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Heiliger Abend auf See vor San Franzisko! Am Neujahrstag 1933 in Honolulu! Dann auf dem Stillen Ozean, der seinem Namen keine Ehre machte, denn der »Präsident Garfield« mußte mit Sturm und Wellen kämpfen.
Am 19. Januar landete ich in Tien-tsin und fuhr sofort nach Peking weiter, ins Schwedische Haus, wo die Große Expedition ihr Hauptquartier hatte.
Ebensowenig wie das Meer schien Peking ein Ort des Friedens zu sein. Vor dem Gesandtschaftsviertel übten japanische Soldaten an Maschinengewehren, als ob sie schon Herren der alten ehrwürdigen Kaiserstadt wären. Nippons Heere näherten sich der berühmten Tempelstadt Jehol, die am 4. März in ihre Hände fiel. Nächstes Ziel, so glaubte man, sollten Peking und die fünf Provinzen Nordchinas sein.
Die Fackeln des Aufruhrs brannten über Sinkiang, wo die Revolten gegen die chinesische Herrschaft wie ein Steppenbrand um sich griffen. Dem Tigerfürsten, Jolbars Khan, war sein ganzes Land um Hami verheert worden, und er brütete in seinem Versteck zwischen den Himmelsbergen auf Rache. Der Torgotenfürst und Großlama in Khara-schar, Sin Chin Gegen, hatte sich geweigert, dem Befehl nachzukommen, gegen Jolbars ins Feld zu ziehen. Darauf war er zum Generalgouverneur Chin Shu-jen nach Urumtschi befohlen worden, wo man ihn und seinen Stab hinterrücks niedergeknallt hatte.
Am 1. April telegraphierte Chin nach Nanking, Ostturkestan habe sich losgerissen, und er habe Ma Pu-fang, den starken Mann der Tunganen in Kansu, aufgefordert, gegen Ma Chung-yin, »das Große Pferd«, ins Feld zu ziehen, der damals mit seinen Truppen in Su-tschou lag. Als Antwort bekam er Vorwürfe aus Nanking, daß er zum Bürgerkrieg hetze, anstatt den Aufruhr zu ersticken und seine Provinz in Schach zu halten. Am 12. April wurde sein Yamen von bewaffneten russischen Emigranten umstellt; es glückte ihm jedoch, durch Sibirien nach Nanking zu fliehen, wo er zu Gefängnis verurteilt wurde.
Damals glaubte man allgemein in Peking, daß es dem »Großen Pferd« gelingen würde, Sinkiang zu erobern, ja, es waren Gerüchte im Umlauf, daß Urumtschi gefallen sei.
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Nach mehrjährigen ergebnisreichen Forschungen im Herzen von Asien tauchte Dr. Erik Norin am 2. Februar wieder in Peking auf. Frisch und von der Sonne gebräunt sprang er aus dem Zug, und seine ersten Worte waren: »Laßt mich bald wieder zurück nach Tibet!« Er hatte noch nicht genug von dem großen Asien und seinen geologischen Fragen!
Eine Woche später waren Dr. Birger Bohlin und sein Karawanenführer, der Däne Bent Friis-Johansen, wohlbehalten in das Schwedische Haus zurückgekehrt. Auch Bohlin kam mit umfangreichen, kostbaren paläontologischen Sammlungen.
Die schwedische Kolonie wuchs also. Dort herrschte brodelndes Leben. Kisten mit Gestein und Fossilien wurden ausgepackt und das Material unter verschiedene Bearbeiter verteilt. Bis tief in die Nacht hinein dauerten unsere Besprechungen, und oft verhandelten wir mit dem Vorsitzenden unseres Ausschusses, Professor Liu Fu, und mit dem Chef für die geologische Untersuchung Chinas, Dr. Wong Wen-hao.
Ein Zimmer im Schwedischen Haus wurde als Zeichensaal eingerichtet, und dort zeichneten Norin, Bohlin und Bergman an drei großen Tischen eine riesenhafte Karte unseres ganzen Arbeitsfelds. Sie maß 5½ Meter in der Länge, 2 Meter in der Höhe und umfaßte 4½ Millionen Quadratkilometer, also ein Gebiet, das zehnmal so groß ist wie Schweden oder ein Zehntel von Asien. Die Berge wurden in einem warmen braunen Ton dargestellt, Wald und Anbaugebiete in Grün, die Wüsten in Gelb, Flüsse und Seen in Blau, und unsere Reisewege durch dies Gebiet leuchteten blutrot. Es war ein Vergnügen, das Bild dieses ungeheuren Teils der Erdoberfläche zu betrachten, dem wir sieben Jahre unseres Lebens gewidmet hatten. Im Frühling wurde die Karte nach Chikago geschickt und in einem Saal neben dem Lamatempel von Jehol ausgestellt.
Von Dr. Nils Hörner, der sich noch mit unserm chinesischen Astronomen, Parker C. Chen, am Edsin-gol aufhielt, erhielten wir eine Trauerbotschaft. Der tüchtige und kenntnisreiche Balte Walter Beick, der fünfzehn Jahre lang allein in Innerasien umhergestreift war und großartige zoologische Sammlungen, besonders von Vögeln und Eiern für Rechnung des Berliner Museums, zusammengebracht hatte und einige Monate bei Bohlin und Hörner tätig war, hatte sich in einem Anfall von Schwermut bei Vadschin-torei erschossen. Unter den letzten Tamarisken der Sandwüste wurde er begraben, nicht weit von der Mündung des Edsin-gols in die Wüstenseen. Mit Wehmut und Dankbarkeit gedachten wir Walter Beicks und seiner pflichttreuen Arbeit in unserm Dienst. Mit Nachdruck können wir die Worte bestätigen, die er unmittelbar vor seinem verzweifelten Schritt niederschrieb: »So wahr Gott lebt, ich habe meine ganze Kraft eingesetzt, um dazu beizutragen, Innerasiens Natur zu erforschen.«
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Anfang Februar besuchten einige von uns meinen alten Freund Taschi Lama, der im Palast Ta Li Tang bei Nan-hai oder dem Südteich bei der Verbotenen Stadt wohnte. Wir sprachen davon, daß ich im Jahre 1907 anderthalb Monate lang sein Gast in Taschi-lunpo war. Nun hoffte er darauf, daß er nach einem Besuch in der Inneren Mongolei bald den Weg nach seiner Heimat Tibet offen finden würde. Als er von Norins und meiner Sehnsucht nach diesem Schneeland hörte, hieß er uns in seiner Klosterstadt herzlich als Gäste willkommen.
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Da Dr. Nils Ambolt mehrere Monate nichts hatte von sich hören lassen, steigerte sich unsere Unruhe von Tag zu Tag. Als Kapitän Lutz von der deutsch-chinesischen Fluggesellschaft »Eurasia« gerade nach Su-tschou fliegen sollte, bat ich ihn, einen Brief für Bexell und Bökenkamp mitzunehmen, die noch in dieser Gegend arbeiteten; sie sollten versuchen, die Verbindung mit Ambolt aufzunehmen. Von den schwedischen Missionaren in Kaschgar hatte ich bereits im Januar folgendes Telegramm bekommen:
»Zwei Mann, die um Weihnachten in Jarkend eintrafen, berichten, daß Ambolt am 8. November in Tschertschen war und weiter auf dem Weg nach Kansu sei.«
Wir nahmen als sicher an, daß das »Große Pferd« alle Wege zwischen Kansu und Sinkiang gesperrt hatte. Daß Ambolt sein wertvolles Gepäck im nördlichen Tibet hatte im Stich lassen müssen und völlig ausgeraubt nach Tschertschen gekommen war, hatten wir gehört. Mein erster Gedanke war, eine Eilfahrt mit Autos nach dieser Oase zu machen, die etwa 3000 Kilometer entfernt war. Unsere Mittel gingen aber zur Neige, so hieß es abwarten.
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In Peking wurde die Lage immer gespannter. Eines Tages waren alle Rikschas in der Stadt verschwunden – sie waren für Munitionstransporte beschlagnahmt. Am 16. März wurde der Belagerungszustand verkündet, und ohne Passierschein durfte man sich im Dunkeln nicht auf der Straße sehen lassen. Den Postämtern in Peking und Umgebung wurde befohlen, jeden Abend ihre Kasse im Hauptpostamt abzuliefern, da man jeden Augenblick fürchtete, daß umherschweifende chinesische Truppen Peking überschwemmen und plündern würden, wie es schon einmal vorgekommen war. Am 30. April waren die japanischen Truppen nur noch rund 85 Kilometer von der Stadt entfernt.
Am Morgen des 11. Mai schwebte ein japanisches Aufklärungsflugzeug über Peking. Maschinengewehre knatterten an verschiedenen Stellen. Man war neugierig, was kommen würde. Die wertvollen Sammlungen der Han-Manuskripte auf Holz, die Bergman am Edsin-gol entdeckt hatte, wurden von Professor Liu Fu ins Schwedische Haus gebracht, da man sie dort unter schwedischer Flagge im Fall eines Luftangriffs, eines Überfalls oder einer Plünderung für sicherer aufgehoben hielt.
Am 20. Mai surrten elf Flugzeuge über uns. Die japanische Vorhut stand schon rund 16 Kilometer vor der Stadt. Gruppen fliehender chinesischer Soldaten drängten sich in die Stadt und erzwangen sich Quartier.
Am 22. Mai hatten wir mittags den amerikanischen Schriftsteller Owen Lattimore mit seiner Gattin zu Gast. Wir saßen bei Tisch, als die Deutsche Gesandtschaft anläutete und uns folgendes mitteilte:
»Wenn Sie zwei Kanonenschüsse hören, so beobachten Sie den Funkmast der Amerikanischen Gesandtschaft. Wenn Sie dort drei weiße und drei rote Lichtzeichen sehen, begeben Sie sich sofort in das Rockefeller-Institut, von wo man Sie mit Militärautos zur Amerikanischen Gesandtschaft bringen wird. Es ist damit zu rechnen, daß Peking heute Nacht geplündert wird.«
Aber die Nacht verlief ruhig, und man hörte keine Kanonenschüsse. Die Stadttore wurden auch tagsüber geschlossen gehalten. Wir fuhren im Auto durch die nördlichen Stadtteile, um uns die Barrikaden und die andern Verteidigungsvorbereitungen anzusehen.
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Unsere Unruhe um Ambolt wuchs immer mehr. Auf das Telegramm, das ich über Peshâwar an den Missionar Roberntz in Kaschgar schickte, erhielt ich aus Peshâwar die Nachricht, daß die Funkverbindung mit Kaschgar unterbrochen sei, daß Telegramme nur nach Misgar geschickt und von dort innerhalb elf Tagen durch Reiter weiterbefördert werden könnten. Die chinesische Funkstation war also von den mohammedanischen Aufrührern zerstört.
Wir hörten auch, daß viele schwedische Missionare nach Hause gereist oder bis auf weiteres über die indische Grenze geflüchtet waren.
Was aber war mit Ambolt geschehen? Lebte er, war er gefangen oder ermordet? Meine Weisung an Bexell, die Verbindung mit Ambolt aufzunehmen, war vom »Großen Pferd« durchkreuzt worden. Er wollte keine fremde Einmischung dulden und versprach, sich selbst um den Vermißten zu kümmern. Späterhin erlaubte er uns aber doch, die Nachforschungen aufzunehmen. Am 15. Mai schickte ich Dr. Erik Norin aus, Ambolt zu suchen und ihm, wenn möglich, Hilfe zu bringen.
Beim Abschied bat Norin, ihm den Goldring zu leihen, den ich 1926 vom Taschi Lama bekommen hatte. Er trägt das Zeichen Seiner Heiligkeit und das Sinnbild langen Lebens. Norin war überzeugt, daß der Ring des »Lebenden Buddhas« wundertätige Kraft besitzt. Dadurch würden seine Nachforschungen von Erfolg gekrönt sein, ja, vielleicht Ambolts wie auch sein eigenes Leben gerettet. So nahm er den Ring nach Nanking mit. Durch freundliche Hilfe des schwedischen Generalkonsuls Lindquist und des deutschen Legationsrats Fischer bekam er im Handumdrehen seinen Paß und ebenso schnell einen Platz in dem Eurasia-Flugzeug. Er flog nach Su-tschou, wo seine Rettungsexpedition beginnen sollte.
Den deutschen Flugkapitänen Lutz, Baumgart, Ratje und andern sind wir zum größten Dank verpflichtet. Bereitwilligst haben sie die Post der Expeditionsabteilungen in Su-tschou befördert und uns über die Lage in den von der Fluglinie berührten Städten in Sinkiang und Kansu wertvolle Aufschlüsse gegeben.
Kapitän Lutz reiste im Frühjahr nach Berlin, um in Gesellschaft unseres alten Freundes Wilhelm Schmidt, des Vertreters der Lufthansa in Peking, auf dem Luftweg über Omsk, Urumtschi, Hami und Su-tschou nach Peking zurückzukehren. Dieser Flug über den größten Erdteil ist eine Großtat und wurde unter Leitung von Kapitän Lutz mustergültig durchgeführt. Am 25. Juni war Lutz wieder in Peking, leider ohne Schmidt, der bei einem Flug in Deutschland verunglückt war.
Lutz wurde in Urumtschi über die Lage in Hami und die Operationen des »Großen Pferdes« unterrichtet. Daher verzichtete er auf eine Zwischenlandung in Hami und flog geradeswegs nach Su-tschou, wo er General Hwang Mu-sung traf. General Hwang war im Mai mit seinem Stab von der Zentralregierung nach Sinkiang geschickt worden, um die Lage zu untersuchen und zwischen den Streitenden zu vermitteln. Wie es scheint, hat er die Absicht gehabt, sich selbst die höchste Macht in Urumtschi anzumaßen. Jedenfalls unternahm er einen kühnen Handstreich, der drei hohen Beamten das Leben kostete. Der Militärgouverneur General Sheng Shih-tsai, der mächtigste Mann in Urumtschi, durchkreuzte General Hwang Mu-sungs Pläne. Er ließ ihn »als Beweis der Achtung für die Zentralregierung« ungehindert auf dem Luftweg nach Nanking heimkehren.
Dr. Bohlin reiste am 27. April nach Schweden zurück. Norin verließ uns, wie gesagt, am 15. Mai. Aber bereits am 11. hatte das Schwedische Haus Ersatz bekommen; Dr. Nils Hörner und Parker C. Chen kamen mit prächtigen Ergebnissen heim. Sie waren vier Jahre am Edsin-gol, Lop-nor, Pei-schan und Nan-schan gewesen. Ihnen war unter anderm die bedeutsame Entdeckung des im Jahr 1921 neugebildeten Lop-nor gelungen.
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Anfang Juni prasselte der Regen eintönig auf unsere grauen Ziegeldächer, gewaltig rollte der Donner über Peking. Aber in der Nacht zum 8. Juni herrschte Grabesstille. Ich lag in der treibhauswarmen Luft nackt auf meinem Bett und las. Die Uhr zeigte drei. Da wurde die Holztür des Hoftors vorsichtig geöffnet. Man hörte schleichende Schritte auf den Steinplatten. Kaum vernehmbar wurde die Tür zu meinem Arbeitszimmer geöffnet. Dann wurde alles still. Zwischen den beiden Zimmern stand die Tür offen.
»Wer da?« rief ich. Aha, niemand anders als unser eigner Torwächter kam herein und überreichte mir ein Telegramm. Das mußte etwas Wichtiges sein! Denn sonst läßt das Postamt die Depeschen erst am frühen Morgen überbringen. Ich öffnete voller Spannung und las:
» Ambolt safe in Chotan – returning via India – Roberntz.«
Gott sei Dank! Nun konnte man wieder aufatmen! Ich schrieb sofort Telegramme, um Norin und Bexell zurückzurufen, und setzte die Hiergebliebenen, ferner Lindquist und Fischer in Kenntnis. Ich rief Hörner herbei. Er kam und führte vor Freude einen Indianertanz in meiner Kammer auf. Dann schickten wir einen Jungen zu Bergman. Er kam im Schlafanzug und nahm auf einem Stuhl Platz. Nachdem er die kurze, aber inhaltsreiche Botschaft vernommen hatte, sagte er nur: »Weiter nichts?«
Ambolt schlug sich ohne Hilfe durch Tibet bis nach Indien und nach Hause durch. Bexells und Norins Schicksal zu erzählen, würde den Umfang des Buchs überschreiten. Bexell war noch nicht weit gekommen, als er zurückgerufen wurde. Norin war schon in Tibets nordöstlichen Bergen verschwunden. Bei den Osttürken in der Gegend von Temirlik schwebte er in Lebensgefahr, weil sie ihn für einen Spion hielten. Auch die Tadjinmongolen in Zaidam begegneten ihm argwöhnisch. Aber als sie den Ring des Taschi Lama sahen, bezeigten sie ihm tiefste Verehrung, und er konnte unbehelligt nach Osten zurückkehren.
An einem verregneten Sonntag Anfang Juni besuchte mich Generaloberst von Seeckt, der zu meinen besten Freunden vom Krieg her gehört. Wir hatten uns während des Vormarsches von Mackensen durch Galizien täglich getroffen. Jetzt war er nach einem längeren Besuch bei Marschall Chiang Kai-shek nach Peking gekommen.
Das Mittagessen, das der deutsche Gesandte Trautmann am 28. Juni 1933 General von Seeckt zu Ehren gab, sollte in einer wunderbaren Weise auf mein Schicksal Einfluß haben. Der Regen stand wie eine Wand hinter den Bergen. Die Räume der Deutschen Gesandtschaft erstrahlten im Licht. Unter den Gästen bemerkte man viele vornehme Chinesen, den Kriegsminister Ho Ying-chin, General Hwang Fu, Exzellenz Ho, der Premierminister, Außenminister und Gesandter in Paris gewesen war, und andere mehr. Ein hochgewachsener Chinese mit vornehmen Zügen und in einem weißen Smoking weckte meine Aufmerksamkeit, und ich bat einen der Herren von der Gesandtschaft, mich vorzustellen. Es war der Vizeaußenminister Liu Chung-chieh, der sich seit kurzem in Peking aufhielt, um die Verbindung zwischen Nanking und dem Diplomatischen Korps aufrechtzuerhalten.
Wir begannen ein Gespräch über die Verhältnisse in Sinkiang. Ich war ja unlängst dort gewesen und hatte früher auch einige Jahre in Ostturkestan verbracht. Der Minister unterwarf mich einem richtigen Verhör über meine Erfahrungen und Ansichten, und gerade auf die Sache zugehend, antwortete ich:
»Von den Pufferstaaten, die Kaiser Chien Lung im Halbkreis um das Reich der Mitte errichtete, ist nur noch ein einziger Staat übrig. Seitdem die Republik eingeführt wurde, haben Sie Tibet, die Mandschurei und Jehol verloren, auch die Innere Mongolei ist stark bedroht. Sinkiang ist noch chinesisch, aber jetzt von mohammedanischen Aufständen und Bürgerkriegen zerfleischt. Wenn nichts zum Schutz der Provinz getan wird, geht auch sie verloren.«
»Was müßte man nach Ihrer Meinung tun?« fragte der Minister.
»Ich meine, man müßte zuerst gute Autostraßen zwischen dem eigentlichen China und Sinkiang anlegen und unterhalten. Eine Eisenbahnlinie nach dem Herzen von Asien wäre der nächste Schritt.«
Wir unterhielten uns lange und ausführlich, und Minister Liu bat mich, ihn am nächsten Tag in seinem Amtszimmer zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit erörterten wir das Problem noch eingehender, und schließlich bat mich der Minister, eine Denkschrift auszuarbeiten und auf einer Karte die Wege einzutragen, die ich für am besten geeignet hielt.
Mitte Juli übergab ich die Niederschrift mit der Karte dem Minister, der sie ins Chinesische übersetzen ließ. Marschall Chiang Kai-shek, der Ministerpräsident Wang Ching-wei und der Eisenbahnminister Ku Meng-yü erhielten jeder ein Stück. Ich beschränkte mich in dieser Denkschrift auf die Fragen des Handels und der Verkehrswege. Der russische Handel hatte den chinesischen unterbunden und war dabei, den englischen aus Indien zu verdrängen. Sowohl bei Kaschgar, Kuldscha, Tschugutschak als auch im Altai arbeiteten sich die Russen vor. Sie hatten vortreffliche und ständig verbesserte Wege bis zur Grenze von Sinkiang. Der chinesische Handel benutzte dagegen seit alters her vorwiegend Kamelkarawanen von Kwei-hwa-cheng durch die Gobi nach Hami, Kucheng-tse und Urumtschi. Die Karawanen waren drei Wochen unterwegs. Wenn man dafür nun Lastautos benutzen würde, so ließe sich die Zeit um zehn bis zwölf Tage verkürzen, und man könnte den Wettbewerb mit Erfolg aufnehmen. Daß die Entwicklung in dieser Richtung gehen würde, zeigte sich auch darin, daß die Kaufleute in Kwei-hwa-cheng sich schon zu einem Kraftwagenverkehr zwischen ihrer Stadt und Hami zusammengeschlossen hatten. Die ersten Lastwagen, die hinausgingen, waren allerdings auf den holprigen Wegen meist zu Wracks geworden. Deshalb müßte zuerst ein Autoweg durch die Gobi und ein anderer, neben der »Kaiserstraße«, durch Kansu angelegt werden.
Bei meiner Unterhaltung mit dem Vizeaußenminister Liu ahnte ich nicht, welche Bedeutung diese für mich selbst in der nächsten Zukunft haben sollte. Nur Norin, Bexell und Bökenkamp waren noch unterwegs. Wenn sie demnächst wieder nach Peking zurückkehrten, könnten wir alle heimreisen und mit der Bearbeitung der Ergebnisse dieser umfangreichen, weitverzweigten, mehrjährigen Expedition beginnen.
Aber es stand anders in den Sternen geschrieben! Minister Liu begab sich Ende Juli nach Nanking und legte dem Marschall und Ministerpräsidenten meine Denkschrift vor. Am 3. August erhielt ich folgendes Telegramm:
»Der Präsident Wang Ching-wei des Vollzugsrats wünscht Sie so bald als möglich in Nanking zu treffen – bitte bald an Liu Chung-chieh Antwort senden.«
Da begriff ich, daß mein Schicksal in eine neue Bahn gleiten sollte. Schon träumte ich von dem Glück, der chinesischen Regierung als Dank für all die Gastfreundschaft, die mir in China seit 1890 zuteil geworden war, einen Dienst erweisen zu können. Ich besaß ja Kenntnisse von Innerasien, und niemand konnte aufrichtiger als ich wünschen, daß sie China zum Vorteil gereichen möchten. Vielleicht hatte ich bei einer neuen Forschungsreise auch Gelegenheit, den Teil der »Seidenstraße« zu sehen, den ich noch nicht kannte. Er führte auch am Nordufer des neuen Lop-nor und des 1921 neugebildeten Tarimlaufs entlang.
Am Abend des 5. verließ ich Peking. Der Sommer war auf der Höhe seiner Schönheit, und es lag eine weiche, warme Luft über dem Tiefland, als der Zug am nächsten Tag zwischen den alten Grabhainen nach der Hauptstadt der Republik eilte.
In Gesellschaft des Vizeministers Liu besuchte ich den Außenminister Dr. Lo Wen-kang. Dieser Mann schreckte vor keiner Schwierigkeit zurück und besaß einen klaren, heiteren und offenen Sinn für das Leben und seine Aufgaben. Er erzählte, daß er selbst nach Urumtschi gehen werde, nachdem General Hwang Mu-sungs Sendung gescheitert war. Er hoffte in der Provinz Ruhe stiften und zwischen den Generalen Friedensmittler sein zu können. Dr. Lo teilte auch mit, daß die Regierung mir die Leitung einer Autoexpedition nach Sinkiang zu übertragen beabsichtige.
Eine Weile später saß ich beim Ministerpräsidenten Wang, der alles bestätigte, was ich gehört hatte. Eisenbahnen nach Innerasien zu bauen, wäre zu teuer, man müßte sich zu Anfang mit Autostraßen begnügen. Sie müßten aber an den Endpunkten der Eisenbahnlinien in Nord- und Mittelchina beginnen. Eine nördliche Autostraße müßte von Kwei-hwa ausgehen, eine südliche von Sian. Mit der Arbeit sollte unverzüglich begonnen werden. Die Regierung hätte noch keinen endgültigen Beschluß gefaßt, und er selbst wolle noch mit Beratern die Sache durchsprechen. In einigen Tagen bekäme ich Antwort.
Mehrere Konferenzen fanden statt. Über verschiedene Einzelheiten, über Wege, Entfernungen und andere Fragen machte ich neue Eingaben. Bald wurde mir klar, daß ich mich mit Geduld wappnen mußte. Aber ich brauchte mich nicht darüber zu beklagen. In C. T. Wangs Villa wohnte ich königlich. Minister Liu leistete mir häufig Gesellschaft. Oft saßen wir im Park vor der Villa in lauer Abendluft oder bei strahlendem Mondschein und machten Pläne, wie man das Band zwischen China und seiner größten westlichen Provinz enger knüpfen könne.
Die Temperatur war auf 39 Grad gestiegen, gelegentlich brachte ein Regen Erfrischung. Rund 250 Meter über dem Lotossee auf dem Gipfel des Purpurberges ging die neue Sternwarte ihrer Vollendung entgegen. Etwas weiter unten am Abhang residierte Parker C. Chen in dem magnetischen Observatorium. Ich hatte die Bitte ausgesprochen, Chen an dieser Autofahrt teilnehmen zu lassen. Sie ging nämlich durch Gebiete, die er mit Dr. Nils Hörner gründlich kennengelernt hatte.
Mitte des Monats teilte Außenminister Lo mit, daß die Regierung die Durchführung der Expedition beschlossen habe. Der Eisenbahnminister gab mir die grundlegenden Vereinbarungen bekannt. Danach ist die Expedition rein chinesisch und steht unter dem Oberbefehl des Eisenbahnministers Dr. Ku Meng-yü. Erst nach seiner Rückkehr von einem Besuch in Peking kann das Unternehmen gesetzmäßig beschlossen werden. Ich werde Leiter der Expedition und erhalte den Titel »Berater des Eisenbahnministeriums«. Ich erhalte die Genehmigung, die Schweden, die ich für notwendig halte, einen Arzt, einen Topographen und ein paar Mechaniker mitzunehmen. Die Expedition darf nicht länger als acht Monate dauern. Der Hinweg geht durch die Wüste Gobi nach Hami, der Rückweg auf der alten Kaiserstraße, der sogenannten Seidenstraße. Uns wird genehmigt, am neuen Unterlauf des Tarims und bei dem im Jahre 1921 neugebildeten Lop-nor Forschungen zu betreiben. Insbesondere dürfen wir die Möglichkeit der Bewässerung und Besiedlung in dem ehemals bebauten Land um Lou-lan untersuchen. Alle Mitglieder erhalten persönliche Pässe, Waffen, Autopapiere und werden vom Binnenzoll befreit. Das Gehalt der Schweden wird aus der veranschlagten, auf 50 000 mexikanische Dollar berechneten Summe gedeckt. Die Gehälter und Löhne der Chinesen werden von der Regierung unmittelbar bezahlt. Ich bin verantwortlich für den Ankauf der Kraftwagen und der sonstigen Ausrüstung.
Schließlich kamen noch ein paar Klauseln: in die inneren Streitigkeiten in Sinkiang dürften wir uns nicht einmischen und müßten uns von aller Politik fernhalten. Auch ohne diese Weisung hätten wir begriffen, daß Einmischung oder Parteinahme in politischen Angelegenheiten dem Unternehmen den Todesstoß versetzt hätte. In meinem Buch »Die Flucht des Großen Pferdes« habe ich berichtet, wie wir gegen unsern Willen durch die Beschlagnahme der Kraftwagen gezwungen wurden, scheinbar für das »Große Pferd« Partei zu nehmen. Dieses Abenteuer hätte uns um ein Haar das Leben gekostet.
Weder Leiter noch Mitglieder oder Diener der Expedition erhielten das Recht, in irgendeiner Form archäologische Forschungen zu betreiben. Diese unglückliche Klausel, die fast unser ganzes Unternehmen zunichte gemacht hätte, ging vom Unterrichtsminister in Nanking aus. Die Regierung selbst war unschuldig daran. Diese Bestimmung hätte nie strikt eingehalten werden können. Die Erforschung der uralten Seidenstraße – besonders zwischen Tun-hwang und Korla – war nämlich eine rein archäologische Frage. Etwaige Funde aus früherer Zeit waren für uns das einzige Mittel, die alte Straße festzustellen. Ihre Spur war ja durch die Stürme zweier Jahrtausende verweht. Wenn wir das Ziel der Expedition erreichen wollten, mußten wir uns in gewissem Grad gegen die archäologische Klausel vergehen. Diese Verantwortung nahm ich ohne Bedenken auf mich.
Da der Eisenbahnminister sich immer noch in Peking aufhielt, begab ich mich dorthin. Dank seiner Entschlossenheit wurde das Unternehmen schnell endgültig festgelegt. Der Leiter der Peking-Suiyan-Eisenbahn Sheng Chang erhielt Vollmacht, den veranschlagten Betrag auszuzahlen und mit uns über die letzten Vorbereitungen zu beraten. Er teilte uns einen neuen Zusatz zu den Richtlinien mit: Wir sollten auch die Möglichkeit künftigen Kraftverkehrs auf einem der folgenden drei Wege innerhalb der Provinz untersuchen: Urumtschi – Kaschgar, Urumtschi – Kuldscha oder Urumtschi – Tschugutschak. Wie das bei dem Bürgerkrieg, den Revolten, Aufständen und Räubereien vor sich gehen sollte, wußten wir nicht. Von Sinkiang kamen beunruhigende Nachrichten von Kämpfen und Verwüstungen. Der Außenminister Lo Wen-kang, der nach Hami und dann weiter nach Urumtschi geflogen war, hatte unter großen Schwierigkeiten über Tschugutschak und Nowo-Sibirsk unverrichtetersache heimkehren müssen. Nun waren wir an der Reihe, in die unruhige Provinz einzudringen – nicht als Friedensmittler, sondern zur Festlegung künftiger Straßen. Vernünftige Leute in Peking meinten, wir wären im Begriff, uns in ein wahnsinniges und aussichtsloses Unternehmen zu stürzen. Manche glaubten, daß Sowjetrußland mit nicht sehr wohlwollenden Augen ein Unternehmen betrachten würde, dessen Ziel war, die alten Karawanenstraßen zwischen China und Sinkiang zu erneuern und Chinas sterbenden Handel mit der Provinz wieder aufleben zu lassen. Wir vermuteten, daß die Russen auf die eine oder andere Weise unserer Expedition Hindernisse bereiten würden. Diese Besorgnisse erwiesen sich jedoch als unberechtigt. Rußlands Vertreter in Sinkiang zeigten uns größtes Entgegenkommen und halfen uns in vielen Schwierigkeiten.
Eines Tages tauchten Ingenieur Irving C. Yew und etwas später sein Kollege C. C. Kung bei uns auf. Beide waren von der Regierung ausersehen, an unserer langen Fahrt teilzunehmen. Dann fanden sich im Schwedischen Haus Parker C. Chen aus Nanking, Dr. David Hummel aus Jämtland und Georg Söderbom ein, der diesmal aus Chikago kam. Schließlich wurden die mongolischen Fahrer und die chinesischen Diener eingestellt. Damit war das Expeditionspersonal vollzählig.
Wir besuchten auch den Vertreter des »Großen Pferdes« in Peking, Pai. Er gab uns einen Brief an den General mit. Das »Große Pferd« würde uns, wie er versicherte, mit aller gebührender Rücksicht entgegenkommen, da wir in Nankings Diensten ständen.
Am 10. Oktober fuhren wir zum Bahnhof bei Si-tschih-men, Pekings nordwestlichem Stadttor. Unsere drei Lastautos und die elegante Limousine, ein Tudor Sedan, waren bereits auf Güterwagen verladen. Es waren Ford-Autos, die mit dem Zug um 15 Uhr 30 nach Kwei-hwa-cheng ab fahren sollten. Mit der Kolonne, dem Benzinvorrat, dem Proviant und der übrigen Ausrüstung waren noch Georg Söderbom, unser langjähriger treuer Diener Dongora und der junge Dschomtscha gekommen. In Kwei-hwa sollte ein Teil der vorbereitenden Arbeiten erledigt werden, ehe sich dort die Expedition versammelte.
Der Verfasser, Söderbom, Hummel, Bergman, ein chinesischer Fahrer, Dongora und unsere Kraftwagen in Peking
Am letzten Abend in Peking kamen unsere alten Freunde, die schwedischen Missionare Joel Eriksson und C. G. Söderbom, Georgs Vater, um von uns Abschied zu nehmen und uns glückliche Fahrt zu wünschen.
Und so sank eine neue Nacht über Peking herab. Ein Kapitel unseres Märchens war zu Ende. Am nächsten Morgen sollte etwas Neues beginnen, ein Abschnitt voller Ungewißheit und wilder Abenteuer. Alle waren wir entschlossen, wie Löwen für unsere Ehre zu kämpfen und nicht eher heimzukehren, bis wir unsere Kräfte auf das äußerste angespannt hatten, ein Unternehmen zu vollbringen, das die meisten für unmöglich und hoffnungslos hielten.
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