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Georg, Effe und Serat nahmen am Morgen des 10. November auf den Führersitzen der drei schwer beladenen Lastwagen Platz. Die Limousine wurde von Dr. Hummel gelenkt und fuhr mit Yew, Kung und mir zuletzt ab. Noch ein Händedruck mit Bexell, Bökenkamp und den lieben schwedischen Missionaren, dann ging die Reise durch die alte Stadt los. Durch ein trockenes Flußbett führte der Weg hinaus ins platte Land. Man sah kleine Dörfer, graue Hütten aus Luftziegeln, Erd- und Rasenstücken und Bauern, die auf den Feldern arbeiteten. Unaufhörlich trafen wir Reisende zu Fuß und zu Pferd, Esel mit Steinkohlen beladen, knarrende Ochsenkarren und Kamelkarawanen, die Waren aus Su-tschou zum Edsin-gol brachten.
Die Landstraße war an sich den Kraftwagen vorbehalten, die zwischen Kwei-hwa und Beli-miao verkehren. Trotz des Verbots wurde sie aber auch von Ochsenkarren benutzt. Man hatte daher ein halbes Meter tiefe Löcher mitten auf dem Weg gegraben, über die das Zugvieh, das zwischen Gabeldeichseln geht, nicht hinweg kann. Für Autos sind das keine Hindernisse, aber Georg hatte das Pech, mit dem linken Hinterrad in eins der Löcher hineinzurutschen.
Abladen! Her mit den Winden. Zwei Stunden lange Arbeit. Der Wagen kam langsam höher, und die Grube wurde mit Steinen und Reisig gefüllt. Wieder laden. Kein Achsenbruch. Aber wir haben 17 000 Kilometer vor uns. Würde auch nur einer unserer Kraftwagen nach so harten Proben wieder heil zurückkommen? Hier liegt das Dorf Pa-kou-tse, von zweihundert Familien bewohnt, die fast alle den Namen Kou tragen. Eine Zollstation, die Plage der Karawanen, kümmerte uns nicht weiter. Die Autos fuhren ächzend weiter in ein Flußbett hinein, wo ein Bächlein zwischen dem Grus plätscherte.
Nun geht es hinauf durch das Paßtal, das immer enger und steiler wird. Von der Höhe haben wir einen wunderbaren Blick auf das bunte Gewimmel im Paß, wo Chinesen mit Peitschen, Ruten und gellenden Rufen die widerspenstigen Tiere anfeuern. Wir fahren die steile Straße hinunter zum Dorf Pailo-kwan. Der Weg ist schaurig. Um ein Haar hätte Georg sein Auto auf einem zugefrorenen Bach umgeworfen. Der Grus geht zu Ende, der Weg windet sich zwischen roten Hügeln. Es ist bald 5 Uhr, als wir den Bach von Kuku-irgen erreichen, in dessen Eis Effes Auto steckenbleibt. Rein ins Wasser mit Spaten und Hacken! Es geht nicht, bevor das Auto entladen wird. Wieder zwei Stunden verloren!
Im Kwei-hwa-Paß. Bergman
Die Sonne geht unter, es dämmert, es wird dunkel. Die Nacht kommt, welche liebliche Nacht – diese erste auf der mongolischen Hochebene! Um Mitternacht erreichten wir einen kleinen eisbedeckten Fluß. Jetzt war Serat an der Reihe: er brach durch die Eisdecke und saß wie in einem Schraubstock fest. Das Licht der Scheinwerfer lag blendend weiß über dem Eis. Man hackte das Eis auf und schaufelte die Eisschollen auf die Seite. Durch die Stille der Nacht hörte man die schwedischen und mongolischen Kommandos unserer beiden Mechaniker. Aber das Auto rührte sich nicht vom Fleck. Man versuchte es noch eine Weile, dann siegte die Nacht. Unsere Leute waren seit dem Morgengrauen auf den Beinen, und der erste Tag war hart gewesen. Sie waren todmüde, einer nach dem andern verschwand im Führersitz oder oben auf dem Lastwagen.
Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, tiefe Dunkelheit umgab mich von allen Seiten, man hörte keinen Laut. Nach kurzer Ruhepause wurde alles wieder auf die Beine gebracht. Man arbeitete mit neuen Kräften, und endlich kam das Auto hinüber. Wir fuhren bis 2 Uhr morgens weiter, wo Serat in dem kleinen Fluß Chao-ho festfuhr. Zwischen 4 und 5 Uhr morgens verzehrten wir bei elf Grad Kälte unser »Mittagessen«. Ganz schwach dämmerte es im Osten, ehe wir Zelle und Schlafsäcke einweihten – mit einem stillen Gebet, daß die folgenden Winternächte nicht ebenso werden möchten.
Am nächsten Tag wurde erst spät geweckt! Tatenlos betrachteten wir den Tempel Tschiri-gegene-sumu, eine alte Festung beim Lager, und ein paar chinesische Straßenpatrouillen, die die Karawanen gegen Räuber zu schützen hatten. Nur etwa sechzehn Kilometer trennten uns von Bagha-nor, wo der Altai-Torgote Arasch sich mit Kind und Kegel und seinem Bruder, einem Medizinmann, niedergelassen hatte. Als wir endlich aufbrachen, war die Sonne schon im Untergehen, ihr prachtvoller Widerschein vergoldete die öde Steppe.
Arasch hatte seine Jurten vor einer Hofmauer aufgeschlagen. Wir wurden höflich gebeten, uns auf Teppichen um das Feuer zu setzen. Auf niedrigen Schemeltischen reichte man Tee, Käse, Sahnenkuchen und Zucker. Über einem Altar an der Wand saß der ewige Buddha. Unsere Zelte wurden unterdessen vor der Mauer aufgeschlagen. Der Koch Chia-kwei hatte in einer schwedischen Missionsstation gelernt, Fleischklößchen und sahnige Eierkuchen zuzubereiten. Er deckte unsern Mittagstisch in dem Zelt, das ich mit dem Doktor und Bergman teilte.
In Lager 2 bei Arasch. Bergman
Bei Arasch blieben wir drei volle Tage. Mit dem Zeitverlust fanden wir uns in Ruhe ab, nachdem uns zu Ohren gekommen war, daß unsere Benzinkarawane, die nach dem Edsin-gol vorausgehen sollte, etwa fünfundfünfzig Kilometer hinter Beli-miao hatte haltmachen müssen, weil einige der Benzintrommeln leck geworden waren. Die Leute wagten nicht weiterzugehen, sondern schickten einen Boten zu uns und holten sich neue Weisungen.
Unser Gepäck wurde während der Ruhezeit anders verstaut. Nur ein Auto sollte bei jedem Lagerplatz ausgeladen werden. Der tägliche Proviant, die Küche, die Zelte und Betten wurden auf einem Wagen untergebracht. Ein Zelt vernichteten wir, als wir uns überzeugt hatten, daß wir mit vier Zelten auskamen. In einem wohnten unsere drei chinesischen Kameraden, im andern Georg, Effe, Serat und Dschomtscha, die die Verantwortung für die Pflege der Autos hatten. Das dritte benutzte Chia-kwei mit der Küche und den Dienern Sanwatze und Li, das vierte Hummel, Bergman und ich. In diesem Zelt nahmen wir auch unsere Mahlzeiten ein.
Bis nach Bagha-nor waren wir mit einfachen Radreifen gefahren, aber während der Rast wurden Doppelreifen an den Hinterrädern der Lastautos angebracht, um die Fahrt über den weichen Boden zu erleichtern. Reservereifen und Betten wurden außen an die Autos gebunden, um Platz zu sparen.
Die Zeit verflog. Alle hatten vollauf zu tun. Der Doktor bepflasterte Georgs großen Zeh, der von einer Benzintrommel gequetscht worden war, und Effes rechte Hand, die er sich an einem Nagel aufgerissen hatte. Parker Chen machte astronomische Ortsbestimmungen und meteorologische Beobachtungen. Bergman und die beiden Ingenieure beschäftigten sich an Hand der Karte mit der neuen Autostraße. Ich las und machte Aufzeichnungen.
Eines Abends nach Sonnenuntergang kamen elf unserer Kamele in unser Lager, die Arasch seit einigen Jahren in Pflege hatte. Sie waren alle durch ein » H« an der linken Backe gekennzeichnet gewesen. Aber während der sechs Jahre war der Brand bei allen ausgelöscht, außer bei einem. Dieser Veteran war auch mit Hörner und Chen am Lop-nor gewesen. Das Tier mußte uns wiedererkannt haben, denn es trennte sich von den Kameraden, schritt in majestätischem Gang auf uns zu und streckte seinen schönen zottigen Kopf vor. Es wollte wie in früheren Tagen Brot haben. Wir mißverstanden es nicht. Ein gewaltiger Bissen landete in seinem Maul. Es war, als ob man einen alten Freund und Kameraden aus einer erinnerungsreichen Zeit getroffen hätte.
In der Nacht zum 15. November zeigte das Thermometer -19,8 Grad. Der Winter war im Anzug. Es wurde zeitig geweckt und gefrühstückt. Die Feuer verglimmten. Die Zelte wurden zusammengelegt und die Schlafsäcke zusammengerollt. Alles ist bereit. Wir nehmen Abschied von Arasch und fahren durch leicht welliges Steppengebiet am kleinen Sodasee Ulan-nor vorbei. Eine Herde Pferde begleitet uns eine Weile in wildem Galopp, kreuzt unsern Weg mit klapperndem Hufschlag und bleibt dann zurück. Schnell wie Wolkenschatten flüchten ein paar Antilopenherden. Von Zeit zu Zeit begegnen uns Ochsenkarren und Reiter. Hier schreitet bei taktmäßigem Schlag ihrer Kupferglocken eine Opiumkarawane mit etwa hundert Kamelen vorbei. Eine andere ist doppelt so groß. Sie kommen von Liang-tschou und werden zum Schutz der kostbaren Schmuggelware von Soldaten begleitet.
Wir sind am zugefrorenen Targan-gol angelangt, einem Fluß, an dem wir bis Beli-miao entlang fahren. Hier beginnen die endlosen Weiten der Inneren Mongolei, die sich bis zu den Randbergen im Nordwesten ausdehnen. Alte verfallene Grenzmauern und vereinzelte Wachttürme bezeichnen die Grenze des Anbaugebietes chinesischer Kolonisten. In einer Senke vor uns wird schließlich unser erstes Ziel, die große Klosterstadt Beli-miao, sichtbar.
Wir fuhren auf den ebenen harten Platz vor den Tempeltoren. Hier exerzierte gerade die tibetische, mongolische und chinesische Leibwache des Taschi Lama. Eine Menschenmenge umringte uns sofort, als wir haltgemacht hatten. Unter den Lamapriestern in roten Togen, den Offizieren und Soldaten sah man eine kleine Gruppe von Europäern, »Herzog« Larson als Reisemarschall, Herr und Frau Oliver (Reuter) und M. Bécherat (Agence Havas). Sie wollten Neues über die Verhandlungen erfahren, die über die Unabhängigkeit der Inneren Mongolei in der Klosterstadt stattfanden. Mongolische Fürsten und der chinesische Innenminister waren zu den Verhandlungen hierhergekommen. Auch der Taschi Lama residierte jetzt in der Klosterstadt und hoffte, für eine friedliche Lösung wirken zu können.
Unsere Zelte schlugen wir ein paar Kilometer vom Kloster entfernt auf. Nicht weit von diesem Platz hatten wir Anfang November 1929 gelegen und von Hörner und Chen, Bergman, Bohlin und Bexell Abschied genommen. Am Abend gab es in meinem Zelt ein großartiges Festessen mit Erbsensuppe, Fleischklößchen und Kaffee. Wir waren vierundzwanzig Personen, darunter zwei entzückende Damen, die Russin Frau Oliver und die Mongolin Mary Fordham aus der Missionsstation Ghaschatu.
Am nächsten Tag begaben sich Georg und Serat zu unserer Karawane, um die schadhaft gewordenen Benzintrommeln auszubessern. Hummel, Bergman, Larson und ich fuhren in die Klosterstadt, und zwar auf den Tempelhof, wo Barun Sunit Wang sein großes buntes Filzzelt aufgeschlagen hatte. Dieser Mongolenfürst ist der energische Wortführer in der Unabhängigkeitsfrage. Er ist ein kräftig gebauter Mann von vornehmem Aussehen und kämpfte mit Macht und Würde für das uralte Volk des Tschingis Khan, für seine Selbständigkeit, Freiheit und Ehre.
Barun Sunit mit seiner Mutter. Montell
Taschi Lama
An den Seiten die Widmung an den Verfasser
Von einem Adjutanten wurden wir in die Empfangsjurte geführt und nahmen auf den Teppichen um den Holzrahmen der Feuerstätte Platz. Bald trat Barun Sunit Wang ein. Er kannte uns gut, waren wir doch in seinem stattlichen Palast in Sunit zu Gast gewesen. Nach den üblichen Fragen über den Verlauf der Reise berichtete er ausführlich über die Forderung der Mongolen nach Unabhängigkeit. Er versuchte nachzuweisen, daß ein neues Abkommen für China wie auch für die Mongolei vorteilhaft sei. Larson war sein und der übrigen Mongolenfürsten Berater und versuchte zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Die Vereinbarungen und Entschlüsse, die man faßte, waren aber von kurzer Dauer. Die Japaner standen schon in Jehol und bedrohten Tscharhar. Nach anderthalb Jahren wollten sie Tien-tsin, Peking und Kalgan unter Nippons Herrschaft bringen. Damit waren die uralten Bande zwischen der Mongolei und China auf ungewisse Zeit zerschnitten. Ein paar Jahre später, Ende Januar 1936, erfuhren wir aus Peking, daß Sunit Wang die Innere Mongolei zu einem unabhängigen Staat erklärt hatte. Man wartete darauf, daß er sich zum Kaiser ausrufen lassen würde.
Mongolenjurte bei Beli-miao. Montell
Die Unglücksstelle bei Jang-schan-tse-kou. Bergman
Sunit Wang fragte uns über unsere Pläne für Sinkiang. Er schien daran aber weiter kein großes Interesse zu haben. Möglicherweise dachte er, da ja der kürzeste und beste Weg nach Hami von Kwei-hwa ausgeht und Beli-miao berührt, so werden es auf alle Fälle wir Mongolen sein, die die Bedingungen für den Handelsverkehr vorschreiben.
Am gleichen Tag wurden wir auch noch vom Taschi Lama in dem vornehmen Klosterhaus empfangen. In einem Vorraum erwartete uns ein Lama, der uns Tee anbot und nach einer kleinen Weile in das Audienzzimmer führte. Mit seinem entzückenden menschenfreundlichen Lächeln kam Seine Heiligkeit auf uns zu und reichte uns beide Hände. Er bat uns, auf den teppichbelegten Bänken Platz zu nehmen. Das Gespräch bewegte sich um Asiens Geographie, Europas Politik und letzte Könige, Dr. Hummels Reise nach Tebbu und meine Fahrt nach Taschi-lunpo vor sechsundzwanzig Jahren. Er lächelte, als ich ihm den Goldring zeigte, den er mir im Jahre 1926 in Peking gegeben hatte. Er sollte der Expedition auf der neuen Fahrt ganz gewiß Glück bringen.
Ich konnte ihm nichts anderes geben als die chinesischen Auflagen von »Auf großer Fahrt« und »Mein Leben als Entdecker«. Uns schenkte er drei kleine formvollendete Achatflaschen von der Art, wie sie die Mongolen als Schnupftabakdosen gebrauchen. Außerdem gab er uns sein Bild mit chinesischer Widmung und dem roten Amtssiegel sowie einen Brief an den Torgotenhäuptling in Khara-schar.
Ungefähr einen Monat nach unserm Besuch bei dem Taschi Lama starb der Dalai Lama in Lhasa. Er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten eine bedeutende Rolle in der Politik gespielt und Tibets Verhältnis zu China, Rußland und Britisch-Indien bestimmt. Wegen der Unversöhnlichkeit dieses Kirchenfürsten hatte der Taschi Lama im Jahre 1924 keinen andern Ausweg gewußt, als von Taschi-lunpo nach Peking und der Inneren Mongolei zu fliehen. Nach dem Tod des Dalai Lama besserten sich seine Aussichten. In Kansu hörten wir im Jahre 1935, daß er sich in Alaschan befand, um sich in sein und seiner Götter heiliges Land zu begeben. Inzwischen haben die Machthaber in Lhasa, wahrscheinlich die hohen Mönche in Sera, Drepung und Galden, in der Heiligen Stadt den Knaben gefunden, in dessen Körper der wandernde und suchende Geist des toten Dalai Lama auf den unergründlichen Wegen der Seelenwanderung endlich wieder eine sterbliche Hülle gefunden hatte. Nun ist nach Gesetz und Herkommen der Taschi Lama der Lehrer eines neuerkorenen minderjährigen Dalai Lamas. Man kann daher vermuten, daß der Taschi Lama sich schon in Lhasa befindet oder aber seine Reise dorthin beschleunigen wird. Er ist sehr fromm und beim Volk des Schneelandes beliebt. Vielleicht kann er den Einfluß der hohen Mönche brechen und selbst die weltliche Macht übernehmen. Dann wird in Zukunft Tibets politische Stellung zweifellos eine bedeutungsvolle Veränderung durchmachen. Denn der Taschi Lama, der dreizehn Jahre in China Gastfreundschaft genossen hat, wird gewiß eine Annäherung an das Reich der Mitte durchführen. Der verstorbene Dalai Lama und die Mönche Lhasas dagegen begünstigten bisher die Freundschaft zu der englischen Herrschaft in Indien.
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