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4.
In die Gobi

Am letzten Abend in Beli-miao machten uns Barun Sunit Wang und Dschun Sunit ihre Gegenbesuche. Dann waren wir mit hohen Lamas, mongolischen und tibetischen Offizieren zusammen beim Taschi Lama eingeladen.

In der Nacht hörte man aus der Ferne schwachen Glockenklang. Er wurde allmählich deutlicher, und sein Rhythmus verriet den abgemessenen Schritt von Kamelen. Immer näher kommen sie; der Klang ist kräftig und schrill, als das erste Tier an unsern Zelten vorüberzieht. Dann kommen sie der Reihe nach vorbei, und lange dauert es, ehe der Klang in der Nacht erstirbt. Ergreifend ist es, dieses alte wohlbekannte Glockenspiel, die eigentümliche, tausendjährige Melodie der Karawanenwege. Sie läßt vor dem geistigen Auge ein buntes Gemälde von Reisenden, Treibern und Händlern in der Wüste entstehen.

Die Autos werden am 18. November frühmorgens mit zweiundvierzig Benzintrommeln beladen. Der Aufbruch verzögert sich, weil Georg in die Klosterstadt gefahren war, um unsere Einkäufe, Mehl, Kameldung und einen tragbaren Kochofen, zu bezahlen. Die Motoren mußten der Kälte wegen angewärmt werden. Wegen der Feuersgefahr bin ich erst etwas unruhig, gewöhne mich aber bald an dieses Verfahren. Alles ist bereit, die drei Lastautos fahren zuerst, sie halten wegen des Staubes Abstand. Zuletzt komme ich in der Limousine. Mein Fahrer ist Dr. Hummel, meine Reisekameraden sind Ingenieur Yew und Bergman. Mit dem Kompaß peilt Bergman gegen das letzte Lastauto. Als unsere Kartenzeichner Übung bekommen hatten, ging ihnen die Arbeit sehr schnell von der Hand. Die Visierpunkte wurden durch kleine rote Flaggen angegeben, die fest in den Boden gesteckt und wieder aufgelesen wurden. Bergman arbeitete mit den beiden Ingenieuren und mit Chen zusammen.

Hinter uns verschwindet Beli-miao, und die Einöde beginnt. Wir fahren am Rand eines schroff eingeschnittenen Hohlwegs. Mehrere, fast canonartige Nebenfurchen werden von unserer Straße gekreuzt. Einmal versagte bei der Limousine die Bremse, und wir sausten in steiler Fahrt hinunter in eine Furche, glücklicherweise ohne einen Purzelbaum zu schlagen. Eine halbe Stunde lang hatten wir mit dem Spaten zu arbeiten, ehe wir wieder auf den Weg hinaufkamen.

Hin und wieder kommen wir an Brunnen vorbei, an denen Karawanen oder Nomaden lagern. An einem solchen Brunnen war ein mongolischer Soldatenposten, hier war die Grenze zwischen Dakan-bel und Mingan.

Das Gras bildet gelbe Streifen auf dem dunklen Boden. Steinhaufen krönen die etwas größeren Hügel. Sie werden »Obo« genannt. Einer trägt den Namen Bajin-bogdo oder »Der reiche Gott«. Ein anderer, Khara-obo oder »Schwarzer Steinhaufen«, erhebt sich auf einem der dunklen Hügel bei unserm Hauptquartier Hutjertu-gol vom Frühjahr und Sommer 1927.

Nach Westen breitet sich die mongolische Hochebene aus, endlos wie das Meer. Der Weg ist gut und hart, das Gras spärlich. So vergeht der Tag. Die kartographische Festlegung von Weg und Gelände dauert ihre Zeit. Bergman peilt bald vorwärts, bald rückwärts und gebraucht die Autos als Peilmarken. In der Limousine ist es warm wie in einem Treibhaus, besonders auf der Sonnenseite. Eine Panne! Effe muß einen Reifen wechseln. Unterdessen sinkt die Dämmerung über die stille Gegend. Wir arbeiten beim Licht von Scheinwerfern und Taschenlampen weiter.

Spät erreichen wir den Lagerplatz Ike-nor, den »großen See«. Georg und Serat haben bereits die Zelte aufgeschlagen. In meiner luftigen Behausung brennt schon Feuer im Kamin, und eine Lampe erleuchtet das Innere. Die Schlafsäcke werden auf einer Unterlage aus Grobleinen ausgebreitet. Wir lassen uns mit gekreuzten Beinen nieder. Die Autos werden wegen Feuersgefahr gegen den Wind gestellt.

Wir saßen, schrieben in den Tagebüchern und warteten auf das Mittagessen. Ein Schneesturm brauste über das Hochland. Das Zelttuch flattert, es knackt in den Stangen, die Lampe schwankt hin und her. Der Schnee treibt gegen das Zelt. Große Segeltücher werden über die Lasten auf den Autos gebunden. Das ganze Land war weiß und winterlich geworden.

Die Nacht wurde kalt. Das Thermometer fiel auf 24,6 Grad unter Null. Die dünne Schneedecke war aber am Morgen zum größten Teil geschmolzen, und von einem wolkenlosen blauen Himmel begrüßte uns die Sonne. Wir näherten uns einer Gegend, die in schlechtem Ruf stand. Im Süden, jenseits des Langschan-Gebirges, hatte der Räubergeneral Sun seine Armee über das Land zwischen Paoto und Wu-yuan längs des Hoang-ho verteilt. Seine Soldaten plünderten bei den Mongolen in Dakan-bel und Mingan. Diese wilden Gesellen pflegten besonders gern in dem Tal Jang-schan-tse-kou vorzusprechen, durch das wir im Lauf des Tages kommen sollten. In China ist es nicht immer leicht, zwischen Soldaten und Räubern zu unterscheiden. Wenn die Soldaten mit ihrem geringen Sold unzufrieden find, laufen sie oft mit Gewehr, Pistole und Munition davon und leben von Raub und Plünderung. Ebensooft lassen sich ganze Räuberbanden von einem unternehmungslustigen General für seine eigene Politik anwerben. Am 19. November hielten wir daher alle Feuerwaffen bereit und verteilten die Patronengürtel an unsere Schützen.

Am Ike-nor hatten wir ein Fünftel des Weges bis zum Edsin-gol zurückgelegt, der etwas mehr als 1000 Kilometer beträgt. Wir mußten also ungefähr am 4. Dezember an dem Fluß sein können. Verschiedene Umstände behinderten uns aber. Es dauert seine Zeit, bis die Marschordnung und die täglichen Arbeiten reibungslos laufen. Die Kartenaufnahme ist zeitraubend, die Wege sind schlecht und werden immer böser, je weiter wir nach Westen vordringen. Dazu kommen unvorhergesehene Verzögerungen, die durch alle Berechnungen einen Strich machen. In den ersten vier Tagen war alles ziemlich gut gegangen, doch schon am fünften, der mit seinem funkelnden Sonnenschein so vielversprechend ausgesehen hatte, wurden unsere Hoffnungen zunichte.

Es erforderte viel Zeit, das während der Nacht gefrorene Öl in den Motoren aufzutauen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Georg und Serat mit ihren beiden Lastwagen vom Ike-nor weiterfuhren. Eine Weile später folgten die Autos mit den Kartographen.

Zwischen kleinen Grasbüscheln auf Erdhöckern oder niedrigen Kegeln führt uns der harte, ebene Karawanenweg nach Tschendamenn. Hier hat Georg eine Schafherde und ihre Hirten überrascht, von denen er zwei Schafe für fünf Silberdollar gekauft hat. Die Tiere wurden geschlachtet, ihre Felle durften die Hirten behalten.

Im Tal Honnen-tschag-gan-tschollä floß ein kleiner, teilweise mit Eis bedeckter Bach, an dessen Ufer wir im Jahre 1927 gelagert hatten. Hier hatten sich einige chinesische Ansiedler angebaut. Von Westen kam eine Karawane von 595 Kamelen in feierlichem Gang herangezogen. Sie führte drei Flaggen, die die Namen der Handelshäuser angaben, denen die Fracht gehörte, Wollballen nach Kwei-hwa und der Küste.

Wir überqueren ein zweites Flüßchen, Lin-ta-kou. Es biegt nach Westen nach dem Hoang-ho ab, dessen westliche Wasserscheide (1724 Meter) wir hinter uns gelassen haben. Endlich erreichen wir das Tal Jang-schan-tse-kou, sein Bach ist zugefroren. Vor uns sehen wir gegen die untergehende Sonne Georgs und Serats Wagen als schwarze Schattenbilder. Georg erreicht das Bachufer und fährt auf das Eis. Die Vorderräder sind beinahe hinüber, da brechen die Hinterräder durch die Eisdecke. Der Wagen sitzt im Eisschlamm fest. Alle Leute springen ab und bearbeiten das Eis mit Brecheisen und Spaten. Dr. Hummel versucht an einer breiteren Stelle hinüberzukommen. In sausender Fahrt setzt er mich über das Eis und fährt dann ans Ostufer zurück, wo Effe und Serat mit ihren Lastwagen warten. Die Fahrer beschlossen, daß Effe an der Stelle, die wir soeben erprobt hatten, den Fluß überqueren und dann Georgs Wagen aus dem Eisschlamm herausziehen sollte.

Effe gab Vollgas, was das Zeug hielt – aber diesmal hielt das Zeug nicht! Der Wagen war zu schwer, das linke Hinterrad brach durch das Eis, und nun saßen zwei Kraftwagen fest. Sie wurden abgeladen und das Gepäck auf das Westufer hinübergeschafft, wo wir warteten. Die Dämmerung brach herein, und die Lampen leuchteten. Die Zelte wurden aufgeschlagen. Unsere Hoffnung war fehlgeschlagen, während der Nacht an einer der berüchtigtsten Räubergegenden vorbeizukommen.

Wir hatten keinen Brennstoff mehr. Dr. Hummel fuhr daher mit der Limousine nach dem chinesischen Dorf Ulan-hutuk. Hier wohnten nur wenige Familien in Krankheit, Elend und Einsamkeit. Nachdem er ein paar arme Schlucker verarztet hatte, kehrte er mit drei Säcken Kameldung zurück. Unsere Feuer konnten angezündet werden. In der Zwischenzeit war Georgs Auto losgekommen und hatte dann Effes Wagen herausgezogen. Bei näherem Zusehen stellte sich heraus, daß sein Hinterachsgehäuse gebrochen war. Die Stimmung war daher beim Mittagessen in meinem Zelt gedrückt und düster.

Was sollten wir tun? Wir hielten Kriegsrat bis spät in die Nacht hinein. Zuerst beschlossen wir, Wachen mit zweistündiger Ablösung aufzustellen. Denn es war gewiß, daß wir vorläufig bei Jang-schan-tse-kou festsaßen.

Das verunglückte Auto wurde auf zwei großen Benzinbehältern aufgebockt und sein Hintergestell abgebaut. Wir brauchten fast den ganzen folgenden Tag dazu, um das Wrack gründlich zu untersuchen. Das Ende vom Lied war, daß Georg den Befehl erhielt, mit Dschomtscha und der Limousine über Beli-miao und Kwei-hwa nach Peking und Tien-tsin zurückzufahren. Er sollte ein neues Hinterachsgehäuse und ein neues Lastauto kaufen. Von Kwei-hwa sollte Dschomtscha mit der Limousine zum Wrack zurückkehren, wo wir solange warteten. Georg sollte uns mit dem neuen Lastkraftwagen und andern Sachen so schnell wie möglich zu erreichen suchen. Um die Trennungszeit zu verkürzen, wollten wir inzwischen langsam nach Westen weiterfahren.

Es war nicht das erstemal auf dieser gewagten Erkundungsfahrt, daß wir Engelsgeduld nötig hatten, und leider auch nicht das letztemal. Statt in dieser unsicheren Gegend vereinigt zu sein und damit größte Schlagkraft zu haben, wurden wir bereits im Anfang zersplittert. Und gerade hier mußten wir fünf Tage stilliegen. Am Morgen des 21. November fuhren Georg und Dschomtscha nach Osten. Schon am selben Abend sollte Dschomtscha wieder zurück sein. Doch der ganze Tag und noch zwei weitere Tage verstrichen, ohne daß er sich sehen ließ. Er hatte zwar seine Pässe, aber sie nützen ja nichts gegen Räuber. Wir hatten allen Grund, um den alleinreisenden Mongolen besorgt zu sein. Serat suchte sein Geschick aus dem Schulterblatt eines Schafes zu erforschen. Es wurde auf die Glut gelegt, trocknete und sprang in unregelmäßigen Rissen. Ein längs laufender Riß reichte nicht ganz bis zum Hals des Schulterblattes, also war Dschomtscha nicht weiter als bis Beli-miao gekommen. Die Weissagung traf nicht zu. Er brauchte drei Tage, nicht zwei, wie Serat geweissagt hatte. Aber dann kam er endlich, nachdem er sich in Kwei-hwa von Georg getrennt hatte, der mit der Eisenbahn nach Tien-tsin weitergefahren war. Wir hätten nun aufbrechen können, wenn nicht Bergman mit hohem Fieber erkrankt wäre und unser Hausarzt ihm nicht einige Tage Ruhe verordnet hätte. Yew hatte sich die Nase zerschlagen, als Effes Wagen im Eis festfuhr, und war unpäßlich; unser Lager verwandelte sich in ein Krankenhaus.

Am selben Tage kam die Benzinkarawane an unsern Zelten vorbei. Dreiundzwanzig Kamele waren mit Fünfundzwanziglitertonnen beladen. Fünf Tonnen standen aufrecht auf jeder Seite, sie waren fest aneinandergebunden. Etwa 5700 Liter Brennstoff waren also unterwegs nach dem Edsin-gol. Vierzehn andere Kamele trugen die Ausrüstung der Mannschaft sowie einen Teil unseres Proviants.

Erst am 25. November erlaubte Dr. Hummel den beiden Patienten aufzustehen. Die verkleinerte Kolonne brach sogleich nach Westen auf. Bei Jang-schan-tse-kou wurden Dschomtscha und der Mongole Tschockdung zurückgelassen, den wir bei Arasch in Dienst genommen hatten. Sie hatten ein Zelt und Proviant und bewachten sechsundzwanzig große Fässer mit etwa 3500 Liter Benzin. Jedes unserer beiden Lastautos beförderte sechs große und fünfundzwanzig kleine Benzintrommeln, im ganzen etwa 2800 Liter.

Der Weg führt durch »Das sich schlängelnde Tal« hinab, und wir kreuzen immer wieder den Bach, der bald zugefroren, bald offen ist. Das Tal erweitert sich zwischen niedrigen Hügeln. Sein Flüßchen versickert im Sand, ehe es den Hoang-ho erreicht hat. Das Land öffnet sich dann. In der Ebene fahren wir an einem Grab mit aufrecht stehenden Steinen vorüber. Im Süden zeichnet sich der gezackte Kamm der »Wolfsberge« (Langschan) ab. Dann und wann sehen wir das gebleichte Skelett eines gefallenen Kamels. Wölfe kommen in dieser Gegend allgemein vor. Der Boden ist schwarz von Lava. Eine muntere Pferdeherde flieht über den Grus und versucht mit uns Schritt zu halten. Dies ist noch nicht die wirkliche Wüste. Hier leben Menschen. In einiger Entfernung sind ein paar kleine Lamatempel zu sehen. Bisweilen begegnen wir Mongolen, die auf Kamelen oder Pferden reiten. Große Antilopenherden fesseln unsere Aufmerksamkeit.

Nach einer Weile überholen wir unsere Benzinkarawane. Die Kamele werden etwas unruhig, verlieren aber ihre Selbstbeherrschung nicht. Auf einem Gipfel thronen zwei Geier und warten auf Kamelfleisch. Das Lager wird heute auf dem linken Ufer des Hai-leotain-gol aufgeschlagen. Die Benzinkarawane holt uns am Abend ein. Sie muß nun helfen, einen großen Teil des Gepäcks über den Fluß zu schaffen, damit die Lastwagen leichter den Fluß überqueren.

Wir sind in tiefer gelegene Gebiete gekommen. Hier befinden wir uns nur 1200 Meter ü. M. Die Temperatur ist gestiegen, in der Nacht waren es nur 9 Grad unter Null. Zum Frühstück gab es Haferflocken, Eierkuchen und Kakao. Dann setzten wir uns in die Limousine und fuhren über das wohl 200 Meter breite Flußbett. Auf weichem, recht unangenehmem Weg geht es weiter. Wo Kameldung (Archel) reichlich ist, hält Serat und sammelt ein paar Säcke für die Lagerfeuer am Abend.

Wir übernachteten am Hongerin-gol, dem »Liebesfluß«, wo sich ein Obo befindet. Gleich oberhalb des Lagers kamen Massen von Gazellen ( Gazella subgutturosa) an den Fluß, um zu trinken. Bergman schoß auf eine von ihnen. Sie war indes nur weidwund und verschwand zwischen den Grashöckern der Steppe. Bei der zunehmenden Dämmerung war es nicht leicht, dem flüchtenden Tier zu folgen. Aber unser neuer Mongolenhund Pelle setzte der Gazelle nach. Als wir hinkamen, lag sie auf dem Boden und schrie; Effe machte ihren Qualen mit dem Messer ein Ende.

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