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11.
Nach Urumtschi

Am Abend des 30. Mai brach ich vom Standlager 70 am Kum-darja in der Nähe von Jardang-bulak auf. Hier ließ ich Hummel und seine Diener zurück. Ich fuhr durch die offene Wüste zu Yews Lager bei einem während einer Fahrt beschädigten Auto. Kurz vor neun erreichte ich den Platz. Die Scheinwerfer der Limousine waren von weitem sichtbar und verrieten meine Ankunft. Alle waren vor den Zelten und empfingen mich mit Freudenrufen.

Kaum hatten wir uns im Zelt niedergelassen, als ich Yew fragte:

»Sind Sie bereit, mich morgen früh nach Korla oder möglicherweise bis Urumtschi zu begleiten?«

»Ja, mit Vergnügen, jetzt sofort, wenn es sein muß. Ich reise, wie ich gehe und stehe.«

Wir saßen und schwatzten bis weit in die Nacht hinein. Mit einigen Kameraden zog ich es vor, unter freiem Himmel zu schlafen, da der Raum im Zelt zu beengt war. Ich war kaum eingeschlafen, als sich ein wütender Ostnordoststurm erhob und unser Lager mit Wolken von Staub bedeckte. Ich kroch unter die Filzdecken und ließ ihn blasen. Die Temperatur sank auf 21 Grad.

Am Morgen des letzten Tags im Monat hatten wir mancherlei zu ordnen und zu bestellen. Erst um 11 Uhr saßen Serat, Yew und ich in der Limousine. Yew neben Serat und ich hinten allein. Der Rücksitz war im übrigen mit Benzinkannen, Betten, Proviant und sonstigen Ausrüstungsgegenständen beladen. Das Ziel unserer Fahrt war Korla. Dort hatten das »Große Pferd« und Bektieiew unsere Benzinvorräte geplündert. Wir besaßen von diesem kostbaren Stoff gerade noch so viel, daß wir mit den Kraftwagen bis Urumtschi kommen konnten. Das Motoröl war allerdings fast aufgebraucht. Ohne Öl lag die Kolonne aber hilflos bei Standlager Nr. 70. Man hatte uns zwar versprochen, daß wir das gewünschte Öl und Benzin Mitte Mai in Korla abholen könnten. Aber bis zum 30. Mai hatten wir nichts von dem versprochenen Transport gehört. So blieb mir nichts übrig, als selbst nach Korla zu fahren und die Verhältnisse zu untersuchen. Falls der Öltransport noch nicht in Korla angekommen wäre, wollte ich die Fahrt bis nach Urumtschi ausdehnen.

So fuhren also Yew, Serat und ich nach Nordwesten. Links dehnt sich die Wüste aus. An einigen Stellen erheben sich unregelmäßige Jardangblöcke. Rechts haben wir Berge. Eine Ablaufrinne führte uns zu einem Richtweg von Schindi nach Ying-pan. Es ging durch Mesas an dem Skelett eines Kamels vorüber. Mittags wird links der Kum-darja in geringer Entfernung sichtbar. Ein paar Antilopen wollen zum Ufer. Sie drehen aber um und flüchten, als sie das Geräusch unseres Wagens hören. Eine Schwierigkeit mit der Lichtmaschine verursacht einen unwillkommenen Aufenthalt. Aber Serat kennt das Auto und beseitigt den Schaden. Wir rollen die Ablaufrinne des Budschentu-bulak hinab und lassen die Quelle mit ihren grün leuchtenden Pappeln rechts liegen. Wir verirren uns in Nebenfurchen, die mit grobem Eis und kleinen Blöcken ausgefüllt sind. Hier und da wachsen üppige Tamarisken. Wir winden uns aber allmählich aus den Irrgängen heraus und halten die Richtung nach Westen ein.

Gegen 3 Uhr sind wir wieder auf gutem Weg und machen eine Frühstückspause. Dann fahren wir über Schwemmland mit unzähligen Ablauffurchen. Es regnet also bisweilen über dem Kuruk-tagh. Das Regenwasser hat ungezählte Jahrtausende Erde herabgespült und die Gruskegel am Fuß des Gebirges eingeebnet. Es geht auf den Abend zu. Bald fahren wir auf hartem Kiesboden, bald durch Talschluchten. Wir sind in ein Wunderland gekommen, wo der Sonnenuntergang die Wolken im Osten blutrot färbt. Kräftige Reflexe in Purpurfarbe fallen über das Land. Spät abends verirren wir uns in die Nebenfurchen des Kurban-tschik-Tales. Schließlich finden wir den rechten Weg und schlagen das Lager Nr. 93 auf. Wir waren 105 Kilometer gefahren.

Es war fast 10 Uhr. Der Himmel war mit schwarzen Wolken überzogen. Ein paarmal fielen Regentropfen. Der Lagerplatz lag neben einem Tamariskengebüsch mit zahlreichen vertrockneten und abgestorbenen Stämmen und Zweigen. Wir brachen einige ab und machten ein Feuer ganz dicht neben dem Dickicht. Von hoch auflodernden Flammen wurde die ganze Umgebung beleuchtet, die Erosionsterrassen, das Dickicht und der blinkende Wagen. In dem Lichtschein schafften wir die schlimmsten Steine beiseite und breiteten unsere Betten am Feuer aus. Die Flammen flackerten und warfen sich zügellos nach allen Seiten. Bald brannte das ganze Gestrüpp. Es prasselte und knallte, es knisterte und sprühte. Die Mücken, die zudringlich gewesen waren, flohen vor dem Rauch. Wir mußten eiligst unsere Betten an einen sicheren Platz retten und unser Mittagessen ein Stück vom Kochherd entfernt auftischen. Die Stimmung wurde erhöht durch den Kurgantschibach. Sein herrliches klares Wasser strömte mit metallischem Klingen zwischen Steinen und Felsblöcken dahin.

Am Morgen des 1. Juni nahmen wir ein erfrischendes Bad in dem kühlen reinen Wasser des Bachs. Wir frühstückten und fuhren dann weiter durch ein Nebental bis zur höchsten Erhebung der Erosionsterrasse hinauf. Wir haben links einzelnstehende Kuppen und rechts zusammenhängende Berge. Jene hören bald auf, diese gehen in einen scharf gezahnten Bergrücken über, dessen Farbe zwischen Grau, Braun, Gelb und Violett wechselt. Wir kommen zu einer tiefen, zerrissenen Schlucht und folgen der großen Straße, auf der im Frühjahr die Lastautos fuhren. Sie ist an einigen Stellen durch große Pyramiden von trocknen Stämmen und Ästen gekennzeichnet.

Um die Mittagszeit ließen wir die Ablaufrinne rechts liegen, die vom Ortang-bulak herkommt. Sein Bett kreuzten wir dort, wo mehrere dürre Pappelstämme anzeigen, daß es höher oben im Tal Wald gibt. Eine Weile später passieren wir eine neue Rinne und lassen Kontei-bulak rechts liegen. Talmündungen geben prächtige Ausblicke auf die Berge. Nach einer weiteren halben Stunde bleibt der Suget-bulak rechts liegen. An seinem Bett stehen an die hundert trockene Pappelstämme, obwohl der Name »Weidenquelle« bedeutet.

Unser Kurs führt uns nach Südsüdwesten. Das Gebirge erstreckt sich nach Nordwesten. Es erscheint daher schon in schwächeren Tönen, je weiter wir uns von ihm entfernen. Am Nachmittag begegneten wir drei Türken. Sie wollten mit 150 Schafen, einem Pferd und einem Esel von Kontsche nach Turfan und unterwegs am Ortang-bulak-ahsi lagern. Im Schatten eines hohen Tamariskenkegels rasteten wir zum Mittagessen. Hier durchquerten wir eine Zone charakteristischer Vegetationsknollen. Sie stehen manchmal so dicht, daß man sich zwischen ihnen durchwinden muß.

Unser Kurs wird nun westlich, und in der Entfernung taucht Pappelwald auf. Ein Viertel nach fünf sind wir am Saschtscheke, an dem wir ohne zu halten vorbeifahren. Meistens bleibt der Fluß selbst hinter Sanddünen, Kegeln und Bäumen verborgen. Da wir eine nordwestliche Richtung einschlagen, ist er bald ganz unsern Blicken entzogen. Nach einigen Kilometern fahren wir an einem alten Wachtturm der uralten Seidenstraße vorbei. Bald kommen wir an dürftigen, bald an dicht wachsenden Tamarisken vorüber. Schließlich fuhren wir am Gerilghan durch lichte Schilffelder, Pappel – und Buchenwald. Im Jahre 1896 war ich auf diesem Weg mit Kamelen gereist. Wir schlängelten uns zwischen dicht stehenden Pappelbäumen hindurch – ein herrlicher Anblick nach der dürren Wüste. Kurz nach 6 Uhr streifen wir in sechs Meter Abstand das linke Ufer des Flusses. Wir verlassen ihn aber sogleich wieder. Dann geht der Weg an einem toten Flußarm entlang. Nicht weit davon sind wir wieder am Fluß. Man sieht mit bloßem Auge, daß das Wasser gefallen ist, seit ich vor zwei Monaten mit Kanus an dem Ort vorbeikam. Bei dem Standlager war er während unserer Abwesenheit um 24 Zentimeter gefallen.

Der Weg führt uns nun durch dichte Schilffelder, und der Wald wird lichter. Bei einer Hütte finden wir einen jungen Hirten, der uns den Weg zeigt. Noch zweimal berühren wir Flußwindungen. Dann verlassen wir den Fluß endgültig und fahren durch ein Übergangsgebiet zwischen Steppe und Wüste. Wir kommen durch dünnen Pappelbestand, dann durch eine Zone von Jardangs mit oder ohne abgestorbene Tamarisken. Sie werden immer niedriger und schließlich ganz verkümmert. Sie bilden nur noch schwache gelbe Erhöhungen auf dunklerem sandigen Boden. An einem Wachtturm, Suget-bulak, blieben wir ½10 Uhr in einem tiefen Graben fest stecken. Wir hielten es für das klügste, nach 134 Kilometern Fahrt hier zur Nacht zu bleiben. Brennstoff fehlte zwar, aber wir konnten unser Teewasser heiß machen, indem wir trockenes Schilf anzündeten. Dann hatten wir nichts anderes zu tun, als nach des Tages Mühen zu schlafen.

Am folgenden Morgen erreichten wir auf unserm Weg nach Nordwesten bald Schinnegas Außenhöfe und Felder. Gleich darauf treffen wir Menschen. Wir kommen zu einem nahe gelegenen Hof. Hier wohnt unser Freund Seidul, der Onkel Hsiang-yes, der uns zum Tee einlud.

Zwei Monate hatten wir nichts vom Krieg gehört und daher keine Ahnung von der Lage. Jetzt erhielten wir die ersten verworrenen und unsicheren Nachrichten. Unsere Berichterstatter glaubten zu wissen, daß russische Truppen aus Urumtschi Korla, Aksu, Schahjar und Maralbaschi besetzt hätten. Daß die Tunganen Kaschgar und Jarkend innehätten und im Krieg mit Chotan lägen. Wir erkannten, daß es übel stand. Oberst Salomakhins Prophezeiung, der Krieg würde, vom 1. April an gerechnet, in zwei Monaten zu Ende sein, war viel zu optimistisch gewesen. Unsere türkischen Freunde konnten uns nicht viel sagen oder wagten es nicht. Ihren Worten und ihrem Gehaben konnten wir aber entnehmen, daß unsere Lage nicht so vorteilhaft war, wie wir am 1. April gehofft hatten. Korla würde gerade wie im März eine verhängnisvolle Stadt für uns werden.

Nach ein paar Stunden fuhren wir durch den Wüstengürtel weiter. Wir erreichten Korlas Oase und die Weidenallee, wo wir am 11. März beschossen worden waren. Die Uhr war etwas über zwei, als wir vor dem russischen Hauptquartier hielten. Hier trafen wir den freundlichen Hauptmann Deviaschin. Nach kurzer Unterhaltung begleitete er uns nach Abdul Kerims Hof. Während unserer Abwesenheit hatten hier sechs Soldaten abwechselnd über unsere Habe Wache gehalten. Der Hauptmann schlug vor, den Lastwagen und die Kisten zur größeren Sicherheit in den Hof des russischen Hauptquartiers zu bringen. Gewisse lebenswichtige Teile des Motors waren im Lager 70. Das Lastauto wurde daher am Morgen des 3. Juni von dreißig Soldaten abgeschleppt. Wir hatten nur die Kleider und den Proviant herausgenommen, die wir für Urumtschi brauchten. Denn wie wir gefürchtet hatten, gab es in Korla keinen Tropfen Benzin oder Motoröl. Unsere Reise nach Urumtschi war also notwendig.

Wir kauften Reis, Tabak und einige andere Dinge für die im Lager 70 Gebliebenen. Ich schrieb Briefe an Hummel und Bergman und schickte ihnen 4000 Tael. Mit Abdul Kerim schlossen wir einen Vertrag in türkischer Sprache. Er verpflichtete sich darin, die Sendung zu Seidul in Schinnega zu bringen. Mit diesem hatte er ein Abkommen für ihre Weiterbeförderung zu den Unsern zu treffen. Man sagte uns, daß ohne einen solchen Vertrag alles Geld gestohlen und nur ein Teil der übrigen Dinge ankommen würde. Der Hauptmann machte uns die unerfreuliche Mitteilung, daß die Straße nach Urumtschi sehr unsicher wäre. In letzter Zeit wären mehrfach Kaufleute und andere Reisende von kirgisischen und mongolischen Räubern überfallen, ausgeplündert und totgeschlagen worden. Er fühlte sich daher für uns verantwortlich und verlangte, daß wir einen russischen Offizier als Eskorte mitnähmen. Ich sagte, daß wir keinen Platz in der kleinen Limousine hätten. Wir würden auch so schnell reisen, daß kein Räuber uns erwischen könnte. Aber er war unerbittlich und stellte uns den Begleiter vor. Es war der Unterleutnant Jaroslaview. Er war groß wie ein kleiner Elefant und schwer bewaffnet, aber sonst gemütlich und dienstwillig. Alles Gepäck war verstaut, und der kleine Elefant hatte seinen Platz eingenommen. Ich saß so eingeengt, daß ich mich kaum rühren konnte. Aber es blieb uns keine andere Wahl. Es handelte sich nur um etwa 700 Kilometer! Die Hälfte davon war gute Straße.

Wir schliefen nur die Nacht vom 2. zum 3. Juni in Korla im Kasino unseres früheren Gefängnisses. Am Morgen wurden wir von einem gut gekleideten Europäer geweckt, der hereintrat und uns begrüßte. Ich erkannte ihn nicht wieder, aber er nannte seinen Namen. Es war Plavski, einer der beiden polnischen Reisenden, die wir in Turfan getroffen hatten. Wir waren ihm auch auf unserer Rückfahrt von Burbur im März begegnet. Er hatte damals die Absicht gehabt, über Kaschgar nach Hause zu reisen. Das war ihm aber nicht geglückt. Nun wollte er statt dessen nach Urumtschi.

Wir hatten viel zu ordnen und zu richten, und die Zeit verging. Kurz vor dem Aufbruch fand sich ein Unglücksrabe ein und warnte uns vor der Reise nach Urumtschi:

»Wenn ihr nicht ins Gefängnis geworfen werdet, so werdet ihr sicher ein halbes Jahr festgehalten oder ein ganzes – oder noch länger.«

Er malte den Teufel an die Wand, und es roch ordentlich nach Schwefel in unserm alten Gefängnis. Aber diese Schwarzfärberei machte keinen Eindruck auf uns. Auch wenn wir genug Öl gehabt hätten, wären wir doch über Altmysch-bulak und Tun-hwang nach Kansu gefahren. Wir waren in offizieller Mission in Sinkiang, um den Straßenbau zwischen dem eigentlichen China und der großen Provinz im Nordwesten vorzubereiten. Ihr Gouverneur Sheng Tupan hatte unter unsern Augen Ma Chung-yin besiegt und seine Eroberungspläne durchkreuzt. Wir mußten ihm unsere Aufwartung machen. Wir hatten alle das Gefühl, daß wir neuen Abenteuern entgegengingen.

In meinem Brief an das Standlager 70 deutete ich vorsichtig an, daß die Wartezeit lang werden könnte. Aber wir würden alles tun, was in menschlicher Macht stünde, um in Urumtschi so viel Öl zu beschaffen, wie die Lastautos brauchten. Yew, Serat und ich wollten es selbst nach Korla und Kontsche bringen, um es dann in Kanus auf dem Fluß zum Standlager zu befördern. Das Benzin, das wir benötigten, sollte gleichzeitig nach Khara-schar oder Korla geschickt werden.

Es ist ½4 vorbei, als wir aufsitzen und über die Brücke, über den Paß und in das malerische Durchbruchstal des Kontsche-darja hineinrollen. Hier und da treffen wir Reisende auf Pferden, Eseln oder Araben. Wir fragen sie, ob die Straße ruhig ist. Sie antworten, sie selber seien nicht angefallen worden. Die Straße durch die Schilfsteppe hatte sich seit dem 4. März, als wir sie zuletzt sahen, verändert. Sie war aufgeweicht und von tiefen Räderspuren verdorben. Sie rührten von den fliehenden Tunganen her, die gleich einem Sturzbach nach Korla herab und von da weiter nach Kutscha gebraust waren.

Es ist fast ½7 Uhr, als die prächtigen Pappelwälder von Kharaschar am Ufer des Khaidu-gol ihre grünen Kronen vor uns erheben. Wir überschritten den Hauptarm des Flusses auf der Fähre und seinen kleinen Nebenarm mit Hilfe von Eingeborenen. Es kostete uns nur eine halbe Stunde. Auf dem linken Ufer fuhren wir geradeswegs zu dem jungen Fürsten der Torgoten. Er hatte einen hohen lamaistischen Rang und war zugleich auch Kommandant von Khara-schar und Divisionsgeneral. Er ist nicht zu Haus. Einer seiner Verwandten zeigt uns seinen Damen, als wir unsere Besuchskarten hineinschicken. Auf dem Hof begegnen wir dem Fürsten. Er ist von seinem Adjutanten begleitet und nötigt uns in ein großes Zimmer, wo wir an einem langen Tisch Platz nehmen.

Der Fürst ließ sich über das Ziel unserer Fahrt unterrichten. Er teilte uns mit, er habe meinen Brief wegen des Öls an den Oberbefehlshaber geschickt, aber noch keine Antwort erhalten. Ich erinnerte ihn an das große Entgegenkommen, das sein Onkel unserer früheren Expedition erwiesen hatte. Sin Chin Gegen hatte auch dem König von Schweden eine vollständige lamaistische Tempeljurte geschenkt, die Henning Haslund dem König überbracht hatte. Um seine Dankbarkeit zu beweisen, hatte der König dem Fürsten sein Porträt und eine kostbare Gabe geschickt.

Der junge Nachfolger erklärte, diese Sache sei ihm wohlbekannt. Die Geschenke des Königs befänden sich jetzt in seiner Verwahrung. Aber unerwartet schnell brach er das Gespräch über den Onkel ab und ging plötzlich zu einem ganz andern Gegenstand über. Man merkte deutlich, daß er ungern von seinem Verwandten sprach. Eine häßliche Geschichte lag hinter diesem Thronwechsel. Wir hatten bereits davon gehört; später erhielten wir auch die Bestätigung.

Vor ein paar Jahren waren die Tunganen in Sinkiang eingewandert. Chin Shu-jen war auf etwas dunkle Art nach der Ermordung des tüchtigen Marschalls Yang an die Macht gekommen. Als Generalgouverneur hatte er damals die Streitkräfte der Provinz mobilisiert. Er hatte auch den Torgotenfürsten Sin Chin Gegen aufgefordert, mit seiner mongolischen Reiterei gegen die Eindringlinge zu Felde zu ziehen. Sin Chin Gegen war ein »lebender Buddha«. Er hatte während der Minderjährigkeit des eigentlichen Fürsten – seines Neffen – auch die weltliche Macht über die Torgoten inne. Aber Sin Chin Gegen war der Aufforderung nicht nachgekommen. Dagegen war er einer späteren Einladung gefolgt. Mit nur wenigen Begleitern begab er sich nach der Hauptstadt. Er wurde höflich und freundlich empfangen. Während er selber beim Generalgouverneur war, mußten seine Begleiter auf einem äußeren Hof warten. Niemand weiß, worum es bei der Beratung ging, außer dem Generalgouverneur selber. Der ist aber wegen allerhand Verbrechen in Nanking ins Gefängnis gesteckt worden. Nach Beendigung der Unterredung begleitete Chin Shu-jen seinen Gast über den inneren Hof. Ehe sie bis zum letzten Tor gelangt waren, hörten sie vom äußeren Hof her einige Schüsse. Der Fürst zuckte zusammen und fragte, was das zu bedeuten habe. Er erhielt sofort Antwort – eine Kugel durch den Kopf.

Warum erhoben sich die Khara-schar-Torgoten nicht als Antwort auf die feige Ermordung ihres Fürsten? Sie verhielten sich ruhig, und später wurde der kaum zwanzigjährige Tschöngschin Mentsuk Kampo ihr Fürst. Mit ihm saßen wir jetzt zusammen und unterhielten uns. Wir sprachen lange von meinem Freund, dem Taschi Lama. Bei unserm Besuch in Beli-miao hatte ich diesem höchsten geistlichen Würdenträger den Wunsch vorgetragen, ein Schreiben von ihm an den Heiligen der Torgoten in Khara-schar zu erhalten. Er hatte mir mit Vergnügen diesen Brief mitgegeben. Leider hatte ich versäumt, ihn mitzunehmen, aber der Schaden war unbedeutend. Der junge Fürst hätte unserer Expedition in keiner Weise beistehen können. Er war unter dem neuen Regime machtlos. Vielleicht hätte es sogar Mißtrauen erregt, wenn wir zu ihm in einem engeren Verhältnis gestanden hätten. Vielleicht war es auch das beste für den Taschi Lama, unter den gegenwärtigen unsicheren Verhältnissen keine Berührung mit einem Fürsten zu haben, der chinesischer Divisionsgeneral war.

Schließlich wurde ein Befehl an den Bürgermeister geschickt, uns ein Nachtquartier zu besorgen. Wir wurden dort freundlich aufgenommen, bekamen ein ausgezeichnetes Zimmer und ein chinesisches Mittagessen. Am folgenden Morgen machten wir keinen Abschiedsbesuch beim Fürsten, da er unsern Besuch nicht erwidert hatte. Später sahen wir ihn in Urumtschi wieder unter Verhältnissen, die zeigten, wie wenig er auf der innerpolitischen Waage Sinkiangs wog. Dagegen fuhren wir zum Abschiedsbesuch bei dem freundlichen Bürgermeister vor. Bei unserm vorigen Besuch war Khara-schar in den Händen Ma Chung-yins und der Tunganen gewesen, jetzt herrschten dort Sheng Tupan und die Chinesen. Auch jetzt wohnten noch friedliche Tunganen, Bürger, Bauern und entwaffnete Soldaten in der Stadt, dazu acht Russen und ein Feldscher. Alle standen in chinesischen Diensten.

Nun ging es weiter auf dem uns schon bekannten Weg. An seinen Rändern lagen jetzt mehr Kadaver gefallener Tiere als das vorige Mal. ½5 Uhr sind wir in Kara-kisil. Eine Stunde später in Kumusch, wo vier Familien wohnten. Rechts zweigt der Weg nach Süden über den Kuruk-tagh ab. Er wurde vor drei Monaten von den 500 Russen besetzt, die im Krieg gegen General Ma über Schindi, Tikkenlik nach Korla marschierten. Eine knappe Stunde später überschreiten wir die Paßhöhe und Wasserscheide, von der aus das Gelände den ganzen Weg bis Arghai-bulak fällt. In der Dämmerung erreichten wir eine wunderbare Quelle und lagerten dicht bei dem Wasser, das aus der senkrechten Felswand hervorsprudelt.

Wir waren bis dahin etwa 235 Kilometer gefahren. Der Lagerplatz hatte die Nummer 97. Auf dem Wege zur Quelle waren uns ein paar Araben begegnet. Der Regen am 14. Mai hatte diesen phantastischen Weg übel zugerichtet. Er führt in einem schmalen Engpaß über den Blockkegel. Serat brachte das Auto aber hinunter; es wurde durch vorstehende Blöcke nur leicht beschädigt. Ein entsetzlicher Geruch von gefallenen Soldaten und Pferden herrschte in dem Tal. Ich trat lebhaft dafür ein, daß wir in respektvoller Entfernung von den Toten lagerten. Am Morgen des 5. Juni entdeckten wir, daß die Leiche eines Tunganen nur acht Meter von unserm Lagerplatz lag. Brennstoff hatten wir nicht. Der Abend war still, man hätte eine Kerze im Freien brennen können. Nachts sank die Temperatur auf 21,5 Grad, was nach der Hitze des Tages als kühl empfunden wurde.

Am Morgen des 5. Juni wollte Serat den Autotank füllen. Er hatte bereits die Hälfte aus einem Behälter abgefüllt, der Petroleum enthalten sollte. Da stellte er fest, daß der Behälter Wasser enthielt. Der Tank mußte also entleert werden. Nun hatten wir nur noch Betriebsstoff für etwa 220 Kilometer. Die Entfernung bis Urumtschi betrug aber 245 Kilometer.

Um halb neun brachen wir auf und folgten dem Quellwasser eine Stunde lang bis Su-baschi. Nicht lange darauf kamen wir an dem Panzerauto vorbei, das in Urumtschi gebaut worden war. Ma Chung-yin hatte es erobert, mußte es aber wegen Mangel an Brennstoff im Stich lassen. Bald sind wir aus den Bergen heraus. In Toksun konnten wir nur siebzehn Eier und einige Brotlaibe auftreiben. Auf der Ebene außerhalb der Stadt hatten wir 41,3 Grad im Schatten. Das war die größte Hitze auf dieser Expedition.

Wir steigen sachte an und kommen zu den ersten Hügeln. Hier steht die Straße eine Strecke unter Wasser. Wir passieren eine Schwelle zwischen roten und schwarzen Hügeln und den Punkt, wo die Karawanenstraße von Turfan sich mit unserm Weg vereinigt. Damit war ich wieder in einer Gegend angelangt, die ich von 1928 her kannte. Unsere Straße windet sich zwischen malerischen, wilden Felsen hindurch. Dann geht es zwischen Büschen und Bäumen an einem Bach entlang. Aus einem herrlichen, kleinen Gehölz biegen wir rechts ab. Wir steigen auf steilem Weg zur Paßhöhe des Dawancheng empor. Die Uhr ist sieben, als wir die Höhe erreichen. Ein paar Soldaten halten bei Araben Wacht. Bogdo-ola, der Berg Gottes, ist in Wolken gehüllt – wie unser Schicksal in Urumtschi auch. Im Dorf Po Cheng-tse lagern wir zur Nacht nach 159 Kilometern, wie gewöhnlich unter freiem Himmel. Um ½4 Uhr begann es zu regnen, erst leise, dann immer stärker. Man mußte ins Auto kriechen.

Am Morgen des 6. Juni wehte es frisch aus Nordwesten, aber der Himmel war klar. Es war der Tag der schwedischen Flagge. Die Temperatur war auf 15,4 Grad gesunken. Wir waren in ein kühleres Klima gekommen. Erst um 10 Uhr begannen wir unsere letzte Tagereise auf dem Weg nach Urumtschi. Nach einer Stunde fahren wir über offene Steppe mit Bergen ringsum. Der Weg ist schlecht. Es pfeift und heult um das Auto. Ein Sturm scheint im Anzug. Ein Reifendefekt verursacht einen halbstündigen Aufenthalt. Der Weg ist außerordentlich dürftig. Wir schaukeln über Wülste, Gruben und Grasbuckel. Wir fahren in nordwestlicher Richtung. In die Brennstoffleitung ist Staub und Sand gekommen, schon steht der Motor. Wir brauchen drei Stunden, um den Schaden zu beheben. Fast sieht es so aus, als wollte die Limousine uns nicht nach Urumtschi bringen.

Unterdessen schwatze ich mit Jaroslaview. Er ist Orenburger Kosak. Vor dem Weltkrieg war er dem Gardekosakenregiment zugeteilt. 1914 lag er in Petersburg, wurde nach Holland und England geschickt. Er kehrte über Norwegen, Stockholm, Finnland zurück. Im Jahr 1919 floh er nach Sinkiang zusammen mit dem Ataman der Orenburgkosaken Dutoff, der später von den Roten erschossen wurde. Im Jahr darauf kam er nach Urumtschi und hat seitdem in dieser Stadt gewohnt. Wie andere Weißrussen wurde er Soldat im Krieg gegen Ma. Er war unter anderm in dem russischen Korps, das von Kumusch durch den Kuruk-tagh nach Korla zog. General Ma hatte bei Urumtschi elf Kanonen erobert, die auf dem Rückzug bei Turfan vergraben wurden. Kürzlich hatte Sheng Tupan Leute ausgeschickt, sie zu suchen. Sechs waren gefunden worden. Sie lagen bei den Araben, die wir auf dem Paß bei Dawancheng gesehen hatten.

Endlich konnten wir weiterfahren und uns zwischen niedrigen Gebirgskämmen durchschlängeln. Hier kommt eine Karawane von etwa zwanzig mit Baumwolle beladenen Kamelen. Auf einer kleinen Schwelle werden wir wieder von Regen überrascht. Es ist halb dunkel. Wir scheinen nicht gerade willkommen zu sein. Rund 16 Liter Benzin sind noch übrig. Werden sie ausreichen? Jetzt geht es vorwärts. Wir kreuzen den Bach am Fuß des Gebirges, fahren ohne angetastet zu werden durch das große Dorf Dawancheng. Dort, wo Ma längere Zeit sein Quartier gehabt hat, kommen wir an Mauern mit Schießscharten vorüber. Um ½7 Uhr macht sich die Nähe von Urumtschi bemerkbar. Bald fahren wir durch das Tor in die türkisch-russische Stadt ein. Es geht vorbei an der früheren russisch-asiatischen Bank. Hier hatten wir 1928 gewohnt. Zehn Minuten später kommen wir durch das Tor der Tunganenstadt. Endlich sind wir am ersten Torbogen der Chinesenstadt angelangt. Alles geht gut. Im zweiten Torbogen aber springen bewaffnete Soldaten vor und rufen »halt!«

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Das Osttor von Urumtschi. Yew

Wir hielten augenblicklich an, um nicht erschossen zu werden. Ein Offizier trat vor und stellte herrisch die üblichen Fragen an uns. Eine große Volksmenge versammelte sich um das Auto. Soldaten und Tagediebe versperrten den engen überwölbten Gang. Wir mußten warten, während nach Sheng Tupans Yamen telephoniert wurde. Unterdessen durfte Jaroslaview aussteigen und verschwand für immer aus unserm Gesichtskreis. Der junge Offizier nahm den Platz des Kosaken im Auto ein und zeigte Serat den Weg nach dem Yamen. Der Offizier nimmt unsere Pässe und Besuchskarten und eilt hinein. Sehr bald kehrt er zurück mit einem Gruß von Sinkiangs Oberbefehlshaber. Er ließ uns sagen, wir müßten heute Abend der langen Reise wegen wohl zeitig zur Ruhe gehen. Aber morgen wollte er uns gern sehen und uns zum Mittagessen einladen.

Der junge Offizier begleitete uns darauf in Sheng Tupans Gästehaus, wo wir während unseres Aufenthaltes wohnen sollten. Weder Unterkunft noch Essen sollten uns etwas kosten. Ein großes Zimmer mit fünf Betten wurde uns zur Verfügung gestellt. Ein reisender Chinese wohnte bereits dort. Der Offizier ließ Waschwasser hereinbringen und erklärte, er habe Befehl erhalten, uns ganz zur Verfügung zu stehen. Wir brauchten ihm nur unsere Wünsche mitzuteilen.

Hier schloß ein Kapitel in unsern Abenteuern, und ein neues begann. Vom Standlager 70 waren wir rund 880 Kilometer in kaum sieben Tagen gefahren. Soweit war alles gut gegangen. Was die Zukunft in ihrem Schoß barg, wußte Gott allein. Von der Expedition waren wir abgeschnitten. Es war sicher, daß wir nicht einen Tag länger bleiben würden, als dringend nötig. Ebenso sicher werden Yew, Serat und ich jemals die Monate vergessen, die wir gegen unsern Willen in Sinkiangs Hauptstadt warten mußten.

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