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Neuyork, den 25. Mai 1867.
Manchmal können auch Tage des ungeduldigsten Wartens ein Segen sein. Ich genoß diesen Segen in Washington in doppelter Weise, denn ich hatte nach der einen Seite hin auf meinen Oberst O. zu warten, nach der andern die Ankunft des neuen Schleppzeugs in Buffalo, das irgendwo zwischen Neuyork und dem Erie stecken geblieben zu sein scheint. So konnte ich in den letzten Tagen das einzig greifbare Ergebnis meines Aufenthalts in Washington, meine Studien im Patentoffice, ordnen und versuchen, aus der verwirrenden Masse der Einzelheiten ein allgemeines Bild des amerikanischen Erfindens herauszuschälen. Woraus ein dickleibiger Aufsatz geworden ist, mit dem ich Euch wohlweislich verschonen werde.
Das Patentgesetz der Vereinigten Staaten verlangt, daß jede Patenteingabe von zwei Zeichnungen und einem aus hartem Holz oder Eisen verfertigten Modell der Erfindung begleitet sei. Letzteres soll womöglich ein »working model«, das heißt ein wirklich in Tätigkeit zu setzendes Modell sein; jedoch soll keine seiner Abmessungen die Länge von zwölf Zoll überschreiten.
Diese kurze, scheinbar unwesentliche Verordnung hat sich in mancher Hinsicht von hohem Werte erwiesen. Mittels des Modells wird nicht nur der Kommission, welche über die Erteilung des Patentes entscheidet, das Verständnis der Sache wesentlich erleichtert, sondern werden auch Zweideutigkeiten und Unklarheiten der Beschreibung, oft auch der Zeichnungen, nahezu unmöglich gemacht. Selbst der Erfinder wird genötigt, sich von der praktischen Möglichkeit seiner Idee vollständiger zu überzeugen, ehe er die Regierung mit eingebildeten Rechten behelligt. Wir suchen deshalb in amerikanischen Patentberichten umsonst nach dem Perpetuum mobile und andern Maschinen, welche die Gesetze der Natur über den Haufen werfen, wie sie zum Beispiel in England noch alljährlich in reicher Menge erscheinen.
Anderseits lag in dem erwähnten Gesetz eine schwerlich vorausgesehene Schwierigkeit. In Form von Papierbündeln lassen sich die Gedanken früherer Zeiten gar bequem ad acta legen; bestehen aber neben diesen papiernen Schätzen die Dokumente aus etlichen hunderttausend Modellen, zwölf Zoll in jeder Richtung messend, und vermehrt sich diese Sammlung mit der Schnelligkeit von einem Vierteltausend die Woche, so muß es einer bedrängten Verwaltung wohl bange werden, was mit dem unversieglichen Gedankenstrom eines rastlosen Volkes anzufangen sei.
Selbstverständlich war es aussichtslos, mit dem raschen Überblick, den ich mir gönnen konnte, ein übersichtliches Bild des Ganzen gewinnen zu wollen. Es ist dies eine physische Unmöglichkeit. Noch ist das Gebäude, welches für die Sammlung und ihren anschwellenden Reichtum bestimmt ist, nicht vollendet, kaum ist der letzte der Schränke mit Glastüren versehen und bereits ist jeder Quadratzoll des Raumes, der für dieses Jahrhundert ausreichen sollte, gefüllt. Die wöchentliche Anzahl gewährter Patente schwankt zwischen hundertfünfzig und dreihundert und ist in fortwährendem Wachsen begriffen. Deshalb ist auch der Überblick, den wir uns heute verschaffen, morgen in seinen Einzelheiten fast wertlos. Darin liegt ein gewisser Trost für den Mißerfolg des Tages.
Doch bleibt der allgemeine Eindruck, daß der Erfindungsgeist in Amerika ein wesentlich verschiedener ist von dem, der in der Alten Welt schafft.
Nicht die Not allein macht erfinderisch. Es gibt eine Lust am Erfinden, die von der Not unabhängig ist. Aber nur die Not reift Erfindungen. Wenn auch da und dort ein Gedanke wie vom Himmel gefallen scheint, er bleibt jahrzehnte-, jahrhundertelang ein unfruchtbares Nichts, bis das Bedürfnis ihm die nötige Gestalt verleiht.
Wir werden deshalb in den eigentümlichen Grundbedingungen des amerikanischen Lebens die Ursachen und das Charakteristische des Unterschieds suchen müssen.
Der Mensch mit den Bedürfnissen einer alten Kultur tritt hier in unmittelbare Berührung mit der materiellen Welt in ihrer ursprünglichsten Form. Der Urwald und die Prärie müssen noch täglich dem Indianer und der einsam herrschenden Natur abgerungen werden. Das Leben des neunzehnten Jahrhunderts stößt gewaltsam auf die Verhältnisse des ersten ägyptischer oder chaldäischer Zeitrechnung. Selbst in Städten wie die Handelsplätze des Ostens, welche äußerlich den reichsten der Alten Welt nichts nachgeben, fühlen wir auf jedem Schritt diesen Zusammenstoß und den Einfluß des wilden Westens, der mit seinen Bedürfnissen und Hilfsmitteln mitten in diesem Kampfe steht. Die erste Aufgabe der amerikanischen Technik ist, ihm die wirksamsten Waffen hierfür in die Hand zu geben.
Teilweise auf derselben Grundlage entwickelt sich eine andre bewegende Kraft. Es ist die Freiheit, in der sich jeder Amerikaner jeder Aufgabe des Lebens gegenüber fühlt. Der Schneider von gestern ist heute Präsident der Vereinigten Staaten, der Fleischer Doktor der Medizin, der Schuhmacher Ingenieur. Im Felde der Technik bietet diese Freiheit, welche in andern Gebieten der Mittelmäßigkeit und dem Schwindel Tür und Tor öffnet, geringere Gefahren. Trugschlüsse auf dem Gebiet der Nationalökonomie können ein Land zugrunde richten, ehe sie erkannt werden, Quacksalber und Winkeladvokaten ein Gemeinwesen physisch und moralisch vergiften und dabei in Ehren zu Grabe gehen. Eine Sünde gegen die Hydraulik straft sich hingegen rasch, und ein Verbrechen gegen die Festigkeitslehre schlägt den Missetäter tot, ehe es vollständig begangen ist. So bleibt in dieser Hinsicht für die erfindende Technik der Gewinn, die praktische Erfahrung in allen Gewerbszweigen, welche dem europäischen Ingenieur mehr oder weniger fremd sind, in ihrem Dienste tätig zu sehen. Ein kecker, durch nichts Hergebrachtes gebundener Mut und eine ins Unendliche sich verzweigende Mannigfaltigkeit charakterisieren deshalb vor allem den Erfindungsgeist der Yankees.
Sodann sind es, wie in jedem andern Lande, eigentümliche Richtungen, welche die Technik mit Vorliebe verfolgt. Sie ergeben sich aus den physischen oder sozialen Verhältnissen des Landes. Das gewaltige und durchaus eigentümliche Verkehrsleben auf dem durch keine Rassen- und Sprachgrenzen geteilten Festlande schuf die amerikanischen Dampfschiffe und Eisenbahnen in der ihnen eignen, von den entsprechenden europäischen Verkehrsmitteln grundverschiedenen Form.
Der Mangel an Arbeitskräften auf dem Gebiet der Landwirtschaft entwickelte die landwirtschaftliche Technik zu überraschender Vollkommenheit.
Die in den sozialen Verhältnissen liegende Schwierigkeit, weibliche Arbeit in genügendem Grade zu erhalten, führte auf die Nähmaschine, die Waschmaschine und die hundert kleinen Vorrichtungen, welche in Küche, Haus und Keller die härteren Arbeiten erleichtern und verringern.
Das rasche Entstehen der Städte und das durch die Natur reichlich gebotene Material entwickelte die Holzbearbeitungsmaschinen und so fort.
Auf der andern Seite drängt der unendliche Reichtum des Landes nicht, wie in Europa, zu der auf die höchste Stufe getriebenen Vervollkommnung der Hilfsmittel, und vor allem fehlt dem Amerikaner die wissenschaftliche Grundlage, mittels deren allein diese Vollkommenheit erreicht werden kann.
Auf welcher Seite des Atlantischen Ozeans die Erfindungskraft tätiger arbeitet, muß vorläufig wohl unentschieden bleiben. Der erste Eindruck täuscht allzuleicht. Auch der Amerikaner, der in Europa ankommt, fühlt sich in einer neuen Welt. Was die Priorität großer Gedanken betrifft, so kommt Amerika bei näheren Forschungen gewöhnlich schlecht weg; denn jede große Idee taucht im Laufe der Zeit zehnmal auf, ehe sie zur lebensfähigen Erfindung wird; Amerika ist aber zu jung, um sich mit der Alten Welt messen zu können. Wer die erste Turbine, das erste Dampfschiff, die erste Mähmaschine erdacht hat, sind selbst in der alten Welt nie ganz zu entscheidende Fragen.
Während hier in Amerika der Geist des Erfindens mehr ins Breite, Mannigfaltige arbeitet, erscheint er drüben konzentrierter; ist er hier vielleicht schöpferischer, so ist er in Europa entwickelter. Jedenfalls ist er hier wie dort kein Maßstab für das Geleistete. Der Gedanke ist nur ein Teil der Erfindung, ein viel unbedeutenderer, vom praktischen Standpunkt aus, als man gewöhnlich annimmt. Auf dem ganzen zehn Millionen Quadratkilometer umfassenden Gebiete der Vereinigten Staaten haben wir zu suchen, was dieser Geist, dessen Geburtsstätte ich in den drei Stockwerken des Patentamtes bewunderte, wirklich zu schaffen imstande war, wenn wir uns ein richtiges Bild von der amerikanischen Technik, verglichen mit derjenigen der Alten Welt, machen wollen.