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»Der Herr Doktor wollen entschuldigen – ich hatte drei Mal laut angeklopft, bekam aber keine Antwort und dachte, Sie seien schon fortgegangen – ich möchte fragen, ob –«
Egon rührte sich nicht; er saß vor seinem Tische, den Kopf in die linke Hand gestützt, die seine Augen bedeckte – er sah und hörte nichts. Er war seit zehn Minuten vollständig in Gedanken versunken. Sein freudloses Leben war an ihm vorübergezogen: früh elternlos war er von fremden Leuten erzogen worden; mit Hülfe von Stipendien konnte er seine Studien als Mediziner machen – er hatte seine Examina glänzend bestanden und überlegte, wo er sich als Arzt niederlassen sollte. Er hatte keinen einzigen wahren Freund, sein etwas scheues, fast zurückstoßendes Wesen mochte Schuld daran sein. In der Zeit der angestrengten Arbeit hatte er es weniger empfunden, aber jetzt fühlte er sich plötzlich ganz einsam und verlassen.
Und alles jauchzt und jubelt,
Und alles grünt und blüht,
Und durch die milden Lüfte
Ein Frühlingsahnen zieht.
Diese Verse hatte er heute Morgen niedergeschrieben, als die Sonne hell in sein Fenster schien, als die warmen Frühlingslüfte ins Zimmer drangen, als er die Natur im schmucken jungen Grün sah und dem Sange der Vögel lauschte. Ja, der Frühling war ins Land gezogen, aber in seinem Innern war trüber, kalter Winter.
Er mußte nach einer fremden Stadt ziehen, er mußte die ihm lieb gewordene kleine Wohnung verlassen – was fesselte ihn denn so daran?
In seinem Herzen empfand er jäh ein ihm bisher ganz unbekanntes Gefühl – es pochte und hämmerte und trieb ihm das heiße Blut in die Schläfen, seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, sein Gesicht nahm einen ganz veränderten, verklärten Ausdruck an, und ein tiefer, vom Herzen kommender Seufzer entrang sich seiner Brust – Das war's! Jetzt wußte er es mit einem Mal! – er liebte sie, die blonde Else. –
Wie hatte sie auch in all der Zeit, während der er bei ihrer Mutter wohnte, für ihn gesorgt; wie hatte sie ihn gepflegt, als er drei Wochen schwer krank darnieder gelegen – ja – das war's! – Doch würde sie, das lebenslustige Kind, ihn, den ernsten Mann, erhören? – Hatte die Mutter nicht schon davon gesprochen, daß sich ein Vetter für Else interessierte? Diese hatte allerdings kein Wort dazu gesagt. –
Egon saß noch immer regungslos da, und das blonde Elschen stand in seinem Zimmer vor der Tür und wußte nicht, was zu tun. Sie wollte leise wieder hinausgehen und konnte es nicht, sie konnte ihre Füße nicht rühren, sie konnte ihre Augen nicht von dem in Gedanken versunkenen und scheinbar unglücklichen Mann abwenden. –
Er müsse jetzt fortziehen, hatte er mit dem gleichgültigsten Gesicht gestern gesagt, und ihr war es, als würde im selben Augenblick ein Messer in ihr Herz gestoßen. –
»Herr Doktor wollen entschuldigen,« wiederholte sie, einige Schritte näher tretend, »ich,« – der Herr Doktor bewegte sich nicht – doch ja – jetzt wischte er sich eine Träne aus dem Auge, oder schien es nur so? – –
»Herr Doktor, ich,« begann sie etwas lauter – ihr wurde so seltsam zu Mute –
Da entrang sich plötzlich Egons Brust wie ein Erlösungsschrei das eine Wort: Else! – er war aufgesprungen, drehte sich wie geistesabwesend um – da stand sie vor ihm, die er liebte mit seinem ganzen Herzen, da stand sie vor ihm, in jungfräulicher Scham errötend – ihre Augen trafen sich und ihre Herzen erzitterten – –
Die warme Frühlingsluft umkoste sie berauschend, ein Buchfink ließ sein Lied erschallen.
Stumm standen sie da, keines Wortes mächtig.
Als aber dann Egon mit ausgebreiteten Armen auf sie zugegangen, als sie glückselig an seiner Brust lag, als ihre Lippen sich in einem langen Kusse gefunden hatten, da flüsterte Egon leise die Worte:
Und alles jauchzt und jubelt,
Und alles grünt und blüht,
Und durch die milden Lüfte
Ein Frühlingsahnen zieht.