Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Erster Band. Lehrjahre
Max Eyth

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113.

Neuyork, den 8. September 1867.

Eine fast zermalmende Niederlage! Unsre Eriekanaltruppe, de Mesnil und van Havre, kam gestern mit hängenden Köpfen von Albany zurück, zwischen Wut und Weltschmerz schwankend. Die Abgeordnetenkammer weigert sich, der Entschließung des Kanalboards beizutreten, der große Sturm auf den Staat Neuyork ist für den Augenblick schmählich abgeschlagen. van Havre stürzte nach Washington, um sich als junger Ehemann in den Armen der Liebe zu trösten; de Mesnil rauft sich seinen blonden Bart aus und geht nach Neuport, um Seebäder zu gebrauchen. Beide schimpfen auf einen alten Herrn in Buffalo, der den ganzen Feldzugsplan für sie entworfen habe, in unparlamentarischen Ausdrücken, und dieser wird vermutlich in seinen Kreisen die beiden Belgier in ähnlicher Weise mit Liebkosungen überschütten.

Mittlerweile hatte ich in Philadelphia freie Hand gehabt. Der Aufsichtsrat des Raritankanals hatte seinem Direktor Vollmacht gegeben, das Nötige mit mir zu vereinbaren. Nach einer langen, befriedigenden Beratung unterzeichnete der Herr den Vertrag für den großen Versuch und ich einen Sondervertrag in betreff der Einführung des Systems auf dem Raritankanal, demzufolge der Kanal im Fall eines günstigen Ergebnisses nicht mehr als 40–50 000 Dollar an de Mesnil zu bezahlen hat.

Der Schuylkillkanal war der nächste in der Reihe. Dessen Präsident, ein liebevoller alter Herr, ein vollständiges Gegenstück des Neuyorker Yankeetums, ist mit dem ganzen Plan einverstanden und verspricht, noch in dieser Woche die nötigen Formsachen zu erledigen. Dies gibt uns die beiden wichtigsten Kanäle des Staats, und so ist fast kein Zweifel mehr, daß wir hier an ein Ziel kommen werden.

Was damit gewonnen wird, ist wenig genug. Nur die Möglichkeit, zu zeigen, was uns selbst noch in manchen Punkten unklar ist. Es ist jedoch das einzig richtige, der einzig mögliche Weg, vorwärts zu kommen, indem gewisse praktische Fragen auf keine andre Weise beantwortet werden können als durch einen derartigen Versuch in großem Maßstab.

Der Verkauf eines der Fowlerschen Patente, den ich einzuleiten suchte, unterbrach diese Verhandlungen und führte mich auf etliche Tage nach Nordpennsylvanien in die merkwürdigen Kohlendistrikte des Lukawanatals. Die Fahrt von Delaware hinauf ist um diese Jahreszeit ein Hochgenuß. Die Bahnen in diesen Bezirken, die über Berg und Tal, durch Sumpf und Wald hinlaufen wie Feldwege in Deutschland, bieten eine Reihe von Aus- und Fernsichten, von wilden, ungestörten Naturbildern, wie man sie von den Fenstern eines Eisenbahnwagens in Europa kaum zu sehen bekommt. Und wenn auch im allgemeinen das Einförmige der amerikanischen Landschaften sich selbst in diesen Bergen nicht verleugnet, so ersetzt doch das prachtvolle, üppige Grün der Wälder, das förmlich mauerartig Massige des Baumschlags dem Auge, was es an kecken, mannigfaltigen Formen vermißt.

Verglichen mit englischen Kohlen- und Eisendistrikten mit ihren kahlen, melancholischen Wellenhügeln, mit ihren ewigen Nebeln und ihrem nie sich hebenden Rauch und Ruß sind diese amerikanischen Minengegenden wahre Paradiese. Begraben in grünem Waldesdickicht, liegen an den gewaltigen Bergabhängen oder in kaum zugänglichen Felstälchen die Schachtöffnungen. Durch fast undurchdringliches Gestrüppe von wildem Lorbeer, Stechpalmen, Eichen und Fichten drängen und schlängeln sich die unbegreiflichsten Eisenbahnen über Berggrate und, mit den ungezähmten Waldbächen in die Wette, durch Schluchten, in die man nur von Zweig zu Zweig sich schwingend hinunterkommt. Das Ganze ist eine solch wunderliche Mischung von wilder, ungestörter Natur und emsigem, geschäftigem Menschentreiben, wie sie eben nur in Amerika möglich ist.

Selbst unter dem Boden haben diese pennsylvanischen Bergwerke ein menschlicheres Aussehen. Die Minen im Lukawanatal, in welchem Scranton liegt, sind nur hundertsiebzig bis dreihundert Fuß tief, und sämtliche Schachte, die ich besuchte, haben sechs bis acht Fuß dicke Flöße, so daß Maultiere und Menschen unvergleichlich besser daran sind als die meisten ihrer europäischen Leidensgenossen. Im Schuylkilldistrikt sind die Flöße teilweise von einer Stärke von fünfzig bis sechzig Fuß, was des Guten beinahe zuviel ist.

Mit Oberst Olcott und seinen viertausend Dollar geht's noch nicht besser. Der Mann gibt nichts heraus, der Rechtsstreit ist im Gang; da jedoch die meisten Kongreßmitglieder sich und den Staat öffentlich und im Verborgenen bestehlen, so macht ihm das keinen Kummer. Eine so schamlose, alle Zweige des Lebens durchdringende Korruption, wie sie ein republikanisches Regierungssystem zur Entwicklung bringen kann, habe ich wirklich unter zweibeinigen Menschen nicht für möglich gehalten. Und was das Wunderbare an der Sache ist: je republikanischer, je allgemein-stimmrechtlicher, um so scheußlicher wird das Ergebnis der Selbstregierung. Pennsylvanien ist republikanisch, aber doch mit gewissen Beschränkungen, und die Interessen des Staats sind in den Händen der Kanal- und Eisenbahngesellschaften, welche die Masse beherrschen. Der Staat ist ein republikanischer; sein öffentliches Wohl liegt in den Händen von ein paar Dutzend Politikern und Schreiern, welche Volk, Kanäle und Eisenbahnen bestehlen wie die gemeinsten Spitzbuben. Neuyork (Stadt) ist republikanisch bis zur äußersten Grenze der Möglichkeit (man nennt diese Färbung hier »demokratisch«), und der letzte Kongreßmann, den die Stadt nach Washington schickte, ist buchstäblich ein versoffener Spieler. »Freiheit, die ich meine!« –

Das Auswanderungsfieber von drüben ist bei den hier herrschenden Zuständen eine schwer erklärliche Erscheinung. In Bewegungen dieser Art sind die einzelnen mit ihrem Wollen und Wissen nicht mehr als Atome eines aufgelösten Kristalls. Sie folgen dunkeln Gesetzen, die sie ebenso oft zum Untergang als zum Leben drängen und die oft Jahrhunderte später kaum erkennbar werden. Wie ist die Völkerwanderung erklärlich, oder die Kreuzzüge? Die modernen Goten, Sueven oder Vandalen ziehen heute nach Westen, nicht weil sie wollen, sondern weil sie müssen, und werden sich ohne Zweifel den Kopf auf den friedlicheren Riesenschlachtfeldern der Neuen Welt so übel zerschlagen als einst ihre Vorgänger auf denen der Alten. Wohl denen, deren Schädel hart genug ist!


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