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Am 21. Oktober 1934, genau ein Jahr nach unserm Aufbruch von Peking, schlug für uns die Stunde der Befreiung. Um 8 Uhr rollten die Limousine und die beiden Lastautos zum Hoftor hinaus. Wir fuhren durch das Südtor der Chinesenstadt, den türkischen Stadtteil Nan-kwan und den russischen Jang-hang, die alle durch Tore voneinander getrennt sind. Beim russischen Generalkonsulat hielten wir, um uns von Apresoff zu verabschieden. Vergnügt und in bester Laune stürzte er heraus und erklärte, daß er einen Abkürzungsweg wählen würde, um uns ein paar Kilometer vor der Stadt nochmals zu treffen. Wir hielten bei dem Hof der Omnibusgesellschaft, um uns von Chen Teh-li zu verabschieden. Da fuhr Apresoff vorüber, der weiter draußen einen Abschiedsimbiß mit Wodka und Wein für uns aufbauen wollte. Der Militärposten am Südtor ließ uns unangetastet vorbei. Mit einem Gefühl unbeschreiblichen Wohlbehagens verließen wir Urumtschi, das uns so wenig gute und so viele böse Tage beschert hatte. Man lehnte sich unbeschwert in dem bequemen Kraftwagen zurück und betrachtete noch einmal die herrliche Landschaft. Mit Behagen spürten wir das Rollen der Räder. Jede Umdrehung vergrößerte die Entfernung von Urumtschi und brachte mich Nanking, Peking und der Heimat näher. Apresoff trafen wir nicht. Vermutlich war sein Fahrer zu früh von der Straße abgebogen, so daß der Konsul wahrscheinlich nun irgendwo saß und vergeblich auf uns wartete. Es war schade, daß ich ihm nicht nochmals für alle seine Freundlichkeit danken konnte.
Wir fuhren auf der wohlbekannten Straße nach Dawancheng. Es wurde Abend, und die Schatten fielen über das Dorf. Der Glanz des Mondes wurde immer stärker. Es war dunkel im Tal, als wir den Fluß erreichten. Die Straße war auf der linken Talseite etwas abgestürzt. Deshalb mußten wir den Fluß dreimal kreuzen. Beim ersten Übergang fuhren wir hinter den Lastwagen. Wir blieben mitten im Fluß stecken und wurden von sechs Mann wieder flottgemacht. Die zweite Kreuzung führte uns quer durch schäumende Stromschnellen, deren Wasser in den Wagen drangen. Wir saßen wiederum fest. In Eile mußte man retten, was zu retten war. Kabel und Taue werden hervorgeholt. Ein Lastwagen bugsiert uns aus den Stromschnellen heraus. Schließlich bewältigen wir auch den dritten Übergang. Am Ufer suchen wir einen Platz, der groß genug für das Zelt und frei von Steinen ist. Hier schlagen wir das erste Lager. Chia-kwei bot uns Hammelfleisch, Brot, Butter, Käse und Tee. Es war herrlich, wieder im Freien zu schlafen. Der Fluß rauschte, und der Wind sauste in den Bäumen.
Panne. Bergman
In der Morgenkühle fahren wir den engen Korridor des Dawanchengpasses hinauf und rollen sodann auf der andern Seite steil bergab. Wir treffen ein paar Pferde- und Eselkarawanen, die mit Mehl und Stoffen beladen sind – ein Zeichen, daß der örtliche Handel sich wieder zu regen beginnt. Vor einem Monat waren einige russische Kraftwagen mit chinesischen Chauffeuren den Paß hinabgefahren. Die Fahrer hatten die Gewalt über ihre Wagen verloren, die in wilder Fahrt bergab gerast und umgestürzt waren, wobei vier Mann getötet wurden.
Durch malerische rote Korridore fahren wir und wirbeln ziegelrote Staubwolken auf. Wir kommen an die Kreuzung, wo die Straße nach Toksun rechts und die nach Turfan links abzweigt. Die Sonne geht unter. Der Vollmond erhebt sein gelbes Gesicht über diese zerrissene Landschaft mit ihren wirren Graten und Schluchten. Es geht immerzu bergab. Schließlich zeigt der Höhenmesser, daß wir uns auf der Höhe des Meeresspiegels befinden. Bald erreichen wir Turfan, wo wir übernachten.
Die Terrassen des Sängim-Tals. Bergman
Am nächsten Tag fahren wir zum Osttor Turfans hinaus und befinden uns bald in dem malerischen Tal von Sängim. Auf der Kommandantur in Pitschang meldet ein Offizier, daß die Schutzwache bereits längs der Straße aufgestellt sei, daß wir die Reise also in Ruhe fortsetzen könnten. Unter festlichen, schlanken Pyramidenpappeln fahren wir über Bewässerungskanäle und lustige Brücken. Bald befinden wir uns wieder in der kahlen Wüste. Nach 136 Kilometern schlagen wir das Nachtlager auf. Der Abend ist kalt, und das Thermometer sinkt auf -8,3 Grad.
Weiter ging die Fahrt nach Osten. Türkische Reiter berichten, daß sie mehrere Patrouillen getroffen hätten, die die Straße für uns freihielten. Wir steigen wieder durch gewundene Täler bergan. Um 5 Uhr erreichen wir Chi-ko-sching-tse, wohin unsertwegen fünfzig Soldaten gelegt worden waren. Der Befehlshaber der Truppe sagt:
»Wenn Sie geradeaus nach Hami weiterfahren wollen, so müssen Sie zwanzig Soldaten auf Ihren Wagen mitnehmen. Die Straße ist unsicher, und wir tragen die Verantwortung für Sie.«
Unsere Schutzwache klettert auf die beiden Lastwagen. Wir setzen unsere Fahrt fort. Der Mond geht auf; bald sind wir wieder in der Wüste.
Am 25. Oktober fuhren wir an einem strahlend klaren und stillen Morgen weiter. Nach dem Anzeiger hat die Limousine jetzt 11 263 Kilometer zurückgelegt. Eine neue Nacht kommt herauf. Es dämmert und dunkelt, ehe wir die äußersten Hütten von Hami erreichen. Dort gibt es einen eigenartigen Empfang. Serat fuhr an der Spitze. Yew, Chen und ich mit Este als Fahrer folgten in der Limousine dichtauf. Bei einer kleinen Brücke, die über einen Kanal führt, stürzt ein Dutzend Soldaten heran und richtet die Gewehre auf uns. Sie befahlen Serat zu halten. Er brachte den Wagen sofort zum Stehen. Wir steigen aus und fragen, was das bedeuten solle. Sie wiederum fragen uns in frechem Ton, wer wir seien und wo wir hin wollten. Sie schicken einen Meldereiter zu Jolbars, um Anweisungen einzuholen. Inzwischen mußten wir warten. Alle haben den Zeigefinger am Abzug. Nach einer Weile erhalten wir Erlaubnis, in die Stadt einzufahren. Soldaten klettern auf die Lastwagen, andere stellen sich auf die Trittbretter der Limousine. So fahren wir langsam in die dunkle Straße hinein, wo nur hier und da eine Öllampe in einem Laden brennt. Vor Jolbars Haus hielten die Wagen. Dort stand der Divisionsgeneral, der allmächtige Herrscher Hamis, Jolbars Khan oder der Tigerfürst in eigener Person, umgeben von einer dreißig Mann starken Leibwache. Ich begrüßte ihn, sprach einige Worte und bat ihn, in meinem Wagen Platz zu nehmen. Er antwortete jedoch, daß er erst den chinesischen Zivilgouverneur Liu holen und uns mit ihm zusammen in dem für uns bereitgestellten Haus besuchen würde. Wir fuhren also zu dem Haus, das wir im Februar bewohnt hatten. Auf dem engen Hof standen bereits die beiden Omnibusse, die gleichzeitig mit uns Urumtschi verlassen hatten.
Bald kamen auch der selbstbewußte Tigerfürst und der Gouverneur. Wir unterhielten uns eine halbe Stunde lang mit ihnen. Die beiden Omnibusse würden einige Tage in Hami bleiben, um sich mit Proviant zu versehen. Wir sollten einen Tag warten, weil Jolbars uns mit einem Festmahl zu ehren wünschte. Ich sagte ihm, daß wir von solchen Veranstaltungen in Urumtschi mehr als genug gehabt hätten. Wir wollten unbedingt am folgenden Tag, dem 26. Oktober, nach An-hsi aufbrechen. Es wurde daher beschlossen, daß Jolbars uns am folgenden Morgen um 10 Uhr ein Frühstück geben würde. Dann könnten wir um 12 Uhr weiterfahren. Die Straße nach An-hsi war sicher. Die Räuberbande, die bei Hsing-hsing-hsia ihr Unwesen getrieben hatte, war verjagt worden. Der Kommandant in An-hsi hatte um telephonische Mitteilung unserer Ankunftszeit gebeten. Die Regierung in Nanking hatte ihn angewiesen, uns auf das beste zu empfangen.
Bökenkamp, der – wie früher berichtet – von Frau Hanneken nach Sinkiang geschickt war, um ihren Sohn zu suchen, hatte sich drei Monate in Hami aufgehalten. Am Tage vor unserer Ankunft hatte er die Stadt verlassen, offensichtlich mit dem Reiseziel An-hsi. Seine Abreise hatte einer Flucht geglichen. Um eine etwaige Verfolgung zu verzögern, hatte er in seinem Quartier ein paar mit Gerümpel gefüllte Kisten zurückgelassen. Jolbars schien jedoch kein Interesse an einer Verfolgung zu haben. Auf meine Frage, ob er glaube, daß irgendeine Hoffnung bestünde, Hanneken aufzuspüren, antwortete er diplomatisch:
»Ich habe seine Leiche nicht gesehen und kann daher für seinen Tod nicht einstehen. Ich glaube jedoch nicht, daß er noch lebt, und halte alle Hoffnung für abwegig.«
Als wir Urumtschi verließen, hatten vierzehn Personen gebeten, auf unsern Kraftwagen mitfahren zu dürfen. Mehrere hatten sich erboten, einen angemessenen Preis für die Beförderung zu bezahlen. Wir hatten sie jedoch alle hartherzig zurückweisen müssen, da wir uns in amtlicher Stellung befanden. Wir waren also nicht berechtigt, Fahrgäste aufzunehmen. Einer von diesen Leuten war Gustaf Söderbom. Er war dann aber unter dem Vorwand, nach Manas zu reisen, mit seinen Kamelen auf einem Abkürzungsweg nach Hami gekommen. Am Westtor Hamis hatte er sich einer Karawane angeschlossen, die um die Stadt herumzog und östlich von ihr in der Wüste lagerte. Wenn er nun mit seiner Reisegesellschaft weiter nach Osten marschiert wäre, so hätte er wahrscheinlich den ganzen Weg nach Kwei-hwa ungehindert zurücklegen können. Er war jedoch verwegen genug, den Basar von Hami zu besuchen, um Einkäufe zu machen. Da er nach unserer Abreise der einzige Europäer in Hami war, entging er nicht der Aufmerksamkeit der Tschekapolizei, wurde festgenommen und ins Gefängnis gesetzt. Später wurde er nach Urumtschi zurückgeführt, wo er bleiben mußte, bis er auf diplomatischem Weg befreit wurde.
Am nächsten Tag stand uns wieder eine Prüfung bevor, ehe die Stunde der Befreiung schlug: das Frühstück bei Jolbars. Jolbars hielt eine Rede auf osttürkisch, die von mir beantwortet wurde. Wir alle verspürten eine gelinde Unruhe, ob man uns nicht doch im letzten Augenblick zurückhalten würde. Die Fahrgäste der Omnibusse baten uns bis zur letzten Minute, die Reise über den Edsin-gol nach Kwei-hwa mit ihnen gemeinsam zu machen. Dann könnten wir sie bei einem Überfall mit unsern Waffen verteidigen. Aber auch diesmal waren wir hartherzig, eilten zu unserm Haus, packten die letzten Sachen ein und fuhren in Begleitung von Jolbars und Liu aus Hami ab. Die beiden machten nach etwa fünf Kilometern halt und sagten uns ein Lebewohl. Wir gaben Gas, was die Motore hielten, um so schnell als möglich aus der gefährlichen Nachbarschaft wegzukommen. Jolbars und Liu hatten uns mit einem Lastwagen begleitet. Er war mit einem andern Wagen von Sheng Tupan nach Hami geschickt worden, um die Familie des Hodscha Nias Hadschi zu holen. Jolbars hatte einige Familienmitglieder und den einen Kraftwagen fahren lassen, den andern Wagen und den Bruder Hodschas, seine Tochter und Konkubine als Geiseln zurückbehalten.
Im Norden erheben sich die Ausläufer Tien-schans. Sie ragen wie ein mächtiges Vorgebirge in das Meer der Wüste hinein. Wir befinden uns auf dem uralten Karawanenweg zwischen Hami und An-hsi. Er ist teils gut, teils schwierig und führt hier und da durch Gürtel von hartem, trockenem, gelbem Gras. In dem kleinen Dorf Chang-liu-shui, »dem langen, strömenden Wasser«, ließen wir uns für die Nacht nieder; das Lager trug die Nummer 109.
Chang-liu-shui, südöstlich von Hami. Kung
Obwohl die Temperatur in der Nacht bis auf -5,8 Grad sank, war es in der Mittagssonne glühend heiß. Manchmal ist der Wüstenboden gut befahrbar, manchmal holprig. Im Nordwesten verblassen und verschwinden die Berge in der Ferne. Hin und wieder kommen wir an Ruinen uralter Lehmhäuser vorbei, aber von Menschen ist keine Spur zu sehen. Auf einem kleinen Hügel thront die Ruine eines Wachtturms. Bei Ku-shui oder »dem bittren kalten Wasser« teilt sich die Straße – rechts geht es nach Tun-hwang, links nach An-hsi. Das Dorf Ku-shui, wo wir lagerten, war dem Erdboden gleichgemacht, aber in einem Verschlag wohnten ein paar Postreiter. Sie erzählten folgende Geschichte von dem Ort:
Kurz bevor hier das »Große Pferd« zum zweitenmal nach Hami zog, hatten sich elf osttürkische Kaufleute aus jener Stadt mit in An-hsi eingekauften Waren auf dem Heimweg befunden. Sie hatten bei Hsing-hsing-hsia die Erlaubnis erhalten, die Grenze zwischen Kansu und Sinkiang zu überschreiten. Damals war unser Freund Li, der Generalstabschef des »Großen Pferdes«, als Gouverneur in Hami. Er gab Befehl, die Karawane der elf Kaufleute zu überfallen und auszuplündern. Dies geschah, alle elf wurden getötet und ihre Waren geraubt. Als diese Untat in Hami bekanntwurde, verlangten die Familien der Opfer Entschädigung. Li erklärte, daß die Karawane von einer Räuberbande überfallen worden sei, für deren Taten er keine Verantwortung übernehmen könnte. Das Vorkommnis gab den Revolten in Sinkiang neue Nahrung. Wenn Li damals, als wir in Turfan bei ihm zu Gast waren, schlechter Laune gewesen wäre, hätte er uns leicht ebenso behandeln können. Er tat es jedoch nicht, sei es, daß er unsere Waffen fürchtete, sei es, daß er sich in seiner Stellung mehr als unsicher fühlte. Das »Große Pferd« war damals gerade bei Urumtschi geschlagen worden.
Am 28. Oktober brachen wir bei strahlender Sonne und stechendem Südwind frühzeitig auf. Der Wüstenboden ist fest und mit hartem Kies bedeckt. Die Geländewellen liegen stach wie abflauende Dünung vor uns. Zu beiden Seiten sieht man niedrige Hügel. Wir treffen eine Karawane von vierzig Kamelen, die mit Tee und Stoffen beladen sind. Der Besitzer, ein Kaufmann aus Kerija, hatte vor acht Jahren seinen Heimatort verlassen, um Waren nach Su-tschou zu führen. Aufruhr und Krieg hinderten ihn an der Rückkehr. Erst jetzt hatte er gewagt aufzubrechen. Die Karawanenglocken läuteten feierlich wie zu einem Begräbnis.
Wir stiegen 250 Meter bis zur Krone einer Geländewelle. Von oben hatten wir eine endlose Aussicht über die furchtbar öde, unfruchtbare Wüste. Kein Halm ist zu sehen, kein wildes Tier zu spüren – es herrscht die Stille des Todes. Manchmal kommen wir an den Ruinen eines Wachtturms oder einer verfallenen Mauer vorbei. Gelegentlich mögen sie Wanderern notdürftigen Schutz gegen die heftigen Stürme gewähren. Bei Sha-chüan-tse, der »Sandquelle«, gibt es ausnahmsweise wirklich gutes Wasser. Von Ku-shui aus sind wir nach achtundvierzig Kilometern 500 Meter gestiegen und befinden uns bei Hsiao-hung-lin-yüan auf 1600 Meter Höhe. Darauf führt der Weg zwischen niedrigen Hügeln, Kämmen und Schwellen hindurch. Er folgt einem engen Hohlweg zwischen Felswänden aus grauem feinkörnigem Granit, Pegmatit und kristallinischem Schiefer. Die Berge nehmen an Bedeutung zu. Wir steigen zu einem stachen Paß bis auf 1850 Meter Höhe. Auf seiner rechten Seite steht man den kleinen Tempel Hsing-hsing-hsia, der zerstört und verlassen ist. Unzählige Steinhaufen bezeichnen den Weg zu diesem buddhistischen Heiligtum. Kein Priester betreute den Tempel, dessen verfallene Mauern rot zwischen den grauen Felsen leuchteten. Das kleine, nahe gelegene Dorf besteht nur aus einigen Hütten. Der Postmeister war der einzige Einwohner. Seine Läufer waren unterwegs. Er berichtete, daß am Abend zuvor einige Soldaten von An-hsi zum Dorf gekommen seien, um uns in Empfang zu nehmen. Da man noch nichts von uns gehört hatte, wären sie wieder umgekehrt.
Auf den Hügeln, die den Tempel umgeben, thronen Ruinen und Mauern von alten Befestigungen. Hier verläuft die Grenze zwischen den beiden Provinzen, aber heute halten keine Grenzposten mehr Wache.
Nach 8,2 Grad Kälte in der Nacht brachen wir zeitig auf. Unzählige Steinhaufen und Pyramiden fassen die Straße ein. Sie geht bald über Sand und Kies, bald führt sie zwischen Felsblöcken hindurch. Nach einer Weile hört das Tal auf. Das Gelände öffnet sich und bietet eine weite Ausficht nach Süden. Ein enger Korridor führt ins Flachland, das mit vereinzelten Grasbüscheln bestanden ist. Wir kommen an einer verlassenen Goldgräberstelle vorüber. Ein Schützengraben zeugt von unruhigen Zeiten. Wir fahren nach Südost. Rechts haben wir schon lange eine Bergkette gesehen, die sich von Westen nach Osten erstreckt und zum Pei-schan gehört. Schließlich berühren wir ihren östlichsten Ausläufer. Die Kette verschwindet dann hinter uns. Vereinzelte Grasbüschel wachsen in untiefen Geländeeinschnitten. Eine Karawane von vierundvierzig Kamelen führt Mehl von An-hsi nach Hami – der Handel beginnt sich wieder zu regen. Bei Ta-chüan, »der Großen Quelle«, wohnt ein Postmeister mit Familie und drei Eseln. Zu beiden Seiten der Straße erhebt sich ein Hügel mit einem kleinen, weithin sichtbaren Wachtturm. Das nächste Dorf, Hsiao-chüan, »die Kleine Quelle«, ist unbewohnt. Wieder befinden wir uns zwischen kleinen Bergen, die die kartenmäßige Aufnahme des Wegs verzögern. Wir sehen in einigen hundert Metern Abstand eine Antilopenherde. Das Lager H2 wurde auf einem ebenen Platz in 1870 Meter Höhe aufgeschlagen. Wir hatten Wasser aus Hsiao-chüan mitgeführt, um unabhängig zu sein.
Am 30. Oktober war der Himmel seltsamerweise bedeckt. Bei Sonnenaufgang wurde es jedoch wieder klar. Der Südwind umwehte unsere Wagen. Der Weg führt uns durch Gebirge. Das früher große, jetzt vollständig zerstörte Dorf Hung-liu-yüan, »Tamariskenhof«, war nur von einem Postmeister und ein paar Hunden bewohnt. All die Verwüstung, die wir auf diesem Weg antreffen, ist das Werk des »Großen Pferdes«. Als er 1933 diesen Weg von An-hsi nach Hami zog, zerstörte er alle Dörfer und Höfe. Teils wollte er eine etwaige Verfolgungsarmee von Nanking abhalten, teils feine eigenen Soldaten hindern, zu desertieren und umzukehren.
Kurz nach 11 Uhr wurde uns ein höchst ungewöhnlicher Anblick: ein Kraftwagen, der uns, von Staubwolken eingehüllt, entgegenkam. Er sollte uns den ersten Willkommensgruß aus An-hsi bringen. Sein Besitzer, der Balte Tamberg, sitzt selbst am Steuerrad. Er steht im Dienst der Oppenheimer Casing Co. und ist mit fünf Kraftwagen nach An-hsi gekommen, um Schafsdärme von Sinkiang zu holen. Der junge Missionarssohn Almblad von Kalgan steht in seinem Dienst. Ein dritter Mitfahrer ist der Deutsche Pauck. Er ist Leiter der Benzinlager der Fluggesellschaft »Eurasia« in An-hsi. Lo – ein Chinese – begrüßte uns im Auftrag des Bürgermeisters und des Kommandanten. Nach kurzer Unterhaltung geht es weiter. Es geht zwischen felsigen Höhen und Schwellen hindurch und über ebenen Wüstenboden, durch ein paar Dörfer, vorbei an Karawanen und Ochsenkarren nach Lung-wang-miao, das der Gottheit des Flusses Suloho geweiht ist. Um 4 Uhr haben wir das rechte Ufer des Suloho erreicht. Zwischen stachen unbewachsenen Ufern bildet der Fluß hier zwei Arme. Sie sind teilweise zugefroren und führen jetzt kaum ein Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Wir lassen die Lastwagen zurück und setzen mit der Limousine über. Auf schlechtem Weg fahren wir zu der mit Schießscharten versehenen Stadtmauer von An-Hsi. Am Westtor werden wir von Soldaten angehalten, die unsere Ankunft melden müssen, ehe wir einfahren dürfen.
Die Stadtmauer von An-hsi mit Sanddünen. Chen
Dann begaben wir uns zum Yamen des Bürgermeisters. Er empfing uns höflich und hatte fünf Zimmer für uns bereitstellen lassen. Während er sich mit Yew und mir unterhielt, kamen Pauck und Bökenkamp an. Unser Freund war in nur fünf Tagen von Hami nach An-hsi geritten.
An-hsi ist eine kleine, arme und elende Oase. Die Gesamtbevölkerung wurde auf 900 Familien veranschlagt, von denen 350 in der Stadt selbst wohnten. Außerdem liegt dort eine Garnison von 450 Soldaten. Es sind Tunganen, die unter dem Befehl Ma Pu-fangs in Sining stehen. Tun-hwang, dessen Garnison 50 Mann stark ist, soll wohlhabender sein als An-Hsi. Die Garnison lebt auf Kosten der Bauern, die keine Entschädigung erhalten. Sie sind daher desto ärmer und ausgesogener, je mehr Soldaten sie ernähren müssen. Nach einer andern Quelle hätte die Oase 6000 Einwohner und die Stadt 4000. In einem Land ohne Volkszählung ist es unmöglich, sich einen Begriff von der Größe der Bevölkerung zu machen. Ein Steuereinnehmer, den wir weiter östlich trafen, versicherte, daß der ganze Bezirk von An-hsi von 940 Familien bewohnt sei, daß in Yümen 960 und in Tun-hwang 2500 Familien wohnten. Chia-yü-kwan hat 100 Familien. Diese kleinen Oasenstädte besitzen gewöhnlich ein bis zwei Schulen.
Das Osttor von An-hsi. Yew
In An-hsi wurden wir mit einem Platzregen von Neuheiten und Gerüchten überschüttet. Die Europäer in der Stadt hatten gehört, daß wir vom »Großen Pferd« gefangen und nach Kaschgar geführt worden seien. Mehrere hundert Lastautos mit Soldaten waren auf der Fahrt von Sian nach Su-tschou, um Sinkiang zurückzuerobern. Dafür hatte man einen Flughafen in Su-tschou gebaut und 450 000 Liter Benzin dorthin gebracht. Die Zeit unserer Abenteuer war offensichtlich noch nicht zu Ende. Auf dem Weg nach Osten würden wir dieses Kriegsheer treffen, dessen Führer möglicherweise unsere Erfahrungen gebrauchen könnte. Vielleicht würde er uns zwingen, umzukehren und ihm als Führer zu dienen.
Wenn wir etwas früher durch Hsing-hsing-hsia gekommen wären, hätte es uns tatsächlich übel ergehen können. Achtzig Räuber hatten dort auf der Lauer gelegen. Ihr Spion in Hami hatte ihnen gemeldet, daß eine Karawane von siebzig Kamelen, mit Teppichen, andern Waren und Goldstaub von Chotan an einem bestimmten Tage Hami in der Richtung auf An-hsi verlassen würde. Als die Karawane in der engen Talschlucht beim »Engpaß der Sterne« (Hsing-hsing-hsia) angelangt war, hatte die Räuberbande angegriffen. Mehrere Kaufleute waren getötet und die Kamele mit ihrer kostbaren Last weggenommen worden. Die Überlebenden waren nach Hami geflohen. Von dort und von An-hsi aus waren Truppen zur Verfolgung der Verbrecher ausmarschiert. Sie hatten vier Räuber gefunden, die nach An-hsi gebracht wurden. Dort sollten sie an einem der nächsten Tage enthauptet werden. Der Rest der Bande war mit dem gestohlenen Gut nach dem Ma-tsung-schan geflohen. Militärpatrouillen setzten ihnen nach.
C. C. Kung
J. C. Yew
Pauck legte gerade den neuen Flugplatz an, der für den Luftverkehr Schanghai-Urumtschi-Berlin bestimmt war. Der Flugplatz maß in ostwestlicher Richtung 1000 Meter und in nordsüdlicher Richtung 800 Meter. 150 Arbeiter waren beim Bau beschäftigt. Flugzeuge, die im allgemeinen die Strecke von Su-tschou nach Hami in 2½ Stunden zurücklegen, sollten in Zukunft notfalls in An-hsi zwischenlanden können. Zur Zeit lag der Flugverkehr danieder.
Graf Bela Szechenyi erreichte 1883 An-hsi mit Loczy und Kreitner nach Durchquerung von China und Kansu. Man betrachtete seine Reise in der geographischen Welt mit Recht als Großtat. An-hsi war sein Schluß- und Wendepunkt. Oftmals habe ich mich in längst vergangenen Zeiten mit Szechenyi und Loczy über ihre schöne erfolgreiche Fahrt unterhalten. Nach mehr als fünfzig Jahren zog ich selbst in An-hsi ein. Ich hatte das Gefühl – wenn auch nicht gerade in der Heimat – so doch ihr ein gutes Stück näher gekommen zu sein.
Ein Lastwagen im Sand nördlich von Tun-Hwang. Chen
Von An-hsi aus machten wir eine schöne und ereignisreiche Autofahrt über Tun-hwang nach Westen. Wir fuhren durch den Peischan und die Gaschun-Gobi nach der Lop-nor-Senke. Diese weite Fahrt wurde uns durch die große Liebenswürdigkeit des Leiters der »Eurasia« ermöglicht. Er ließ uns jede gewünschte Menge Benzin und Motoröl aus dem unter Paucks Aufsicht stehenden Lager in An-hsi kaufen.
Es war uns schließlich gelungen, nach soviel Sorgen und so harten Prüfungen aus Sinkiang zu entschlüpfen. Wir kehrten aus eignem freien Willen in die Provinz zurück und hätten mit Leichtigkeit nochmals gefangengenommen werden können. Wäre das geschehen, so könnten wir wohl heute noch in irgendeinem dumpfen Gefängnis schmachten. Man hätte uns dann mit Recht der Spionage verdächtigen können.
Diese Fahrt durch das innerste unbekannte Asien hängt jedoch so eng mit dem Lop-nor-Problem zusammen, daß ich den Bericht hierüber in dem Buch »Der wandernde See« vorlegen werde.
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