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Am Nachmittag des 30. Juni saßen Yew und ich wie gewöhnlich in unserer Stube und schlugen die Zeit tot, indem wir Puff spielten. Da händigte mir ein Diener vom russischen Generalkonsulat einen Brief aus, dessen Adresse von Dr. Hummel geschrieben war. Der Brief war offensichtlich durch den russischen Kommandanten in Korla befördert worden.
Am 31. Mai hatte ich unsern Doktor zuletzt im Standlager am Kum-darja getroffen. Ich war an diesem Tag vom Lop-nor her angekommen und wollte sofort über Korla nach Urumtschi weiterreisen. Durch Zufall kam gerade auch Hummel in diesem Lager an. Seit Anfang April hatte er mit seinen Dienern den Kontsche- und Kum-darja auf Kanus befahren und Tiere und Pflanzen an den Ufern gesammelt. Er hatte eine kleine Tierschau an Bord zusammengebracht, in der auch drei Frischlinge waren. Einer von diesen hatte ihn vor mehreren Wochen in die rechte Hand gebissen. Zunächst kümmerte er sich nicht um die Wunde, aber nach einiger Zeit schwoll der Arm an, Fieber und Kräfteverfall traten ein. Es lag eine ernsthafte Blutvergiftung vor. Hummel sah ein, daß eine Operation dringend notwendig war. Mit zusammengebissenen Zähnen führte er selbst den Eingriff mit der linken Hand aus. Daraufhin fühlte er sich etwas besser, blieb jedoch noch ein paar Wochen lang bettlägerig. Bei unserer letzten Begegnung ging er schon wieder seiner gewohnten Beschäftigung nach. Er selbst versicherte, daß alle Gefahr vorüber sei. Das beste wäre natürlich gewesen, wenn er sich mir und Yew angeschlossen hätte, als wir am gleichen Abend in der Limousine nach Korla und Urumtschi aufbrachen.
Mit wachsender Unruhe las ich seinen Brief. Die Blutvergiftung hatte sich verschlimmert, das Fieber wollte nicht nachlassen. Er war der Meinung, in der Sommerhitze nicht am Fluß bleiben zu dürfen. So wollte er auf einer von Pferden getragenen Bahre über Singer nach Toksun reisen, wo ihn ein Kraftwagen abholen sollte. Der Brief war am 10. Juni geschrieben, der Aufbruch sollte am 11. Juni stattfinden. Sein Zustand mußte sehr ernst sein. Er hielt es für notwendig, entweder nach Peking zu fliegen oder mit Kraftwagen und Eisenbahn nach Hause zu eilen, um sich einer Operation zu unterziehen.
Hummel war am 11. aufgebrochen, und jetzt hatten wir den 30. Er hätte längst in Urumtschi sein müssen. Zweifellos hatte sich sein Zustand unterwegs verschlimmert, sicher war schnelle Hilfe vonnöten. Vielleicht war er gar schon tot.
Den Inhalt des Briefes übersetzte ich in Eile für Yew. Dann fuhren wir auch schon zum russischen Generalkonsulat. Der Konsul lag krank zu Bett, die übrigen Herren waren ausgefahren. Sie mußten jedoch in etwa einer Stunde zurückkommen. Wir standen in der Allee und wollten warten. Ein kleiner, kräftig gebauter Mann in weißer Sommerkleidung ging an uns vorbei. Ich hatte ihn bisher noch nie gesehen. Wir grüßten. Er stellte sich als Konsulatsarzt Dr. Saposchnikoff vor. Ich wäre ihm beinahe um den Hals gefallen, denn er kam uns wie vom Himmel gesandt. Dr. Saposchnikoff war gerade bei Apresoff gewesen, der an Kopfschmerzen litt. Der Doktor begleitete uns zu dem Haus des Vizekonsuls Koroloff. Es lag ebenfalls im Konsulatsgebiet. Koroloff war ein liebenswürdiger Herr, dessen hübsche und sympathische Frau uns empfing. Sie war eine geborene Französin. Ich übersetzte für Koroloff Satz für Satz Hummels Brief. Saposchnikoff betrachtete den Fall mit wohltuendem Optimismus. Allerdings fänden sich Anzeichen eines zweiten Infektionsherds, der den Fall möglicherweise verschlimmern könnte. Er bedauerte, selbst gerade so viele Patienten zu haben. Auch sei er in seiner Klinik und den Krankenhäusern zu sehr in Anspruch genommen. So könne er leider nicht verreisen, um Hummel zu Hilfe zu kommen. Letzterer mußte über Kuruk-tagh nach Urumtschi etwa 560 Kilometer zurücklegen. Das ist mit einem Kraftwagen eine Kleinigkeit, aber eine unheimliche Entfernung für einen Kranken ohne Auto.
Mit rührender Energie und Schnelligkeit setzte Koroloff das Telephon in Bewegung. Zuerst rief er Chen Teh-li an und verlangte mit größter Bestimmtheit die unverzügliche Bereitstellung von Benzin und einem entsprechenden Vorrat an Öl. Im gleichen Ton befahl er Ivanow in der Garage, augenblicklich Serat alle notwendige Unterstützung bei der Ausbesserung der Limousine angedeihen zu lassen. Alles sollte am folgenden Morgen, Sonntag, dem 1. Juli, fertig sein. Soweit war alles gut und schön. Aber schon am gleichen Abend begannen die örtlichen Behörden ihr kleinliches Ränkespiel. Wang von der Auswärtigen Abteilung kam zu uns mit Grüßen vom Generalgouverneur. Er teilte uns mit, daß wir Urumtschi ohne besonderen Paß nicht verlassen dürften.
»Nun, warum schickt er dann den Paß nicht – es gilt die Rettung eines Menschenlebens!«
»Morgen vormittag um 10 Uhr werden Sie erfahren, ob Sie überhaupt einen Paß bekommen können. Ist dies der Fall, wird auch das Benzin geschickt.«
Am Sonntag waren wir schon beizeiten angekleidet. Man hörte weder etwas vom Paß noch vom Benzin. Ich schrieb einen Brief an Apresoff. Antwort: er sei nicht zu Hause. Die Stunden vergingen. Serat kam mit der Limousine aus der Garage. Der Wagen war ausgebessert und hatte Benzin getankt. Nun fehlte uns nur noch der Paß, um zu unserer Rettungsfahrt aufbrechen zu können. Wir kannten Hummels Reiseweg und mußten ihn treffen – je früher, desto bester. Am frühen Nachmittag erschien Wang, der geschickte Regisseur dieses Ränkespiels. Halb geheimnisvoll sagte er:
»Wenn Sie zwei Ihrer Lastautos an Sheng Tupan verkaufen, dann können Sie von ihm alles bekommen, was Sie wollen.«
»Darüber können wir sprechen, wenn die Wagen nach Urumtschi kommen. Jetzt handelt es sich um den Paß zur Rettung Dr. Hummels.«
»Der Paß wird morgen vormittag um 10 Uhr hier sein.«
»Sie wissen ja, daß es sich um die Rettung eines Menschenlebens handelt. Wozu wollen Sie uns noch einen Tag stehlen?«
Er erhob sich lächelnd, verneigte sich und ging.
In diesem Augenblick tauchte ein Italiener auf, und zwar Dr. Orlandini, den wir Anfang November 1933 in Kwei-hwa kennengelernt hatten. Er war damals auf einem Jagdausflug im Gebirge. Nun war er in Urumtschi angelangt in Gesellschaft des osmanischen Ratgebers des »Großen Pferdes«, Kemal Effendi, den wir vor vier Monaten in Turfan getroffen hatten. Kemal hatte nach der entscheidenden Niederlage das »Große Pferd« verlassen und Sheng Tupan in Urumtschi seine Dienste angeboten.
Wir saßen wie auf Kohlen und hatten weder Lust noch Ruhe, Orlandinis abenteuerlichen Erzählungen zuzuhören. Es wurde Abend. Wir mußten also doch bis zum nächsten Morgen auf den Paß warten.
Die Nacht verging. Wir standen um 7 Uhr auf. Es wurde 10 Uhr, aber von einem Paß sah und hörte man nichts. Sicherlich würde Wang nachmittags erscheinen und den Paß für Dienstag versprechen. Dann würde er dies Spiel Tag für Tag fortsetzen, bis unsere Geduld erschöpft wäre, bis wir es ganz aufgeben würden. Diese Ermüdungsmethode führt immer zum Ziel – wenn es nicht gelingt, Unterstützung von anderer Seite zu erhalten. In Urumtschi gab es, wie wir schon gehört hatten, nur einen mächtigeren Mann als Sheng Tupan, nämlich Apresoff. Yew und ich eilten also um 11 Uhr zu ihm. Apresoff hatte Besuch. Wir warteten auf der kleinen Veranda. Plötzlich öffnete sich die Tür. Gefolgt von einem Konsulatssekretär trat ein hochgewachsener Mann mit wohlbekannten Zügen heraus – Kemal Effendi. Er ging jedoch gebeugten Hauptes, sah ernst und bekümmert aus und bemerkte uns nicht. Er hatte augenscheinlich keine erfreulichen Nachrichten vom Generalkonsul gehört.
Nun kamen wir an die Reihe. Wir wurden in das Arbeitszimmer geführt, wo Apresoff an seinem Schreibtisch saß. Voller Humor und guter Laune spielte er jetzt mit Meisterschaft eine kleine Theaterrolle. Mit einem Ausdruck äußerster Verwunderung erhob er sich und rief aus:
»Was ist denn los? Sind Sie noch nicht abgereist! Ihr Arzt ist doch krank und braucht schnelle Hilfe. Sie sitzen hier und verlieren Ihre Zeit! Ich werde eine Beschwerde an Ihre schwedische Regierung schicken. Sie haben Benzin und Öl bekommen, Ihr Auto ist in Ordnung, und trotzdem reisen Sie nicht ab; das ist doch unerhört!«
»Ja, Sie haben vollständig recht! Das Kommissariat der Auswärtigen Abteilung hat uns jedoch durch Wang wissen lassen, daß wir kein Recht haben, die Stadt ohne einen Paß von Sheng Tupan zu verlassen. Trotz dauernder Erinnerungen von unserer Seite und erneuten Versprechungen kommt dieser Paß nicht.«
»Oho, die Sache werde ich im Handumdrehen aufklären!«
Damit telephonierte er den kleinen, höflichen und so wenig worthaltenden Außenminister Chen Teh-li an und sagte zu ihm im Kommandoton wie zu einem Untergebenen:
»Dr. Hedin ist hier und steht fertig zum Aufbruch. Ich höre, daß er bis zur Ausfertigung eines besonderen Passes zurückgehalten wird. In diesem Fall ist kein Paß nötig. Ich muß bitten, daß Sie unverzüglich telephonisch ihm durch mich die Genehmigung zum Aufbruch erteilen. – Er hat also volle Freiheit!« –
Chen Teh-li hatte zu allem ja gesagt. Darüber hinaus erwies uns Apresoff eine Freundlichkeit, die ich nie vergessen werde. Er rief plötzlich aus:
»Warum nehmen Sie Saposchnikoff nicht mit? Er ist Chirurg und kann von Nutzen sein, wenn sofort ein Eingriff gemacht werden muß!«
»Wie meinen Sie das? Er ist ja von seinen Patienten in Anspruch genommen?«
»Ich gebe ihm Urlaub für die Zeit, die Sie brauchen. Seine Frau ist Ärztin und kann ihn während seiner Abwesenheit vertreten. Gehen Sie zu ihm und bitten Sie ihn, sich sogleich fertigzumachen!«
Ich hätte den Generalkonsul umarmen können. Niemand hätte mir im Augenblick einen größeren Dienst erweisen können. Mit einigen Worten unterrichtete ich Yew von der neuen Lage. Ohne sich zu besinnen, schlug da Yew vor, seinen Platz im Auto an den russischen Arzt abzutreten, da er wußte, daß der vorhandene Raum für Proviant und Schlafsäcke gebraucht wurde.
Nachdem wir uns bei Apresoff herzlich bedankt hatten, eilten wir zu Dr. Saposchnikoffs nahe gelegenem Krankenhaus. Sein Wartezimmer war voller Patienten. Ich übermittelte ihm des Generalkonsuls Beschluß, der große Freude bei ihm auslöste. Er war niemals in der Gegend südlich von Urumtschi gewesen. In einer Stunde würde er fertig sein. Inzwischen fuhren wir zurück, packten meine Sachen und aßen zu Mittag. Darauf nahm ich Abschied von Yew und holte den Doktor ab. Er war mit einem leichten Bett, einer Decke und einem Kissen ausgerüstet. In einer Tasche begleiteten uns die chirurgischen Instrumente, die Injektionsspritze, Medikamente und ein gewaltiges Paket Zigaretten.
Nach einer Stunde erreichten wir einen kleinen Flußarm. Dort hielten ein halbes Dutzend Araben. Die Pferde und Maultiere waren ausgespannt und fraßen gemächlich aus ihren Mais- und Kornsäcken. Drei katholische Missionare in schwarzen und grauen chinesischen Gewändern kamen an unsern Wagen und begrüßten uns; es waren Pater Moritz, Pater Möller und Pater van Oirschat. Pater Moritz war früher in Su-tschou gewesen und hatte dort mehreren Expeditionsmitgliedern große Dienste geleistet. Es war mir eine große Freude, ihm dafür jetzt – wenn auch in aller Eile – danken zu können. Eine Weile später trafen wir eine russische Droschke, in der der neue Bischof der Sinkiangmission, Loy, zusammen mit Pater Allroggen fuhr. Es hatte gerade eine Personalveränderung in der Kongregation Societas Verbi Divini stattgefunden.
Park in Urumtschi. Ambolt
Nun ging es weiter durch Hügelland auf dem langen Wüsten- und Steppenweg, wobei wir zur Linken den Bogdo-ola hatten. In unendlicher Schönheit, mit glänzenden weißen Feldern ewigen Schnees und blau schimmernden Gletscherzungen erhob Gottes Berg seinen dreiköpfigen Gipfel in königlichem Stolz über das innerste Asien. Im Dorfe Dawancheng lagerten wir Benzin für den Rückweg ein. Auf dem Hof einer armseligen, zerstörten Karawanserei verbrachten wir die Nacht. Der Lagerplatz trug die Nummer 100. Wir suchten Schutz hinter einer Lehmmauer. Es wehte ein starker Wind, und der Staub wirbelte um uns. Nach einem einfachen Abendessen wickelten wir uns in die Decken und legten uns auf die Erde zum Schlafen nieder.
Am 3. Juni wurde Serat kurz nach 4 Uhr von Dr. Saposchnikoff geweckt. Er meinte, daß wir genug Staub in die Lungen bekommen hätten. Auf wohlbekanntem Weg fuhren wir nach Toksun und steuerten durch den engen Basar zum Hof des Bürgermeisters. Kasim Bek war ein offener und aufgeweckter Jüngling, der uns gastfrei im Schatten von Akazien- und Maulbeerbäumen empfing. Wir setzten uns an einem Tisch nieder. Während die Teeschalen aufgetragen wurden, fragte ich angstvoll, ob Kafim Bek eine Nachricht über einen kranken schwedischen Doktor erhalten hätte. Nein, er hatte nichts gehört! Herrlich! So gab es also noch Hoffnung, daß Hummel lebte. Eine Todesbotschaft hätte die Wüste bereits durcheilt.
Es war ¾8 Uhr. In dem üppigen Laubwerk rauschten bereits heiße Morgenwinde. Wir hatten noch keine Zeit gehabt, von dem angebotenen Tee zu kosten, als ein Diener eine europäische Besuchskarte vor Kafim Bek auf den Tisch legte. Ich nahm sie auf und las: Folke Bergman! Ich glaubte zu träumen; eilig wandte ich mich um. Gerade öffnete sich die Gartentür. Da kam er herein – aufrecht, ruhig und lächelnd wie gewöhnlich! Ich eilte ihm entgegen.
»Ich fühle mich wie im Himmel!« meinte er.
»Lebt Hummel?«
»Ja, gewiß lebt er. Wenigstens lebte er vorgestern noch, als ich ihn zum letztenmal sah. Er befand sich sichtlich auf dem Weg der Besserung.«
»Gott sei Dank! – Wo ist er?«
»In Kirgis-tam, etwa 4,5 Kilometer südöstlich von Kumusch.«
»Da können wir ihn also baldigst treffen?«
»Seine Tiere sind erschöpft, und es gibt weder Weide noch Kraftfutter. Vom Standlager am Kum-darja wurde er nach Singer in Kuruk-tagh auf einem Lastautomobil gebracht. Georg hatte für diese Fahrt die letzten Tropfen Motoröl herausgepreßt. In Singer, wo die Luft kühler war, blieb er ein paar Wochen, um seine Kräfte zu stärken. Seitdem ist es Schritt für Schritt durch glühend heißes Wüstengebirge gegangen.«
Alles Elend, alle Scherereien und alles Harren, die unfehlbar mit Reisen in Innerasien verknüpft sind, werden reichlich durch die unvergeßlichen Augenblicke aufgewogen, die uns hier und da auf unsern Fahrten beschieden sind. Auch Bergman wird unser gemeinsames Frühstück im Garten bei Kasim Bek nicht so bald vergessen, zumal wir ihm sagen konnten, daß in seinem Heim in Stockholm alles gut stand.
Kasim Bek befahl, drei gute Pferde und genügend Kraftfutter bereitzustellen, mit denen sich der junge Kosak Konstantin zu Hummels Karawane in Kumusch begeben sollte. Konstantin hatte bei der Flußfahrt unter Hummel gedient, war aber jetzt mit Bergman nach Toksun gekommen. Wir mußten uns jedoch beeilen, nahmen um 10 Uhr Abschied von Bergman und Kasim Bek und fuhren das Tal des Su-baschi hinauf. Mit Bergen zu beiden Seiten ging es in der Talsohle bergauf durch feinen, heimtückischen Sand und durch den kleinen vielgewundenen Bach. Um 11 Uhr saßen wir fest. Zwei Araben kamen gerade vom Paß herunter. Gegen gutes Entgelt konnten wir uns ein paar Pferde leihen, die uns loszogen. Es dauerte aber nicht lange, bis wir wieder steckenblieben, diesmal mitten im Bach. Wir machten verzweifelte Versuche, aber nichts half. Stundenlang saßen wir da und hielten Rat. Sollten wir nach dem Dorf zurückkehren, dort Pferde mieten und nach Kumusch reiten? Saposchnikoff baute indes einen kleinen Steindamm, der das Wasser des Baches ableitete und neben dem Auto abfließen ließ. Nun gelang es, den Wagen loszubekommen. Weiter oben im Tal versickert der Bach. Sand und Geröll liegen vollständig trocken. Es wird dunkel. Wir passieren den klaren Wasserstrahl, der aus der Felswand zur Linken hervorbricht. Nun sind wir am Fuß des Felskegels angelangt, der das Tal absperrt. Bei zunehmender Dunkelheit nehmen wir den ersten Steilhang. Es ist undenkbar, den Wagen in diesem Berggelände aufs Spiel zu setzen. Das Licht der Scheinwerfer reicht nicht aus. Am besten ist es, die Morgendämmerung abzuwarten.
Wir machen bei der Nische mit der Gedenktafel halt. Große Steine werden hinter die Räder gelegt, um ein Zurückrollen des Wagens zu verhindern. Wir setzten uns, plauderten und rauchten bis 9 Uhr und legten uns dann im Geröll nieder. Um ½5 Uhr wurden wir durch einen leichten Regen geweckt, der bald stärker wurde. Bei Tagesanbruch unternahmen wir einen Spaziergang auf den Bergkegel. An einer Stelle, wo der Durchgang nur einige zwanzig Meter breit ist, liegt zwischen gigantischen Blöcken eine Querschwelle aus hartem Fels. Es war eine hohe Stufe, die aus Sand und Wasser emporsteigt. Hier gab es keine Möglichkeit, ein Automobil hinaufzubringen. Der Regen nahm zu, und wir kehrten zum Auto zurück, um ein Dach über den Kopf zu bekommen. Als der Regen aufgehört hatte, gingen wir wieder zu der Schwelle. Serat bugsierte mit äußerster Vorsicht den Wagen dort hinauf. Auf der linken Talseite entdeckte er eine Platte, über die man den Wagen vielleicht hinaufziehen konnte. Während wir versuchten, den Weg zu verbessern, kam eine Araba vom Paß herunter. Unmittelbar oberhalb der schwierigen Schwelle wurden ihre Pferde ausgespannt, ein Stück talab geführt und angepflockt. Die sieben Mann von der Araba wandten, drehten und hoben das Gefährt über und durch die Blöcke. Es ging wirklich.
Ich sprach mit dem Besitzer Abdul Semi und versprach ihm eine ansehnliche Summe, falls er uns die Araba, die Pferde und ein paar Leute vermieten würde, um uns nach Kumusch zu bringen. Das war jedoch unmöglich, denn er hatte nicht genug Mais für die Pferde bei sich. Hingegen würden seine Leute gern behilflich sein, eine Steinbrücke über die schwierige Stelle zu bauen. Sie machten sich ans Werk. Es erwies sich aber bald, daß es erfolglos sein würde. Mitten auf der Fahrbahn standen scharfe Spitzen. Man hätte den ganzen Weg aufschütten müssen, um sie zu bedecken. Dazu kam, daß das ewige Manövrieren in dem scheußlichen Gelände unsern Benzinvorrat so verringert hatte, daß uns nur noch etwa 41 Liter übrigblieben. Wir beschlossen, zunächst nichts weiter zu unternehmen, und kehrten zur Quelle zurück. Hier bereitete Abdul Semi eine Decke auf dem Sand aus und tischte kaltes Hammelfleisch, Brot und Tee auf. Wir steuerten Zucker, russische Kuchen und Zigaretten bei. Abdul Semi war vor einigen Monaten in den Kämpfen in Kaschgar verwundet und dann in dem Krankenhaus der schwedischen Missionare gepflegt worden. Mit warmen Worten schilderte er die gute Behandlung und die Pflege, die er dort genossen hatte.
So plauderten wir und erörterten die Lage, die sich durch die »wunderbare« Beschaffenheit des Weges ergeben hatte. Man fragte sich, wie es möglich ist, daß man sich jahraus, jahrein mit einer solchen Fahrstraße abfindet. Es wäre ja leicht, durch Sprengungen und ein wenig Zement einen ausgezeichneten Weg durch das Tal zu schaffen. Es handelt sich nur um einige hundert Meter. Man kann ja, wenn ausreichende Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die eigentliche Fahrbahn mit Sand und feinerem Geröll ausfüllen. So war die Talstraße bei Arghai-bulak gewesen, als wir sie Anfang Februar und Anfang Juni befuhren. Seitdem hatten aber heftige Regengüsse alles feinere Material weggespült. Nur die ganz schweren und die mittelgroßen Blöcke waren liegengeblieben. In Friedenszeiten wird aller Handel und Verkehr durch einen solchen Weg erschwert. Im Krieg kann er den Nachschub lahmlegen und verhängnisvolle Folgen haben. Hätte der Generalgouverneur Chin Shu-jen das Geld, das er dem Volk abpreßte, für den Straßenbau verwandt, so hätte er wenigstens etwas Nützliches getan. Er dachte jedoch nur an sich selbst.
Gegen 3 Uhr kam ein kleiner, blau ausgeschlagener Pekingkarren herauf, der von drei Pferden gezogen wurde. In ihm fuhr eine türkische Frau mit ihrer zwölfjährigen Tochter. Es waren Verwandte von Abdul Semi. Er teilte der Frau eine Trauerbotschaft mit. Sie begann heftig zu weinen, und das Echo ihrer Klagen hallte im Tal wider. Sodann tauschten sie Fahrzeuge aus. Sie fuhr in seiner Araba talauf und er mit ihrem Pekingkarren talab. Er versprach, uns von Toksun Brennmaterial und einen Hammel zu schicken, wofür wir ihm Geld gaben. Wir haben jedoch nie wieder etwas von den bestellten Sachen gehört.
Im Lauf des Tages sammelten sich noch andere Reisende bei Arghai-bulak, um von dem herrlichen Quellwasser zu trinken. Darunter waren drei Kaufleute aus Turfan, die sich auf dem Wege nach Aksu befanden. Einer versprach mir, einen Brief von mir an Dr. Hummel zu bestellen. Am Nachmittag wurde es stiller. Die einen zogen bergauf, die andern bergab. Etwa zehn Personen waren noch übriggeblieben. Sie tranken Tee, saßen plaudernd herum oder tränkten ihre Pferde. Das Bild hatte jedoch seine bunte Lebendigkeit verloren. Ruhe und Stille senkten sich über das enge Tal. Das Echo zwischen den steil abfallenden Felswänden war verstummt. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
Der Himmel verfinsterte sich schnell, blaugraue Wolken zogen dicht über den Bergen hin, und es wurde dunkel wie zur Abenddämmerung. Jetzt hörte man den Donner grollen und immer näher kommen, und das Echo ließ seine mächtige Stimme ertönen. Es krachte wie beim schlimmsten Trommelfeuer an einer Kriegsfront. Das gellte und lärmte, als ob der ganze Gebirgskamm in die Tiefe stürzte. Die Finsternis wurde jede zweite Sekunde durch flammende Blitze zerrissen. Das Unwetter nahm zu, und man hatte das Gefühl, daß eine fürchterliche Naturkatastrophe bevorstehen müsse. Nun fielen groß und schwer die ersten Regentropfen. Talaufwärts hörten wir das Brausen eines wirklichen Wolkenbruchs. Wir begaben uns alle drei in das Auto. Die Wanderer, die eben noch so friedlich geruht hatten, rollten Sack und Pack zusammen. Sie drängten sich an die Felswand, die unmittelbar über der Quelle beinahe senkrecht abfällt. Fünf Minuten nach 4 Uhr brach das Unwetter ernstlich los. Der Wolkenbruch hatte uns erreicht. Es goß, schüttete, flutete in Strömen, und Hagelkörner in der Größe von Haselnüssen sprangen in dem Geröll der Talsohle herum. Das Trommelfeuer richtete seine Geschosse auf unser Wagendach. Wir warteten nur auf den Augenblick, da es eingedrückt werden würde. Die türkischen Reisenden preßten sich an einer Stelle an die Felswand, wo diese etwas überhing und Schutz gegen den Hagel bot. Das Regenwasser lief jedoch an der Wand herab, und die armen Leute hatten sicher keinen trockenen Faden mehr am Leib. Das kleine Gasthaus, das früher hier gestanden hatte, war während des Krieges zerstört worden. Die Pferde ließen die Köpfe hängen, und das Wasser troff von ihren Decken. Die Tiere waren unruhig und zuckten nervös unter den Peitschenhieben des Hagels.
Unser Auto war nur einige Meter von der senkrechten Felswand entfernt. Ich bedachte die Gefahr, die uns hier bedrohte. Jeden Augenblick konnte sich oben ein Block lösen, herunterstürzen und uns zerschmettern. Längs der Wand begann sich ein Bach zu bilden, der schnell anwuchs und gelb wie Erbssuppe aussah. Er hatte bereits unser linkes Vorderrad erreicht. Serat begriff die Gefahr und fuhr rückwärts nach der etwas höher gelegenen Mitte des Talbodens. Hier fühlten wir uns sicherer. Aber auch auf der rechten Seite wälzte sich ein Bach heran. Wir befanden uns wie auf einer breiten Insel zwischen den Wassern. Der rechte Arm wächst ebenfalls schnell. Jetzt aber schießt ein brausender Fluß quer über die Insel! Er steuert gerade auf den Wagen zu. Er wächst mit erschreckender Geschwindigkeit, vereinigt sich binnen einer halben Minute mit den beiden andern. Nun bilden sie einen einzigen donnernden, brausenden Strom, der das ganze Tal erfüllt. Überall stürzen kreideweiße Wasserfälle aus den Felsspalten herab. Das Getöse ist unbeschreiblich. Es übertönt unsere Stimmen. Regen und Hagel knattern auf das Wagendach und die schäumende wogende Flut herab.
Dr. Saposchnikoff erkennt die drohende Gefahr. Die reißende, wilde Flut steigt mit jeder Minute. Das Wasser hat die Trittbretter erreicht und dringt in den Wagen. Noch ein paar Minuten, und wir sind verloren. Wir werden ersäuft wie Katzen! Wenn es uns aber gelingt, einen Felsblock im Flußbett zu erklimmen, so ist das Auto der Vernichtung preisgegeben. Das Tal ist kaum dreißig Meter breit. Wenn der Wolkenbruch andauert, steigt die Sturzflut ein paar Meter hoch, und unser Schicksal ist besiegelt!
Noch gibt es eine Rettungsmöglichkeit. Das Geröll liegt dicht gepackt im Flußbett. Der Motor befindet sich gerade noch über dem Wasser. Serat eilt hinaus, wirft einen Blick über das Gelände, findet auf dem oberen Teil der Geröllbank einen Durchlaß, wo das Wasser nicht tief ist. Pudelnaß setzt er sich wieder an das Steuerrad und gibt Vollgas zur Rückwärtsfahrt. Der Motor surrt, aber der Wagen rührt sich nicht. Kann er ihn nicht bezwingen, so müssen wir entweder auf das Dach klettern oder zu einer Uferbank oder einem Felsblock waten. Aber halt! Der Wagen bewegt sich! Durch Schlagwellen, die ein gelber Schaum krönt, arbeitet sich das Auto tapfer bergauf und befindet sich bald in niedrigem Wasser. Zur Linken, wo eine Felsplatte in das Tal hineinragt, liegt die Ruine einer alten Herberge. Man sieht Pferdekadaver und Kleidungs- und Uniformfetzen. Noch eine Kraftanstrengung, und Serat bringt den Wagen auf die linke Uferterrasse, die sich ungefähr ein Meter über die Wasserfläche erhebt. Der Regen hat etwas nachgelassen, aber noch immer stürzen Kaskaden aus allen Klüften herab. Über den Felskegel bei der Gedächtnisnische, wo wir die vorige Nacht verbrachten, flutet ein großartiger Wasserfall. Wenn das Unwetter uns in jener Nacht überrascht hätte, wäre unsere Lage nahezu hoffnungslos gewesen. Von überallher laufen die Seitentäler nach dem Haupttal bei Arghai-bulak zusammen. Jedes speist die Sturzflut, die in der schmalen Ablaufrinne auf das schnellste steigt. Dank der Aufmerksamkeit des russischen Arztes und der Geschicklichkeit Serats waren wir jedoch nun gerettet und konnten in Ruhe das eindrucksvolle Schauspiel betrachten.
Gegen 6 Uhr hörte der Regen auf, die letzten Wasserfälle verrannen und die gelbe Flut sank schnell. Nach einer Stunde war kein fließendes Wasser mehr im Tal zu sehen. Wir fuhren in die Mitte des Flußbetts hinab, setzten uns nieder, plauderten und nahmen eine ganz einfache Mahlzeit ein. Wir hatten kein Brennmaterial und konnten infolgedessen keinen Tee bereiten. Bei Einbruch der Dunkelheit nahmen wir im Wagen Platz, weil der Regen wieder einsetzte. Und wieder entrollte sich um uns her ein furchtbares Schauspiel. Blauweiße Blitze flammten ohne Unterlaß über den Bergen auf. Heftige Stoßwinde tosten in den Bergen und umheulten das Auto. Dicke Wolken lagen wie Matratzen über den Bergkämmen. Wir hielten uns bereit, zu den Pferdekadavern zurückzukehren. Diesmal wurde der Regen jedoch nicht gefährlich. Um Mitternacht stockte unsere Unterhaltung. Wir machten es uns in den Wagenpolstern bequem und schliefen. Wir waren Zeugen eines Schauspiels gewesen, das vor uns vielleicht noch kein Europäer in diesem Teil Asiens erlebt hat. Starke Regengüsse sind hier ja ziemlich selten. Ebenso selten richtet man seine Reise so ein, daß man die Nacht an einem Ort verbringt, wo es weder Weide noch Brennmaterial, sondern nur Wasser gibt.
Als wir am nächsten Morgen erwachten, schaute die Sonne über die Berge und trocknete die Nässe. Mein Stock und Mantel dienten zur Herstellung eines Schattendaches. Während wir uns an der Quelle wuschen und rasterten, kamen Konstantin und der Türke Haidin mit drei Pferden, die mit Futter für Hummels Karawane beladen waren. Sie hatten etwas Brennholz bei sich, so daß wir endlich Tee bekamen. Einige Kaufleute hatten am Abend zuvor Hummel etwa 55 Kilometer entfernt in Kumusch getroffen. Da er infolge seiner Krankheit sehr langsam reiste, konnte er nicht vor dem 6. Juli in Arghai-bulak sein; also noch ein Wartetag!
Nachdem Konstantin und Haidin sich eine Weile ausgeruht hatten, mußten sie die Reise nach Kumusch fortsetzen. Sie nahmen einen Teil unseres Proviants und einen Brief an Hummel mit.
Das war wirklich eine entzückende Vergnügungsreise, zu der ich Dr. Saposchnikoff eingeladen hatte. Er bekam nichts Ordentliches zu essen. Selten gab es warmen Tee, niemals ein Lagerfeuer, und die Nachtquartiere waren alles andere als einladend. In der Nacht zum 6. Juli regnete es ununterbrochen, zwar nicht so gewaltsam wie zuvor, dafür aber dicht und gleichmäßig. Die ganze Nacht mußten wir sitzend im Auto zubringen. Im Sitzen zu schlafen, bedeutet keine wirkliche Ruhe. Aus reiner Müdigkeit hockte ich noch um 10 Uhr schlummernd im Wagen, als ein alter Bekannter, der reiche Kaufmann Mosul Bai aus Turfan, herzutrat und mich weckte. Er berichtete, daß Hummel in nächster Nähe sei. Ich sprang auf und eilte, schlaftrunken und ungewaschen, dem Paß zu. Ich hakte kaum einige Meter zurückgelegt, als ich zwei Reiter erblickte, die auf mich zuritten. Der vordere, ein Türke, führte das Pferd des andern. Dieser andere war braun wie ein Hindu und rief in reinstem Schwedisch:
»Guten Morgen, was hat das Frühaufstehen für einen Zweck, leg' dich wieder schlafen!«
Es war mein lieber Doktor, der nun gebührend umarmt und begrüßt wurde. Er lebte nicht nur, sondern sah ziemlich wohl aus, wenn auch noch mager und müde nach der Krankheit und der anstrengenden Reise. Dr. Saposchnikoff und Serak kamen herbei, wir breiteten Decken und Kissen am Fuß des Felsens aus und richteten ein bequemes Bett für den Kranken her. Einige Zeit darauf kam Hummels aus drei Pferden und fünf Eseln bestehende kleine Karawane an. Sie beförderte sein Gepäck, darunter die Trümmer der Bahre, die uns trefflich zustatten kamen, um Feuer zu machen und Tee zu kochen. Schließlich fand sich auch Konstantin ein, der vergebens nach Kumusch geritten war. Er hatte einen Abkürzungsweg gewählt und Hummel daher nicht getroffen. Nun waren wir alle versammelt und wollten einige Stunden rasten. Vom Felskegel her hörten wir Motorgeräusch und widerhallende Rufe. Es waren zwei Lastautos der Urumtschiregierung, die von Aksu zurückkamen. Bei der Schwelle, die uns zum Halten und Warten gezwungen hatte, war die Hinterachse des einen Wagens gebrochen. Er mußte als Wrack liegenbleiben. Dann hatte man den Weg etwas ausgebessert, so daß der andere das Hindernis nehmen konnte. Er war übel zugerichtet, aber noch brauchbar. Er mußte die gesamte Ladung des verunglückten Wagens und im ganzen zwanzig Passagiere aufnehmen, unter ihnen Mosul Bai. Man erzählte, daß die Urumtschiregierung achtzig Lastautos von Rußland gekauft habe, von denen fünfzehn bereits unbrauchbar seien.
Es ist verwunderlich, daß man teure Wagen anschafft, bevor man die Straßen irgendwie befahrbar gemacht hat. Unser Auftrag war ja gerade, der Nankingregierung Vorschläge für die Verbesserung der Straßen zu unterbreiten. Bei diesem, für alle so wichtigen Unternehmen fanden wir jedoch keine Unterstützung bei den Behörden von Sinkiang. Man bereitete uns alle erdenklichen Schwierigkeiten und verweigerte uns die Erlaubnis, die Straßen innerhalb Sinkiangs zu prüfen.
Die Limousine in dem Bach bei Dawancheng. Dr. Saposchnikoff
Am Nachmittag fuhren wir nach Toksun und lagerten um 9 Uhr in der Wüste. Am 7. Juli hatten wir eine ereignisreiche Fahrt über den Paß bei Dawancheng und blieben im Fluß am jenseitigen Ufer stecken. Eine kleine türkische Karawane, die gerade vorbeikam, mußte uns gegen Entgelt herausziehen. Nach 5 Uhr waren wir auf der langen Strecke, die rechts vom Bogdo-ola und links vom Salzsee begrenzt wird. Es dämmert. Die Scheinwerfer werden angestellt. Wir fahren in das Hügelland hinein und haben nur noch vier Kilometer bis zum Südtor von Urumtschi zurückzulegen. Da sitzen wir im zähen Schlick einer gar nicht tiefen Furche fest. Es fängt an zu regnen. Serat macht verzweifelte Versuche. Unmöglich! Wir hoffen, daß früher oder später eine Pferdekarawane vorüberkommen und uns heraushelfen wird. Es ist jedoch zu spät. Die Stadttore werden bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen. Serat nimmt den Spaten und sticht den Schlick von den Rädern ab. Das Auto läßt sich aber auch dann nicht bewegen. Es ist zu tief eingesunken. Wir schließen wegen des Regens die Fenster und entzünden die letzten Kerzenstumpfe. Dann aßen wir die letzten Lebensmittel: Keks, Käse, Schokolade und eine Melone. Leider war es unmöglich, in diesem von Kadavern, Schmutz und Fäulnis aller Art verpesteten Gelände in pechschwarzer Finsternis trinkbares Wasser zu finden. Wir saßen ein jeder in seiner Ecke und plauderten. Wir boten wirklich unserm Rekonvaleszenten einen schlechten Empfang. Wie dem nun auch war – wir wurden schläfrig. Einer nach dem andern verstummte und schlummerte ein.
Eine scheußliche Nacht! Eine ganze Nacht sitzend in einem Auto zuzubringen, das mag hingehen. Drei Nächte hintereinander war jedoch wirklich zuviel. Man schläft ein, wacht auf, blickt auf die Uhr und stellt fest, daß nur eine halbe Stunde vergangen ist. Vergebens sehnt man den Tagesanbruch herbei. Die Stunden verstreichen so langsam. Endlich kann man die Umrisse der nächsten Hügel, kleine Büsche und Gärten erkennen. Noch eine Stunde, und das Licht wird stärker. Da zieht eine Gruppe von fünfzehn Chinesen vorüber. Nach einigem Hin und Her sind sie bereit, gegen gute Belohnung anzupacken. Nun kamen wir endlich los. Unbehindert fuhren wir in die Stadt ein und setzten Dr. Saposchnikoff bei seinem Krankenhaus ab. Kurz nach 8 Uhr waren wir in Kierkegaards Haus, wohin inzwischen der Nachfolger Chen mit Frau und drei niedlichen Kindern umgezogen war.
Wir hatten auf unserer Rettungsexpedition zu Dr. Hummel kaum das Südtor passiert, als auch schon Wang von der Auswärtigen Abteilung sich aufgeregt und wütend bei Yew eingefunden! hatte. Er überschüttete ihn auf allerhöchsten Befehl mit Vorwürfen. Yew erklärte den Zusammenhang, fand jedoch natürlich keinen Glauben. Wang eilte daher zu Apresoff und sagte, wie mir der Konsul erzählte:
»Sheng Tupan ist äußerst erstaunt und verstimmt, daß Dr. Hedin ohne besondere Erlaubnis und ohne Paß die Stadt verlassen hat. Es ist sonnenklar, daß Hummels Krankheit erfunden ist. Sie dient als Vorwand, damit Dr. Hedin Urumtschi verlassen und sich zu seiner Expedition begeben kann. Er will über die Grenze nach Kansu fliehen.«
Apresoff antwortete in scherzendem Ton:
»Erstens war ich es, der von Chen Teh-li die Erlaubnis für Dr. Hedin verlangte, Urumtschi zu verlassen. Zweitens mußten Sie wissen, daß er hierher kam, um Öl zu beschaffen, das seiner Expedition fehlte. Von einer Flucht nach Kansu kann also gar keine Rede sein. Drittens fuhr er in Begleitung meines eigenen Leibarztes, des Dr. Saposchnikoff – und der flieht nicht.«
Wang verstummte – es ist ja schwer, etwas zu sagen, wenn man das »Gesicht« verloren hat. Er wurde von dem gemütlich lachenden Konsul zur Tür begleitet.
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