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Die Nachricht von der Ankunft der drei Fremdlinge hatte sich noch am Abend wie ein Lauffeuer durchs ganze Dorf verbreitet und wurde in allen Häusern aufs Lebhafteste besprochen. Jeder der jungen Leute, der etwa in gleichem Alter mit Konrad stand, wollte ein besonders guter Kamerad von ihm gewesen sein, und die Männer, die einst als Knaben mit dem Balthasar in den Pfarrhof gegangen und mit ihm eingesegnet worden waren, hätten jetzt diese Ehre um keinen Preis hergegeben. Denn – wie für ganz gewiß erzählt wurde – hätten sich unter andern Sachen auf seinem von vier Pferden gezogenen Wagen zwei Fässer gefunden, eines mit Gold-, das andere mit Silbermünzen gefüllt, deren jedes zwei starke Männer kaum von der Stelle rücken konnten. Wer nicht zu diesen besonders bevorzugten Kreisen gehörte, war vor Allem neugierig darauf, wie der Judenjoseph, der Sohn des alten Isaak, sich als Christ ausnehmen werde.
Heutigen Tages möchte vielleicht Mancher es gar nicht verwunderlich finden, wenn eben erst Heimgekehrte den ersten Morgen nach ihrer Rückkunft trotz des Sonntags nicht in der Kirche, sondern in der Familie zubringen würden, in der guten alten Zeit aber war das ganz undenkbar. Als daher um sechs Uhr Morgens der Sonntag eingeläutet wurde, war man bereits in jedem Hause aufgestanden, rüstete das Frühstück und richtete die Sonntagskleider her: es war möglich, daß die Schloßleute heute früher als gewöhnlich im Dorf ankommen könnten, um noch vor der Kirche in einige Häuser zu gehen, und Jeder wollte gern unter den Ersten sein, denen es vergönnt war, sie zu sehen und zu begrüßen.
Wirklich hatten sich die Leute vom Schloß auch früh auf den Weg gemacht. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen. Aus den Wiesen im Thal stieg noch der Nebel in einzelnen Streifen, aber über die Masse desselben war die Sonne bereits Herr geworden, und man sah das helle Bächlein glitzernd zwischen den Erlen, die an seinem Ufer wuchsen, und in lustigen Sprüngen das Thal hinab dem Bach entgegeneilen, mit dem es bei der einzeln stehenden Mühle sich vereinigte. Am Himmel war kein Wölkchen zu sehen, und über der Erde lag eine frische, stärkende Herbstluft. Der Gerber und Konrad konnten die innige Herzensfreude nicht bergen, mit der sie des altbekannten, abwechselnd durch Tannen- und Laubwald führenden Wegs entlang schritten, den sie kaum noch einmal zu betreten gehofft hatten. Auch den Eltern Konrad's sah man es deutlich an, daß sie den Weg heut mit Gefühlen gingen, deren sie längst sich entwöhnt hatten, doch zeigte, außer dem Schäfer und Schimmelmann, Niemand besondere Lust viel zu reden. Die Stille, die in dem Wald herrschte, und so wohl zu dem Sonntagsmorgen stimmte, schien sich der Gesellschaft mitzutheilen, – auch wollten sie vor dem Kirchgang noch einen andern ernsten Gang thun, nämlich auf den Gottesacker, wo bereits seit drei Jahren die Gebeine von Balthasars Vater unter dem grünen Rasen schlummerten. Als sie darum aus dem Wald getreten waren, verließen sie den Weg nach dem Dorf und schlugen den wenig betretenen Feldweg ein, der auf die Obstbäume zuführte, zwischen denen der Gottesacker gelegen war.
Im Dorf zog sich mittlerweile allmählig die Bevölkerung auf die Kirche zu. Die Läutknaben hatten um acht Uhr mit der Glocke kaum das erste Zeichen gegeben, als schon hie und da einer, der im Sonntagsstaat vor der Hausthüre stand und über die Gasse hinüber mit dem Nachbarn die große Neuigkeit des Tages besprach, eilig Hut und Gesangbuch aus dem Hause holte und, einen Rosmarin im Mund, feierlich die Staffeln hinanschritt, die zu dem freien Platz um die Kirche führten.
Als es das Zweite läutete, mußten die Läutknaben bereits das Wettrennen, das sie bei dieser Gelegenheit zum regelmäßigen Aerger des Präceptors vom Schulzimmer aus über den Kirchplatz anzustellen pflegten, unterlassen. Denn Jung und Alt war so zahlreich auf demselben versammelt, daß man nur mit Mühe einen Weg durch die Volksmenge sich bahnen konnte. Am dichtesten war das Gedränge an dem kleinen Thürchen, durch das die Erwarteten, wenn sie den gewöhnlichen Weg einschlugen, hereinkommen mußten. Die Ungeduld wuchs von Minute zu Minute. Endlich hoffte man auf Befriedigung der Neugierde, als man einstweilen wenigstens den Schäfer und Adam die Straße heraufkommen sah.
»Wie steht's, kommen sie?« erscholl es von allen Seiten.
»Sie sind schon da!« sagte Adam. »Sie sind um's Dorf herum durch den Haag in's Pfarrhaus gegangen. Dort sind sie jetzt, sie haben etwas mit dem Pfarrer zu sprechen.«
»Der Joseph auch?« fragte neugierig eine ehemalige Nachbarin der Familie Ben Levi. »Ist der Joseph auch in's Pfarrhaus?«
»Freilich, sie sind alle sechs in's Pfarrhaus gegangen.«
»Alle sechs? Wer wär' denn der Sechste?« fragte der Dorfschulze, der auch sich herangedrängt hatte und trotz der würdigen Amtsmiene, die er sich zu geben suchte, ebenso neugierig war, wie die andern.
»Der Knecht, Herr Schulz«, sagte der Schäfer, »welchen der Balthasar sich aus Ungarn mitgebracht hat.«
»Der Knecht?« fragten mit langen, enttäuschten Gesichtern einige arme Bursche ledigen Standes, welche sich gern dem reichen Gerber zum Dienst angeboten hätten, »hat er sich einen Knecht gleich mitgebracht?«
»Ja und was für einen!« sagte Adam stolz, »einen, der zwanzig Jahre dem Kaiser gedient hat und wohl weiß, wie das Pulver riecht. – Ist keiner von den Kottwitzischen da, he? Sie haben gegen unser einen immer große Mäuler, obwohl ich und mein Herr so viel nach ihnen fragen, als nach einer pfeifenden Maus, aber wenn einer von ihnen das Herz hat, einmal mit dem anzubinden, dann soll er der erste Mainzische sein, vor dem ich meinen Hut abziehe.«
»Schweig, Adam«, sagte der Schäfer streng, »das sind keine Reden, die sich jetzt schicken. ›Bewahre deinen Fuß‹, steht dort über der Kirchthüre geschrieben, ›wenn du zum Hause Gottes gehst und komme, daß du hörest.‹ Es wird gleich jetzt zusammenläuten! Paßt auf, Herr Schulz, jetzt müssen sie kommen. Richtig, eben kommen sie aus dem Haus!«
Die Erwarteten nahten in langsamem Zug. Voran ging der Schloßbauer mit Joseph, den er an der Hand führte, dann kam Konrad und seine Mutter, ebenfalls Hand in Hand, hinter ihnen der Gerber und Schimmelmann. Alles drängte sich so nah als möglich hinzu, und viele hatten sich auf eine Begrüßung der Heimgekehrten und einen Glückwunsch für die Eltern gefaßt gemacht, aber Hollenstein und der Gerber hatten eine so ernsthafte feierliche Miene angenommen, daß die Menge sich in ehrerbietigem Schweigen zu beiden Seiten des Wegs aufstellte, und, wie sonst bei einem Festzug, ihnen den Durchgang offen ließ.
»Gott segne den Konrad«, flüsterten die Weiber durcheinander, die, als der Zug vorüber war, zuerst die Sprache wieder fanden. »Das ist gewiß ein guter Sohn, an dem seine Mutter eine Freude haben kann! Habt ihr gesehen, wie er immer so freundlich und liebreich den Kopf nach ihr wandte? Und was der für einen Gang bekommen hat! wahrhaftig man könnte ihn für einen jungen Grafen halten.«
»Der Hut mit dem Strauß, was ihm der schön steht, Nachbarin!« sagte eine ältere Frau. – »Wer den zum Mann haben will«, fuhr sie fort, an eine Schaar gaffender Mädchen sich wendend, »muß etwas werth sein. Die ihn bekommt, macht ein großes Glück.«
»Und der in dem schwarzen Gewand, den der Hollenstein führte, der mit dem ernsthaften Gesicht, das war also der Joseph?« sagte die oben erwähnte redselige Nachbarin. »Dem sieht man's an, daß er kein Jude mehr ist. War das ein seelengutes, aber verzagtes Bürschchen, als er noch mit seiner gelben Kappe und seinem Sack auf dem Rücken hinter seinem Vater herlief, wie ein junges Hühnchen hinter der alten Henne, und jetzt sieht er so frei sich um, als ob er niemals einen Tropfen jüdischen Blutes in sich gehabt hätte. Sagt doch, Schäfer, was hat er denn jetzt wohl für einen Zunamen? die Juden haben keinen, und als Christ muß er doch einen führen?«
»Merkt nur recht auf in der Kirche«, sagte der Schäfer mit schlauem Blick, »da werdet ihr's erfahren.«
»Hört, Andres«, sagte der Schulz etwas verdrießlich, »ich bin des Balthasar bester Kamerad gewesen. Wir sind den ganzen Tag beisammengesteckt und haben in der Schule und auf der Gasse manchen losen Streich angestellt. Ich dachte, er müßte mich kennen und mir zum wenigsten zunicken, und ich sage, er hätt' es auch thun dürfen und hätt' sich nicht zu schämen brauchen, denn ich hab' seit zwölf Jahren das Schulzenamt, und dazu kann man nicht jeden brauchen, aber es scheint, die zwei Fässer haben ihn stolz gemacht, und er hat seine alten Freunde vergessen.«
»Nein, nein!« sagte der Schäfer, »glaubt mir, das weiß ich besser. Jetzt macht er halt erst den Kirchgang, aber er hat gestern Abend zu mir gesagt, daß er am nächsten Mittwoch alle seine guten Freunde mit ihren Weibern in's Hirschwirthshaus laden wird. Da soll in der vornehmen Stube zu Mittag und zu Abend gegessen werden, wie bei einer Hochzeit, und der Pfarrer, der Präceptor und der Schulz, sagt er, sollen auch dabei sein. Wie er hörte, daß ihr jetzt der Schulz wäret, sagte er: ›Um so besser! der Casper ist ein alter Freund von mir, der soll zwischen mir und dem Pfarrer in der Mitte sitzen.‹«
»Wirklich, Andres? hat er so gesagt, Schäfer?« erwiederte der Schulz in bester Laune. »Nun so hab' ich mir's akkurat erwartet. Ich komm'! – Ihr könnt's ihm nur einstweilen sagen – ich komm' und meine Frau auch! So einem Freund thut man gern alle Lieb' und Ehre an. Aber, Schäfer, wer war denn eigentlich der langbeinige Bursche mit den geschlitzten rothen Hosen und dem breiten Schlapphut und dem großen Degen? Wenn das der Knecht war, von dem der Adam vorhin sprach, der sieht wirklich zum Fürchten aus.«
»Er heißt Reichert Schimmelmann und ist gebürtig aus Neinstedt bei der Stadt Quedlinburg in Sachsen. Er ist nicht so übel als er aussieht! denn mancher Mensch sieht schlimmer aus, als er ist, und mancher besser. Er hat vorher dem Kaiser gedient und jetzt dient er dem Balthasar. Als Landsknecht war er ein ganzer Kerl und hat's zum Gefreiten gebracht und, wie ich's euch einmal alles von vorn an erzählen werde, dem Konrad und dem Balthasar das Leben gerettet. Aber so als Pferdeknecht, glaub' ich, ist er nicht Fisch und nicht Fleisch, ich fürchte, wenn sein Herr ihn als Knecht haben will, wird er sich neben ihm noch ein paar andere Knechte dingen müssen. Denn das sag' ich euch, Schulz, er redet mit seinen vier Pferden, als wenn sie leibhaftige Rekruten wären, und hat ihnen Namen gegeben, Namen, die auf hundert Stunden Wegs weit kein Mensch versteht, als ich. Nicht, daß ich etwas Böses wider ihn sagen will, aber er ist so eine alte Kriegsgurgel, und ihr wißt selbst, wer das Kalbfell hat brummen hören, der ist für den Pflug Ein für allemal verdorben.«
»Ganz recht, Schäfer, doch es hat ausgeläutet und wir müssen gehen. – Wenn ihr dies Jahr einmal eure Schafe auf den Gemeindeanger treiben wollt, wie's sonst der Brauch war, so sagt mir's nur, ich hab' dies Jahr nichts dagegen!«
Die Leute vom Schloß und die Neuangekommenen hatten nach des Pfarrers ausdrücklicher Anordnung im Schiff der Kirche auf der ersten Bank dem Altar gegenüber Platz genommen. Als die Predigt vorüber war, und die Verkündigungen abgelesen, forderte der Pfarrer die Versammelten auf, zu einem Dankgebet sich zu erheben, welches sechs Menschen, zum Theil aus der Gemeinde gebürtig, dem großen und grundgütigen Gott öffentlich darbringen wollten wegen der wunderbaren Errettung aus unglaublichen Gefahren und großem Kummer, die ihnen zu Theil geworden, und mit ihnen anzustimmen den ersten Vers des Loblieds Nr. 2 im Gesangbuch. Ueberwältigt von den Gefühlen, die sein Herz bewegten, trat der Gerber aus der Bank heraus und kniete langsam in dem freien Raum vor dem Altar Angesichts der Gemeinde nieder, während ihm die hellen Thränen aus den Augen strömten. Die übrigen folgten seinem Beispiel, und durch die ganze Kirche hörte man ein lautes Schluchzen der Rührung. Die Orgel intonirte, und die Gemeinde, von dem alten Präceptor wohl unterwiesen, sang wie Ein Mann den schönen Vers:
»Nun lob, mein Seel', den HErren,
Was in mir ist den Namen sein:
Sein' Wohlthat thut er mehren,
Vergiß es nicht, o Herze mein!
Hat dir dein Sünd' vergeben
Und heilt dein' Schwachheit groß,
Errett't dein armes Leben,
Nimmt dich in seinen Schooß,
Mit rechtem Trost beschüttet,
Verjüngt dem Adler gleich,
Der HErr schafft Recht, behütet
Die leiden in seinem Reich.«
Als der Vers gesungen, und die Knieenden sich wieder erhoben hatten, sprach der Pfarrer weiter:
»Einer christlichen Gemeinde wird auch noch Folgendes zu wissen gethan, daß Joseph, der Sohn des verlebten Isaak Ben Levi, ein geborner Jude aus hiesigem Ort, unter Gottes wunderbaren Führungen und, wie man sich von Amtswegen vor einer Stunde wohl überzeugt hat, erleuchtet von dem heiligen Geist, den christlichen Glauben angenommen hat, von nun an unserer Gemeinde angehört und nach dem Willen getreuer Freunde den Namen Joseph Balthasar Hollenstein führen wird.«
Die Familie Konrad's, zuerst der Vater, dann die Mutter und endlich Konrad selbst reichten dem überraschten Joseph zum Zeichen, daß sie ihn als Sohn und Bruder jetzt ansehen wollten, öffentlich vor der Gemeinde die Hand, während der Pfarrer mit dem Gebet schloß, daß der HErr ihn auf dem Weg des Lebens erhalten möge, und die Gemeine herzlich ermahnte, ihn als einen unter dem Kreuz Jesu Christi wohl bewährten Mitchristen zu lieben und zu ehren.
Das Gebet hat, wie die Folge zeigte, im Himmel seine Erhörung, und die Ermahnung bei der Gemeinde eine gute Statt gefunden.
Ende.