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Unsere Kolonne mit ihren fünf Kraftwagen nimmt sich stattlich aus. Das Gelände hat aber kleine flache Wellen. Man sitzt und schaukelt und muß langsam fahren. Dann rollen wir in seichte, trockene, mit Sand gefüllte Rinnen hinab, wo Grasbüschel wachsen. Georg führt die Kolonne an. Er bleibt jedoch stecken. Wir rattern an ihm vorbei. Der Weg ist ziemlich ausgefahren. Wir unterscheiden die Spuren der Kraftwagen, die sich hier vor uns Bahn gebrochen haben. Der Brunnen Khara-muck-schandai liegt in völlig unfruchtbarer Gegend. Links im Süden erhebt sich eine Terrasse. Hinter ihr zieht sich die langgestreckte Niederung hin, die wir schon gestern sahen. Ebene Flächen breiten sich zwischen dunklen Hügeln aus. An einem erst kürzlich zusammengebrochenen Kamel haben sich Geier gütlich getan. Zwischen Kegeln und Höckern und über schwarze Lavabetten klimmen wir einen steilen Hang hinan. Auf dem Kamm eines kleinen Höhenrückens warten wir mit Spannung auf die andern. Da kommt Serat mit Gerassel und Geklapper und hinter ihm Dschomtscha und Effe. Georg ist mit seinem neuen Wagen, den wir »Edsel« getauft haben, zurückgeblieben.
Jenseits des Höhenrückens breitet sich eine weite Ebene aus. Dann kreuzen wir ein mächtiges Flußbett, dessen Sohle jetzt trocken und mit Grus bedeckt ist. Es läuft auf die lange Niederung im Süden zu. Nicht eine einzige Pflanze ist zu entdecken. Der Weg wird durch Steinhaufen bezeichnet, die auf kleinen Erhöhungen errichtet sind. Bisweilen schmückt sie der Schädel eines Kamels. Der Brunnen Nogo-orobok liegt in einem Sandgürtel. Hier kommen wieder auf Kegeln wachsende Grasbüschel vor. Die Ebene, die wir überqueren, erstreckt sich bis an den Fuß einer im Norden sichtbaren Gebirgskette, die Tsagan-ul, »Der weiße Berg«, heißt. Am Brunnen Biltscher holen wir Wasser für den Abend. Der Weg läuft zwischen niedrigen schwarzen Höhenzügen und scharfen Rücken aus Tonschiefer dahin. Oft erheben sie sich in malerischen schwarzen Pyramiden, deren Fuß von gelbem Sand bedeckt ist. Der Tag geht zur Neige, Schatten breiten sich über dieser trostlosen Mondlandschaft aus.
Bei Derisun-hutuk stand ein Omnibus der Autobusgesellschaft, im Stich gelassen und zum Teil abgewrackt. Hier waren auch Niederlagen von Häuten aus Sinkiang und Benzin aus Kwei-hwa. Drei Jurten gehörten einem Kaufmann. Einige Mongolen hatten sich eingefunden, um ihre Einkäufe zu machen. Die untergehende Sonne war glühend rot wie geschmolzenes Gold. In hellen, violetten Farbtönen ragte im Norden der Kamm des Tsagan-ul auf. Wir haben genau hundert Kilometer zurückgelegt, als wir bei Dunkelheit das Nachtlager beziehen. Es mutet einen lächerlich an, daß man in einem ganzen Tag nicht weiter kommt. Dabei war es die längste Tagereise, die wir bisher gemacht hatten. Wir legten sie am kürzesten Tage des Jahres zurück! Aber man versuche die Wege in Innerasien!
Die Zelte waren kaum aufgeschlagen, als alle Mitglieder unserer Reisegesellschaft die Briefe hervorholten, die sie von Haus erhalten hatten. Am Abend war es still in unsern luftigen Behausungen, alles las Briefe. Als jedoch Chia-kwei das Essen fertig hatte, wurde die Lektüre abgebrochen. Die Stimmung war lebhaft und sprühend, alle hatten gute Nachrichten von daheim. Am Morgen des 23. Dezember war der Himmel klar und herrlich, ohne ein Wölkchen, ohne einen Lufthauch. Die Temperatur in der Nacht war 20,3 Grad unter Null gewesen.
In der Gegend von Tsagan-ul hatten Mongolen vom Stamme der Ordos ihre Wohnsitze gehabt. Im Jahre 1928 kamen Chalchamongolen und sagten zu den Ordos:
»Ihr habt jetzt Ulan-batur-choto zu gehorchen!«
Die Häuptlinge und Lamas der Ordos erwiderten:
»Dann ziehen wir von hier weg und senden unsere Soldaten. Sie holen unsere Familien und Lamas, unsere Kamele und unser Hab und Gut.«
Die Ordos zogen in das Land im Süden, und an ihrer Stelle wanderten Chalchamongolen ein. Das Land war aber Wüste, nur Kamele konnten ihre Nahrung finden. So zogen sie sich wieder fünfzig bis hundert Kilometer nach Norden zurück. Daraufhin kehrten die Ordos in ihre alten Wohnsitze zurück. Ihr Führer ist ein sehr reicher und vornehmer Lama im Tempel von Tsagan-ul namens Niema Gessikwei. Er vertritt machtvoll und gebieterisch die Interessen seiner Stammesgenossen. Die Chalchamongolen haben nur einen Vorteil gewonnen: die chinesischen Kaufleute kommen auf Schleichwegen zu ihnen. Dieser Handel ist bei der jetzt herrschenden politischen Lage verboten.
Vor uns erhebt der Berg Tschaggan-khärkan seine heiligen Gipfel. In der Mongolei darf man den Namen eines heiligen Berges nicht nennen, das bringt Unglück. Khärkan, »der heilige Berg«, darf man sagen, aber nicht den Namen selbst. Sonst verliert man Kamele und Pferde oder verirrt sich, bekommt Kopfschmerzen oder stürmisches Wetter. Am Fuß des Berges wächst der Busch Khara-burgas. Aus seinen Zweigen schneiden Mongolen und Chinesen die Nasenpflöcke, die den Kamelen durch den Nasenknorpel gesteckt werden. Hier machen die Karawanen gern halt und nehmen sich einen Vorrat von diesen Zweigen mit. Ein Brunnen am Fuß des Tschaggan-khärkan trägt den Namen Tschaggan-ussu.
Der Weg ist bald hart, bald führt er durch Sand und Grus. Am nächsten Brunnen rastet eine Karawane, die Tabak, Tee, Mehl und anderes an den Edsin-gol befördert. Einige Zeit später hält uns ein kleiner schwarzer Rücken auf, der steil zu einem versandeten Paß ansteigt. Jenseits breitet sich eine weite Ebene aus, von deren Saksaulen wir uns einen Vorrat für die Lagerfeuer des Abends einsammeln. Bei Kuku-tologoi beziehen wir Nachtlager.
Am Morgen des Weihnachtsabends wurden wir früher als gewöhnlich von Dr. Hummel geweckt. Er eilte mit der Limousine und Serats Lastwagen voraus, um einen freundlichen Platz für das Weihnachtslager auszusuchen. Nachdem ich mit Georg und Esse gefrühstückt hatte, setzte ich mich zu Georg auf den Führersitz. Die Heizung war aufgedreht, man hatte es warm und gemütlich. Die Sonne steigt, die Wüste ist bald dunkelgrau, bald gelb. Unser Lager hat diesem Reich des Schweigens und des Todes für eine Nacht Leben geschenkt. Nun ziehen wir weiter. Die Stille senkt sich wieder auf die Gegend herab, und die Autospuren werden von den Winden und Stürmen der Zeit verwischt.
Anfangs geht die Fahrt gut, aber der Boden wird weicher, und jeder unserer vier Lastwagen trägt mindestens 2½ Tonnen. Zwei bleiben in dem sandigen Boden stecken. Die Zeugstreifen bewähren sich wieder. Naidang ist uns unersetzlich; er kennt alle Wege. Er führt uns aus dem Sandgürtel auf festen Boden, wo er den alten ausgetretenen Kamelweg bald wiederfindet. Der Sand ist das schwierigste Hindernis der Autostraße an den Edsin-gol. Er muß bezwungen werden, damit er den Verkehr nicht ständig hindert.
Mondlandschaft, schwarze Rücken, scharfe Felsen mit helleren Gruskegeln. Zwischen den Hügeln breiten sich schwarze Grusebenen aus, auf denen sich der Karawanenpfad wie ein graugelbes Band hinschlängelt. In der Gegend Bagha-hongortschi fahren wir über blaßrote Grusflächen zwischen schwarzen Kegeln und Pyramiden. Hier wächst nicht ein einziges Grasbüschel. Die Höhenzüge sind selten mehr als 10 oder 20 Meter hoch, und die Abstände zwischen ihnen betragen kaum 100 Meter. Gleich nach Mittag überschreiten wir die Grenze zwischen Alaschan und Edsin-gol, dem Land der Torgoten. Sie ist durch einen Obo gekennzeichnet. Hier und da heben sich stark verwitterte Quarzitkuppen von den schwarzen und roten Felsenrücken ab. Auch weißer Kalkstein kommt vor, den die Torgoten als eine Art Zement bei ihren Tempelbauten verwenden. Wir fahren durch ein Labyrinth von Hügeln und sehen endlich den Wald am Edsin-gol – ein herrlicher, erquickender Anblick, unser schönstes Weihnachtsgeschenk.
Pappeln und Tamarisken am Edsin-gol. Bergman
Wir steuern geradeswegs auf Vadschin-torei zu. Hier steht Serat mit seinem Wagen und wartet. Die Limousine ist nicht zu sehen; sie ist offenbar auf Erkundung. Das Gelände ist wie überall am Edsin-gol: sandiger Boden, nackte oder mit Tamarisken bewachsene Dünen, kleine Pappelhaine. Wir freuten uns, wieder Bäume und Büsche zu sehen und unsere Zelte bei ihnen aufzuschlagen. Wie gewöhnlich wurde das Gepäck bei den Zelten abgeladen. Die Autos parkten dann in sicherer Entfernung in einer Reihe.
Wir treffen alle Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier. Georg fuhr mit der Limousine zum Wasserholen. Er brachte zwei gefüllte Wasserbehälter und auch noch zwei Fasanen mit. Inzwischen saß ich auf dem Führersitz unseres neuen Lastwagens und schrieb.
Unsere Benzinkarawane war am vorhergehenden Abend von Vadschin-torei nach dem Lager Nogon Deli gezogen. Wir beschlossen, zwei Tage hierzubleiben. Dann wollten wir um den Socho-nor herum an den Oboen-gol gehen, den wir überqueren mußten. Eigentlich sollte Georg mit einem Lastauto nach Su-tschou fahren, um unsere Post zu holen. Doch jetzt war Weihnachtsabend. Die Pläne mußten bis auf weiteres ruhen. Von Kwei-hwa hatten wir 1050 Kilometer zurückgelegt. Bei Vadschin-torei hatten wir unser Lager Nr. 18.
Bei Eintritt der Dunkelheit ging ich in Yews Zelt, wo ich Georg und Effe antraf. Wir hielten hier am offenen Feuer ein gemütliches Plauderstündchen, während wir auf Hummels und Bergmans Überraschungen warteten. Erst um 9 Uhr sollten wir in das Weihnachtszelt ziehen. Wir marschierten mit einer Laterne zum Zelt. Am Eingang stand eine Ehrenwache. Die Schweden riefen » God jul!« (Frohe Weihnachten!) und »Hurra!«. Drinnen spielte das Grammophon einen festlichen Parademarsch. Unser erfinderischer Doktor hatte zwei Zelte zu einem vereinigt. In diesem Doppelzelt war ein langer Tisch aufgebaut. Er bestand aus dicken, breiten Planken, die wir an sumpfigen Stellen unter die Räder schoben; sie ruhten auf Benzinfässern. Das Innere des Zelts war mit schwedischen und chinesischen Flaggen prächtig geschmückt.
Landschaft am Edsin-gol. (Zeichnung des Verfassers.)
Mitten auf dem Tisch prangte ein wunderbarer Weihnachtsbaum. An seiner Spitze war ein kleines Pappschild angebracht, auf dem die Worte zu lesen waren: »Siehe, ich verkündige euch große Freude …« Mein Vater hatte es vor Jahrzehnten kunstvoll geschrieben. Ich hatte es mitgenommen als einen Gruß von daheim und eine Erinnerung an die Weihnachtsabende früherer Zeiten. Die Zweige der Tanne oder richtiger Tamariske waren mit Silberpapier geschmückt. Kleine rote Wachslichte beleuchteten Weihnachtswichtel und Flitterwerk. Unter dem Christbaum waren unsere Familienbilder aufgestellt. Das Tischtuch war mit einem Tischläufer belegt, auf dem sich Weihnachtswichtel, Kinder und Schweinchen aus Papier tummelten. Beim Eintritt in das Zelt wurden wir geradezu geblendet von den vielen Lichten, von glitzerndem Silber und bunten Farben. Auf Papiertellern lagen Haufen von Süßigkeiten, Schokolade und Weihnachtsgebäck.
Dr. Hummel hatte sich auch als Koch betätigt. Die Speisekarte war reichhaltig und festlich: Antilopensuppe (ganz wie Weihnachten 1927 an der Quelle Sebistei), Fischklößchen und Sardinen, Weihnachtsschinken aus Stockholm mit jungen Erbsen und anderm Gemüse, Fleischklößchen mit Erbsenschoten und Bohnen, eingemachte Früchte, Aprikosen, Pfirsiche und Pflaumen, schließlich Knäckebrot, Butter und Käse. Dazu gab es Likör, Limonade und Kaffee – was konnte man sich in der Gobi mehr wünschen? Auf unsere Lieben daheim wurden Reden gehalten. Wir sandten allen unsern Angehörigen in Schweden, China und der Mongolei innigste Wünsche. Die mongolischen Fahrer und die chinesischen Diener wurden hereingerufen und nahmen an der einen Langseite des Tisches Platz. Ihnen galt eine besondere Rede, die Yew ins Chinesische und Georg ins Mongolische übersetzten. Serat antwortete vortrefflich in seinem und seiner Kameraden Namen. Sie verstünden alle die Bedeutung unserer Reise. Sie seien stolz, daran teilnehmen zu dürfen. Wir könnten überzeugt sein, daß ein jeder von ihnen seine Pflicht tun würde.
Darauf sangen Effe und Chia-kwei christliche Hymnen in chinesischer Sprache, die in all ihrer Schlichtheit rührend waren. Das Grammophon spielte »Wie schön leucht' uns der Morgenstern«, Beethovens »Die Himmel rühmen«, das Largo von Händel, schließlich weltliche und heitere Weisen. Die Diener erhielten Tee und Gebäck, Süßigkeiten und Zigaretten, es war ein wirklich gelungenes Fest mit richtiger Weihnachtsstimmung. Wir vergaßen, daß uns im Westen Gefahren drohten.
Die roten Lichte am »Tannenbaum« brannten herunter, und weiße Stearinkerzen wurden aufgestellt. Gerade am Weihnachtsabend waren wir an unserm alten Fluß Edsin-gol angelangt. Damit war der erste Abschnitt der Erkundungsfahrt vollendet. Wir gaben uns der Hoffnung hin, die folgenden würden uns ebenso glücken. Kwei-hwa hatten wir mit vier Kraftwagen verlassen, den Edsin-gol hatten wir mit fünf erreicht – ein seltsamer Rekord. Gegen Mitternacht zogen sich Yew, Kung und Chen zurück; die Diener waren schon vorher verschwunden. Wir fünf Schweden blieben am Weihnachtstisch sitzen, trugen Gedichte vor und lauschten den Klängen des Grammophons. Als wir Fest und Freude ausgekostet hatten, gingen auch wir zur Ruhe.
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