunde zu erreichen. Das kleine Dorf war idyllisch. Bei einer Temperatur von 35,2 Grad empfand man es erquickend, unter die Schatten dichtbelaubter Bäume zu kommen. Die Landstraße verläuft etwas oberhalb des Dorfes. Sie war von berittenen Soldaten aus Sheng Tupans Leibwache besetzt. Unser Kraftwagen war der einzige Vertreter seiner Art. Der Generalgouverneur zieht das Reiten dem Autofahren vor. Daher glauben seine Untergebenen sich nicht berechtigt, das bequemste aller Fahrzeuge zu verwenden. Ich fragte ihn einmal nach dem Grund. Er antwortete, es mangele an Benzin, der vorhandene Vorrat würde für Kriegszwecke benötigt. Er wollte durch seine Sparsamkeit mit gutem Beispiel vorangehen.
Eine Freitreppe führt zu einem Pavillon hinauf. In seinem Innern hängt von Flaggen umgeben ein Bild von Sun Yak-sen. Säulen tragen das Dach, Teppiche bedecken den Boden! Eingeladen sind mehrere hundert Chinesen, darunter Li Yung und Chen Teh-li sowie mehrere sowjetrussische Offiziere, einige Generale, die bei Sheng Tupan als militärische Ratgeber Dienst tun. Der Bräutigam tritt vor an den Tisch unter Sun Yat-sens Bild. Dann kommt die Braut von ihren Dienerinnen begleitet. Sie trägt ein zartes rosenfarbiges Gewand und einen Schleier von gleicher Farbe auf dem Kopf. Er gleicht einem Turban oder einer Brautkrone. In der Hand hält sie einen Blumenstrauß. Sie ist jung und hübsch und geht mit gesenktem Kopf, schüchtern und verschämt. Mit seinem Gefolge bildet das Brautpaar einen Halbkreis vor dem Bild des großen Revolutionärs. Ein Herr verliest den Ehekontrakt. Die Neuvermählten verneigen sich vor Sheng Tupan und voreinander. Reden werden von Tupan, dem Bräutigam und einigen andern gehalten. Als das Brautpaar verschwunden war, wurde das Mittagessen aufgetragen. Dabei erzählte Chen Teh-li von meinem Vortrag im Klub, worauf Tupan mich bat, einmal einen Vortrag über den Lop-nor zu halten. Das versprach ich. Aber ich wartete später vergebens auf eine Aufforderung. Es ging mit diesem Plan wie mit allem andern von dieser Seite.
Yew und ich zögerten nicht, Kierkegaards freundliche Einladung anzunehmen, mit dem wenigen, was wir vom Kum-darja und Korla mitgenommen hatten, bei ihm zu wohnen. Das Haus war von der Generalpostdirektion in Schanghai gebaut. Es war einstöckig im Bungalowstil mit großer Veranda, einem hellen, geräumigen Wohnzimmer zur Rechten, einem Eßzimmer zur Linken sowie mehreren Schlaf- und Gastzimmern. In Sheng Tupans Gästehaus hatten wir keine Ruhe gehabt. Den ganzen Tag herrschten Geschrei, Würfelspiel und Trinkgelage, und im Vorraum vor unserm Zimmer klingelte fortwährend das Telephon. Das Schlimmste war jedoch, daß man nie vor Spionen sicher war. Auch konnten unsere Habseligkeiten jederzeit gestohlen werden. Eines Tages überbrachte man uns von Sheng Tupan 20 000 Urumtschi-Taels, ungefähr 120 Mark. Wir hatten keinen Platz, dieses Geschenk aufzubewahren, und übergaben es Kierkegaard zur Aufbewahrung. Schließlich bat ich Oberst Pao, Sheng Tupan zu sagen, daß ich nicht länger den unbehaglichen Raum bewohnen wollte, den er uns gegeben hatte. Ich hätte die Absicht, zu Kierkegaard zu ziehen. Am Tag darauf berichtete Pao, der Generalgouverneur wäre ärgerlich über meine Kritik. Er sähe es ungern, daß ich zum Postkommissar zöge, der wie alle Fremden in der Stadt verdächtig und ungern gesehen war. Eines Nachmittags in der dritten Stunde siedelten wir aber doch zu Kierkegaard über. Dies mußte offenbar Sheng Tupan sofort berichtet worden sein. Die Zurechtweisung, die er uns gab, war höchst originell. Um 4 Uhr kam er in die eben von uns verlassene Wohnung, um uns einen Besuch zu machen. Dort saß er und wartete stundenlang auf uns und unterhielt sich mit den andern im Hause wohnenden offiziellen Gästen. Schließlich lud er sie alle zu Mittag ein, eine Ehre, deren Yew und ich verlustig gingen.
Unser neuer Wirt sorgte königlich für uns. Er schilderte lebhaft die blutigen Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft in der Stadt zugetragen hatten. Sie bewiesen, daß es auch um unsere eigene Sicherheit nicht zum Besten bestellt war.
Die chinesische Armee war 1933 von den Japanern in der Mandschurei geschlagen und über die Grenze nach Sibirien geworfen worden. Sie war von den Russen entwaffnet und nach Sinkiang gebracht worden. Einige zwanzig Offiziere wurden eines Tages verhaftet und erschossen. Sie waren der Verschwörung gegen die bestehende Ordnung angeklagt worden.
Der junge deutsche Kaufmann Dorn war 1933 hier eingetroffen. Er wollte Handel treiben und Automobile in der Provinz verkaufen. Damals war Gmirkin unter anderm auch Leiter der Garage und des Automobilwesens. Dorn begab sich deshalb zu ihm und wohnte kürzere Zeit in seinem Haus. Anfang Dezember war das »Große Pferd« nicht weit entfernt. Am 10. gab der Generalgouverneur ein Mittagessen in seinem Yamen. Unter den Gästen war auch Gmirkin. Man verdächtigte ihn, Anhänger des »Großen Pferdes« zu sein. Noch während des Gastmahls wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Man hatte Haussuchung bei ihm gehalten und belastende Schriftstücke gefunden. Darunter befand sich eine Liste über die Verteilung der höchsten Ämter, wenn das »Große Pferd« die Provinz erobert hätte. Es hieß, Gmirkin sei Anfang April erschossen worden. Dorn war zu gleicher Zeit verhaftet worden. Er hatte ein ganzes Jahr lang die entsetzlichsten Leiden in einem chinesischen Gefängnis auszustehen. Endlich durfte er wieder nach Peking zurückkehren, wo ich ihn Ende März 1935 traf. Er war ausgemergelt, niedergedrückt und hatte alles verloren. Gmirkin und er hatten ihre Zellen in demselben kleinen Hof gehabt. Dorn berichtete, daß Gmirkin schon am 20. Januar getötet worden sei. Er hatte die halberstickten, gurgelnden Notschreie gehört, die der Unglückliche ausgestoßen hatte. Die Henker hatten ihn gefesselt und ihm dann den Kopf mit einem scharfen Messer abgeschnitten.
Am 17. Juni abends kam Wang, ein Beamter im Außenministerium, zu mir. Er brachte mir eine Aufforderung von Sheng Tupan, eine Abhandlung über die Entwicklung der Produktions- und der Verkehrsmittel der Provinz zu schreiben. Als ich am folgenden Nachmittag mit dieser Niederschrift beschäftigt war, kam Kierkegaard mit strahlendem Gesicht hereingestürzt und rief:
»Egtarp und ich reisen heute abend oder heute nacht!«
»Was, meinst du, ist geschehen?«
»Ja, die siebenundzwanzig russischen Lastautos, die vor einigen Tagen hier angekommen sind, kehren jetzt leer nach Tschugutschak zurück. Wir haben die Erlaubnis bekommen, mit der Kolonne zu fahren.«
Für unsere beiden liebenswürdigen Dänen freute ich mich unendlich über diese Nachricht. Aber wie einsam würde es für Yew und mich werden, wenn die beiden abgereist wären. In diesem elenden Nest war ja nichts seltener als ehrenhafte Menschen!
Bei Kierkegaard ging es in den letzten Stunden, die er hier verbrachte, lebhaft zu. Es wurde Hals über Kopf gepackt. Seine ganze Bibliothek und Stöße von Zeitungen ließ er uns zurück. Auch andere praktische und für uns wertvolle Dinge. Ein paar Europäer kamen, um Abschied von Kierkegaard zu nehmen. Unter ihnen waren Schirmer, Pedaschenko, Pater Hilbrenner und ein deutscher Ingenieur Schahrt. Er war zum Straßenbau hierher berufen, träumte aber jetzt nur davon, die Stadt wieder verlassen zu können. Seit langem hatte er seinen Lohn nicht mehr bekommen. Schließlich kam das ganze Personal des Postkontors, um von dem alten Leiter Abschied zu nehmen. Die Stunde des Aufbruchs näherte sich. Champagner wurde aufgetragen, Reden wurden gehalten. Die Dämmerung nahte, wo die Stadttore unerbittlich geschlossen werden. Ein lebhafter Händedruck, »grüßt die Meinen daheim«. Die beiden Dänen stiegen ein, und der Wagen rollte davon.
Ein Gefühl der Leere und Verlassenheit blieb hinter ihnen zurück. Yew und ich saßen noch lange auf der Veranda und plauderten, während die Nacht über die ödeste Stadt Asiens heraufzog. Wir waren nun allein mit den vier oder fünf Angestellten des Postamts in dem großen Haus. Dann kam der Schlaf und befreite uns.
*
Der russische Generalkonsul erzählte uns später, daß Kierkegaard und Egtarp erst um 1 Uhr nachts aus Urumtschi fortgekommen wären. Der Generalgouverneur hatte versucht, sie noch einige Tage hierzubehalten, um sie durch ein größeres Abschiedsfest in seinem Damen zu ehren. Er habe auch künstlerische Arbeiten als Geschenk für Frau Kierkegaard in Auftrag gegeben. Aber Kierkegaard habe telephoniert, daß er nicht das geringste Verlangen nach einem Mittagessen bei Höchstdemselben habe, noch nach Geschenken. Mit Apresoffs Hilfe war er schließlich fortgekommen. Mit knapper Not entgingen die beiden Dänen dem Ertrinken bei einem Flußübergang. Endlich kamen sie in Tschugutschak an, wo der verschlagene Sheng Tupan einen letzten Versuch machte, die Reisenden aufzuhalten. Auch da war es der russische Konsul, der ihnen weiterhalf.
Es ist mir nie gelungen, den Sinn dieser eigentümlichen Form von Gastfreundschaft herauszufinden. Alle Fremden, die nach Sinkiang kamen, wurden gegen ihren Willen Monat für Monat festgehalten. Die Einwohner Urumtschis, die nach Peking reisen wollten, warteten vergebens auf ihre Pässe. In Stockholm beruhigte Kierkegaard die Meinen damit, daß ich seiner Meinung nach auf unbegrenzte Zeit festgehalten werden würde.
Die Stimmung ist ungemütlich, man fühlt sich unsicher. Am 18. schrieb Yew an Sheng Tupan und fragte ihn, wann wir klaren Bescheid in unsern Angelegenheiten erhalten würden. Vor allem wollten wir wissen, wann wir Benzin und Öl bekommen könnten, wann es uns freistünde, zum Kum-darja zu reisen, um die Expedition zu holen. Der Generalgouverneur antwortete:
»Heute und morgen ist es unmöglich; übermorgen werde ich Ihnen mitteilen, wann ich Sie sehen kann.«
Da wir am 21. noch keine Antwort erhalten hatten, ließen wir durch einen neuen Boten anfragen. Diesmal antwortete er überhaupt nicht.
Niemand besuchte uns. Selber gingen wir fast nie aus. Die große Villa lag stumm, verlassen und einsam. Wir hatten nicht die Ruhe zu arbeiten, zu schreiben oder zu lesen. Immer warteten wir auf irgendeine Entscheidung, und immer vergebens. Unsere Lage hatte sich verschärft. Wir waren wie Gefangene. Um die langsam verrinnende Zeit zu töten, fertigten wir uns ein Brettspiel an. Eines Nachts saßen und spielten wir beim kargen Licht der Petroleumlampe. Da knallte ein Flintenschuß unmittelbar vor unserer Tür. Jetzt geht es los, dachten wir, aber die Nacht verlief ruhig.
Kierkegaards Nachfolger Chen war jetzt der rechtmäßige Besitzer der Villa, unseres Gefängnisses. Er zog es aber vor, in einem einfachen Haus wohnen zu bleiben. Er kam jedoch oft zu Besuch, um zu sehen, wie es uns ginge. Am 21. nachmittags kam er wieder einmal. Man sah ihm sofort an, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Mit gesenktem Kopf und ernster Miene ging er mit langen Schritten im Wohnzimmer auf und ab. Schließlich brachte er heraus, daß er Besuch von einem Beamten des Generalgouverneurs gehabt hätte. Dieser hätte mit inquisitorischer Genauigkeit eine Menge Fragen über uns gestellt. Wie viele wir wären, von welcher Nationalität, wie stark bewaffnet, was die verschiedenen Mitglieder früher gemacht hätten, was unsere Ziele und Absichten wären usw. Auf die meisten Fragen befanden sich bereits erschöpfende Antworten in unsern Personen-, Auto- und Waffenpässen. Man zog die Daumenschrauben fester an. Man hegte Mißtrauen gegen uns. – Was war an der Front über uns gesagt worden? Ma Chung-yin, das »Große Pferd«, war in Sinkiang eingefallen und hatte Urumtschi belagert. Wenn er Erfolg gehabt hätte, wäre weder Sheng Tupan noch ein einziger seiner Anhänger mit dem Leben davongekommen. Natürlich wußte man auch in Urumtschi, daß wir, wenn auch unfreiwillig, dem geschlagenen Ma mit unsern Kraftwagen zur Flucht verholfen hatten. Eigentlich war es nicht zu verwundern, daß man Verdacht gegen uns hegte. Das Seltsamste war, daß man uns nicht sofort verhaftet hatte. Ganz gewiß hatten wir es Apresoff zu verdanken, daß wir die Folgen des kriegspolitischen Trubels nur leise zu spüren bekamen. Dieser russische Generalkonsul war ein kluger und gebildeter Mann. Er verstand, daß der Auftrag, den ich übernommen hatte, keinen andern Zweck als den Straßenbau zu fördern hatte. Aber Sinkiangs leitende Männer zu dieser Auffassung zu bekehren, war eine andere Sache. Bis zuletzt wurden wir von der Provinzregierung als Spione aus Nanking betrachtet. Als solche wurden wir behandelt und Tag und Nacht beobachtet. Das hielt uns ununterbrochen in Spannung und nahm uns die Lust zu jeder geordneten Arbeit.
Am 22. Juni bekamen wir von Sheng Tupan eine gewaltige rote Einladungskarte zum Mittagessen für 3 Uhr des folgenden Tages. Die Namen aller zweiundfünfzig Gäste sind dem Rang nach aufgeführt. So erfährt man vorher, wen man auf dem Fest trifft. Das russische Konsulat fehlte. Die übrigen waren die Regierung, Gesandte aus Nanking und Repräsentanten aus Sinkiangs Außenbezirken. Es ergab sich später, daß die Russen auf einer besonderen Liste aufgeführt waren. So fuhren wir also zum Yamen. Dort wurden wir durch die Höfe in einen von Mauern umgebenen Garten geführt. Er lag neben dem Haus, in dem die Mittagstafel gedeckt war. In den Gängen standen bewaffnete Soldaten. Wir gingen an ihnen nicht ohne ein Gefühl des Unbehagens vorüber – wir wußten ja, wie es bei einem chinesischen Gastmahl in Urumtschi zugehen kann!
Durch den Speisesaal wurden wir in einen angrenzenden Raum geführt. Hier wurden Tee, Süßigkeiten und Früchte angeboten. Nur wenige chinesische Gäste waren angekommen. Wir nahmen Platz und warteten. Die beiden Zimmer waren mit einem Dutzend großer Fenster versehen, und vor diesen waren Soldaten aufgestellt. Einige saßen halb in den Fensteröffnungen und spielten mit ihren Waffen. Sheng Tupan trat ein und begrüßte uns. Dann kamen der Zivilgouverneur Li Yung und ein paar Abgesandte aus Nanking, Kou und Kao, die seit Monaten auf Bescheid warteten und dauernd hingehalten wurden. Yew und ich atmeten erleichtert auf, als Apresoff an der Spitze des ganzen russischen Konsulates hereinkam. Dieses Mal würde es kaum zu Knalleffekten kommen.
Das Mittagessen bestand aus rein russischen Gerichten. Man trank Kognak, Weißwein und Sekt. Der Wirt erhob sich und hielt eine Rede. Sie war ebenso lang wie die Mittagstafel, denn alle Ehrengäste mußten erwähnt werden. Er wandte sich auch an mich und äußerte viele schöne Worte über meine Reisen. Sheng Tupan sprach fließend, leicht und zuvorkommend. Seine Worte wurden von einem Dolmetscher ins Russische übersetzt. Dann mußte jeder der Angeredeten antworten. Auch da waren Dolmetscher für die, die russisch oder kirgisisch sprachen, zur Hand. Wir kehrten schließlich mit Befriedigung in unser Gefängnis zurück.
Die letzten Tage des Juni verliefen ruhig. Wir machten Besuch beim Außen- und Finanzminister Chen Teh-li. Er versprach, daß wir in ein paar Tagen Motoröl und Benzin erhalten würden. Dann machten wir Einkäufe von Proviant und andern nützlichen Dingen im »Sowjet-Sinkiang-Handelshaus«. Es unterstand dem Handelsattaché Tertulow. Sein Kontorchef hieß Barodeschin, beide waren höflich und hilfreich. Die Russen und Sheng Tupan wollten ein paar unserer Kraftwagen kaufen. Wir hatten nichts dagegen. Voraussichtlich würde uns unsere wirtschaftliche Lage dazu zwingen.
In Urumtschi wird eine offizielle Zeitung herausgegeben, die »Täglichen Nachrichten vom Himmelsgebirge«. Dieses Organ entspricht allem andern in der Stadt. Da konnte man »Neuigkeiten« lesen, die vor einem halben Jahr in Pekings oder Nankings Zeitungen gestanden hatten. Täglich wurden Mitteilungen gedruckt, die als dienlich oder beruhigend angesehen wurden. Sie enthielten selten ein wahres Wort. In der Nummer vom 30. Juni konnte man lesen, daß General Ma Chung-yin Chotan erobert und ein Bündnis mit der mohammedanischen Regierung geschlossen hätte. Dann hätte er sich mit ihr entzweit. Es sei zu Straßenkämpfen gekommen, das »Große Pferd« sei geschlagen worden und mit sechzig Getreuen nach dem Kuku-nor geflohen. Die Freude des Siegers war kurz, es brach ein Aufruhr aus, die Rebellen setzten eine neue Regierung ein, die sich Urumtschi anschloß. – Nicht ein Wort von dieser Geschichte war wahr. Sie war erfunden, um das Ansehen der Regierung von Urumtschi zu stärken. Die Angabe derselben Zeitung meldete auch, daß der Enkel Schah Maksuds, des Königs von Hami, wieder in die Würde seiner Väter eingesetzt sei. Wir konnten diese Nachricht nicht nachprüfen. Wahr oder nicht, die Mohammedaner würden sie doch mit Genugtuung aufnehmen.
In Urumtschi befand sich auch eine russische Fliegerschule, die täglich Übungen über der Stadt abhielt. Das Benzin, das aus Rußland ankam, wurde von den Flugmaschinen geschluckt. Wir durften von leeren Versprechen leben, die nie erfüllt wurden.
Im Standlager 70 am Kum-darja lagen die Unsern und warteten auf Hilfe. Ihr Proviant reichte nicht bis Ende Juni. Immer und immer wieder hatten wir mündlich und schriftlich um Motoröl gebeten. Benzin hatten wir im Lager 70 noch genug. Aber ohne Öl war die Kolonne unwiderruflich festgenagelt. Ebensowenig durften wir eine Araba mieten, die unter Serats Leitung Öl und Lebensmittel über Korla nach dem Standlager bringen sollte. Jetzt schrieben wir in kräftigen Tönen einen neuen Brief an den Generalgouverneur. Wenn es die Absicht war, die Expedition am Flußufer in der unbewohnten Wüste verhungern zu lassen, so war unsere Behandlung der beste Weg dazu. Kritisch war ihre Lage noch nicht. Geld hatten sie. Mehl, Mais, Hühner, Eier und Schafe konnten sie in Tikkenlik kaufen. Wir wurden von Woche zu Woche vertröstet und hingehalten, so wurde unsere Handlungsfreiheit gelähmt. Wir wurden mit Vorspiegelungen und reinen Lügen abgespeist. Was half es, dagegen zu protestieren! Ereiferten wir uns und schlugen einen empörten Ton an, so antwortete man ruhig: »Wir liegen im Krieg gegen Ma Chung-yin und haben überall Aufruhr zu bekämpfen. Für unsere Lastautos und Flugzeuge brauchen wir jeden Tropfen Benzin und Öl, den wir von Rußland bekommen können. Was euch betrifft, so haben wir euch nie gebeten, hierherzukommen. Ihr müßt euch daher dareinfinden und warten.«
Am 29. Juni erhielt ich ein überaus erfreuliches und belebendes Telegramm aus der Heimat. Wir waren bis dahin ganz von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Rings um uns herrschte eine Grabesstille. Wir waren Gefangene in unserm eigenen Hause. Es hieß, daß verkleidete Spione außerhalb unserer Hofmauer aufgestellt waren. Wahrscheinlich waren auch die Angestellten des Postamtes Spione, die beobachteten und über uns berichteten.
Am selben Abend kam unser Wirt, der Postkommissar Chen, zu uns. Wieder ging er im Zimmer auf und ab und sah bekümmert aus, ehe er vor uns stehenblieb und zu reden begann:
»Die Behörden haben Nachricht erhalten, daß eine große Armee aus Nanking vor einiger Zeit vom Edsin-gol aufgebrochen ist. Sie kann jederzeit in Hami eintreffen. Man erwartet, daß die Bevölkerung von Hami gemeinsame Sache mit der Nankingarmee macht. Die Armee wird ohne Zweifel geradeswegs hierhermarschieren. In einer englischen Zeitung in Schanghai wird offen von einem bereits begonnenen Feldzug gegen Sheng Tupan gesprochen. Soll Urumtschi zum drittenmal belagert werden? Dann wird es Ernst.« Wir ließen uns nicht merken, welchen Eindruck Chens Mitteilung auf uns gemacht hatte. Ein Kind konnte sehen, daß auch er ein Spion war. Er kam täglich zu Besuch. Dann berichtete er dem Generalgouverneur, was er gesehen und gehört hatte. Wir waren daher still und verrieten nichts von unserer Unruhe. Einmal konnte ich es aber doch nicht unterlassen, Chen zu sagen, wenn der Generalgouverneur Angst vor Fremden hätte, so sollte er sie nicht festhalten. Er sollte ihnen nicht Gelegenheit geben, die Verhältnisse in der Provinz gründlich zu studieren. Es wäre klüger, sie gar nicht über die Grenze zu lassen. Wenn es ihnen aber gelungen wäre, einzudringen, so sollte er sie so schnell wie möglich wieder hinauswerfen.
Als der Postmeister gegangen war, konnten Yew und ich frei miteinander reden. Es war nicht das erstemal, daß das Gerücht vom Einfall einer Nankingarmee gespukt hatte. Aber diesmal schien es bestimmtere Gestalt angenommen zu haben. Für uns gab es natürlich keine Möglichkeit, seine Wahrheit zu bestreiten. Ma Chung-yin war geschlagen worden. Die Nordarmee unter General Bektieiew verfolgte das fliehende Heer über Aksu hinaus auf dem Wege nach Maralbaschi. Auf sowjetrussische Hilfe gestützt, regierte Sheng Tupan unumschränkt in der Provinz. Nur die Oasenstreifen von Kaschgar über Jarkend und Chotan nach Tscharchlik widerstanden ihm. Unter diesen Umständen konnte die Nankingregierung wohl fürchten, daß Sinkiang Schritt für Schritt unter russische Herrschaft geraten würde. Es wäre ähnlich wie bei der Äußeren Mongolei. Wenn eine Nankingarmee nun wirklich jeden Tag Hami nehmen und nach Urumtschi weitermarschieren konnte, wie würde sich dann die Lage unserer Expedition gestalten? Größere Teile der Expedition und alle unsere Lastautos lagen ja am Kum-darja. Aber ich, der verantwortliche Führer, und der chinesische Ingenieur Yew befanden uns in Urumtschi. Wie nahe lag da nicht der Verdacht, daß unsere Expedition für die Nankingarmee mit ihren Trainkolonnen und Lastautos einen fahrbaren Weg abstecken sollte! War das der Grund, warum man uns die Erlaubnis verweigerte, nach dem Kum-darja zurückzukehren? Hatte man damit gerechnet, daß wir wertvolle Geiseln werden könnten? Wenn wirklich eines Tages eine Armee aus Nanking vor Urumtschi erschiene, würden dann nicht Yew und ich ganz einfach festgenommen oder erschossen werden? Im März hatten unsere Kraftwagen Ma Chung-yin zur Flucht verholfen. Jetzt würden wir in den Verdacht kommen, einer neuen Invasionsarmee den Weg durch die Wüste gezeigt zu haben! Unsere Lage war nicht angenehm. In verhüllten Worten schrieb ich an Hummel und Bergman und legte den Brief in einen an den Kommandanten von Korla adressierten Umschlag.
So verging kein Tag ohne eine neue Sensation oder ein neues Gerücht. Über das Schicksal, das unser wartete, wußten wir nichts. Wir sahen recht düster in die Zukunft. Wir hatten das Gefühl, daß ein Unwetter sich über unsern Köpfen zusammenzog. Die Stunden schlichen langsam dahin. Wir spielten unser Brettspiel. Die tiefe Stille, die uns umgab, wurde nur gelegentlich durch die tappenden Schritte eines Dieners unterbrochen. Bei Sonnenuntergang saßen wir auf der Veranda, plauderten und sahen, wie phantastische, blaugraue Wolkenmasten über die Kämme des Tien-schan dahinrollten. Wir neideten ihnen ihre Freiheit; gern wären wir ihnen auf ihrer raschen Fahrt nach der Wüste Gobi gefolgt. Im Westen versank die Mittsommersonne in einem Meer von geschmolzenem Gold. Jeden Abend zog zu bestimmter Stunde ein Trupp chinesischer Soldaten an unserm Hoftor vorbei, das einförmige Pfeifen und Trommeln mit ihrem Gesang begleitend.
Einen treueren und aufopferungsvolleren Kameraden als Irving C. Yew hätte ich nicht finden können. An Geduld und unerschütterlicher Ruhe war er ein Vorbild. Wenn wir irgendwelche Wünsche der hohen Obrigkeit vorzutragen hatten, besprachen wir erst auf englisch den Inhalt. Dann schrieb er den Brief in seiner eleganten Malerei chinesisch nieder, leider fast immer vergebens. Ja, wenn es um wesentliche Fragen ging, wie Benzin, Öl oder die Erlaubnis, uns wieder mit der Expedition zu vereinigen, ganz und gar hoffnungslos. Mag man unsere Lage auffassen, wie man will, Freiheit hatten wir jedenfalls nicht.
Wir sitzen noch eine Weile in der Dämmerung. Es wird dunkel. Von nah und fern hört man Hundegebell. Eine Nachteule schreit. Hier und da ertönt ein Flintenschuß. Sind es Verbrecher oder Unschuldige, die erschossen werden? Wir begeben uns in die Lehnstühle im Wohnzimmer. Schleichende Schritte werden auf dem Gang hörbar, ein blaßgelber Schein fällt über Wände und Dielen: der Diener bringt die Abendlampe. Und wieder lassen wir unsere schweifenden Gedanken vom Geklapper der Würfel fesseln, während die Ratten unter dem Dachstuhl laufen und lärmen.
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