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Ich hatte jetzt anderes zu thun und zu denken, da durfte kein Gedanke nebenaus gehen, da mußte man mit Leib und Seele dabei sein.
Wir konnten Seridja chloroformieren, und die Operation ging leicht und regelrecht. Als sie wieder aufwachte, bat ich sie, nicht zu reden und sich nicht zu rühren; sie sagte nichts als – Rack.
Der Hund hatte verstanden, er ging ans Bett, legte seinen Kopf auf den Rand der Matratze, und das Kind legte seine Hand auf den Kopf, und so waren die beiden stundenlang ruhig und lautlos. Ich hatte nur zu thun, um die Mutter zu beruhigen, die darüber ganz außer sich war und Angst hatte und das Kind zum Reden bringen wollte.
Es ist ein Glück, wenn man von jemand weiß, es ist dumm, da hat man die rechte Geduld; das kann ja nicht anders.
Es ist das beste, wenn der erste Verband recht lang liegen bleiben kann; ich sagte das dem Kind, ich sah, wie es die Zähne zusammenbiß und still den Hund zerrte, sie blieben aber beide ruhig und lautlos.
Ich sitze bei dem Kinde in der Dunkelstube, hier ist Nacht, draußen ist Tag, wir sehen nichts davon; draußen ist wohl Lärm und Getriebe, ich höre nichts als den Atem des Kindes und den des Hundes, er seufzt manchmal tief.
Alles ist gut geworden. Als das Kind wieder zum erstenmal reden durfte, sagte es:
»Ich habe in Gedanken mit dir Steine geklopft, und da sind Feuerfunken heraus, und die haben gesungen, so schön, so sanft, aber keine Lieder, nur schön geklungen hat's.«
Das Kind war wie verwandelt und hat mir geholfen, die Mutter zu beruhigen, die es immer küssen und umarmen wollte. Sie weinte vor Freude, und ich hatte die größte Angst, daß sie das Kind auch weinen macht; aber es hielt sich tapfer.
Wir gewöhnten das Kind allmählich ans Licht, und mir sind die Thränen in die Augen gekommen, wie das Kind sagte:
»Ich seh' dich, Mutter, ich seh' dich, Gitta, und ich seh' dich, Rack.«
Wir durften zum erstenmal miteinander ausgehen an den See. Es war ein bedeckter Tag, keine Sonne am Himmel, Seridja küßte mir die Hand, dann sagte sie:
»Schau, wie sich der Rack freut, der möchte gewiß auch gern sagen, wie er sich freut, daß ich sehen kann. O die Bäume und das Wasser und die Menschen und die Häuser und die Schiffe . . .«
Ich habe Seridja natürlich gedämpft, so viel als möglich. Sie war auch still, nach einer Weile rief sie aber wieder:
»O! So weit! So weit! Wie ist die Welt so weit und der Himmel so hoch! Ich meine aber, ich kann ihn anfassen.«
Alle Leute, die uns begegneten, sahen uns an, wie wenn sie auch wüßten, daß das ein Blindes gewesen ist; sie blieben stehen und betrachteten das Kind. Ja, ein schöneres Menschenkind hat man nicht sehen können; es hatte goldrotes Lockenhaar und das ganze Gesicht wie das schönste Gemälde, und erst die Augen! Die waren so veilchenblau und glänzten, und das ganze Gesicht war wie lauter Licht, wie wenn da überall Helligkeit davon ausstrahlte.
Jetzt ging aber bei Seridja das Fragen erst recht an. Als wir zum erstenmal auf die Landstraße kamen, wies sie auf die zerkleinerten Steine, hob einen auf und wollte wissen, in welche Form man sie zerschlagen muß – man kriegt viereckig nicht heraus – und welches die tauglichsten Steine seien.
Das Fragen machte mich ganz wirr.
Ich hatte gemeint, ich dürfe jetzt wieder heim, aber der Professor sagte mir, die Mutter könne wieder alles verderben, ich müsse also noch bleiben und achthaben.
Wir sind auch manchmal auf dem See umhergefahren, den ich seit Jahren von da oben gesehen hatte; auch sind wir einmal auf den Rigi und da oben über Nacht geblieben. Die vielen Menschen waren glücklich über den Sonnenaufgang, natürlich am meisten die Seridja. Ich für mich muß sagen, es war schön, just etwas Besonderes aber nicht.
Ich bin mit Rack wieder in die Anstalt zurück. Der Hund hat seine Freude, daß er wieder heim darf, laut gegeben; ich bin still und langsam den Berg hinangegangen.
Ja, wegen des Rack sind die Mutter und Seridja mir bös geworden und arg undankbar.
Seridja hatte den Hund behalten wollen, und ich war voreilig, ich hätte den Professor sollen zuerst reden lassen; nun aber sagte ich, daß der Hund eine Wohlthat für alle Kranke sei und ihn nicht ein einzelnes behalten dürfe. Der Professor stimmte mir bei, aber die schönen Augen der Seridja konnten auch gar bös blicken, giftig und ingrimmig. Sie hatte eben noch nie erfahren, daß man ihr auch was versagen könne, und es war eine ganz andere Stimme, wie sie beim Abschied zu mir sagte:
»Du kannst gehen mitsamt dem Hund. Fort, fort mit euch . . .«
Die Mutter und Seridja verließen auch bald den Gasthof und wohnten bescheiden in einem Landhaus am See. Sie warteten auf den Vater, der aus Indien kommen sollte, sie warteten seit langem vergebens, und auch die Geldsendung blieb aus.
Nun ward Ronymus der Annehmer von der Mutter und Tochter und stand ihnen in allem bei, er hat freilich auch Vorteil davon gehabt.
Eines Tages kam er zu mir und sagte: »Jetzt komme ich auf den Gaul. Die Engländerin hat mir einen Schmuck gegeben, den ich im Pfandhaus versetzen solle. Ich gehe auch hin und frage, was er wert sei, er ist viel wert, so ist keiner in der ganzen Schweiz. Das Pfandhaus borgt nur das Drittel vom Wert auf das Pfand. Ich denke, das kannst du auch, und wenn das Unterpfand nicht eingelöst wird, hast du den dreifachen Wert und hohe Zinsen in jedem Fall.«
Ich muß gestehen, ich hatte Wohlgefallen an Ronymus, er war mehr, als ich gemeint habe; aber ich wollte von dem Geldverdienen nichts mehr wissen, ich habe genug davon erleiden müssen.
Ich muß auch gestehen, es kränkte mich doch noch, daß die Mutter und die Seridja so undankbar gegen mich waren. Sie kannten mich nicht mehr, sie brauchten mich ja nicht mehr. Von der Mutter verdroß es mich weniger, sie war dumm, und ich habe noch keinen gescheiten Menschen kennen gelernt, der undankbar war; aber die Seridja! Ich mußte es verwinden, aber weh that's.
Der Vater ist aus Indien gekommen, ist mit Frau und Tochter abgereist, bei mir haben sie keinen Abschied genommen.
Der Ronymus kam und berichtete mir, welch ein Glück er gemacht habe; der Engländer habe ihm alles bar bezahlt und noch ein gut Stück Geld dazu gegeben.
»Eigentlich,« sagte er und sah mich dabei so seltsam an, »eigentlich müßte ich dir die Hälfte abgeben, denn daß ich mit der Engländerin so gut bekannt geworden bin, verdanke ich dir. Aber ich meine, wir lassen die beiden Hälften bei einander und haben sie zusammen.«
Ich verstand wohl, was er meinte, aber ich sagte nichts darauf.
Ich klagte der Doktorin mein Leid über den Undank. Sie nahm mir alles geduldig ab und sagte endlich:
»Du vergißt immer wieder, daß es böse Menschen gibt. Laß dich dadurch ja nicht verleiten, gegen andere hartherzig zu sein. Was können diese dafür, daß sie darunter leiden sollen? Und wenn man's recht betrachtet, braucht man keinen Lohn und keinen Dank. Wir thun unseren Nebenmenschen das Gute, weil es gut ist, und da ist Lohn genug in dem Glück, Gutes thun zu dürfen. Es gibt Menschen, an denen auch Leid und Elend nichts bessert, und doch ist das die heilige Lehre, daß aus Leiden Seligkeit stammt.«
Die Doktorin mußte mir's angesehen haben, daß ich denke: Woher hat's nur die Frau, daß sie so über die Welt weg redet, als ob sie gar nicht mit thäte, und sie thut doch rechtschaffen mit?
Das mußte mir die Doktorin angesehen haben, und sie sagte:
»Gitta! Ich gehe bald fort, ich weiß nicht, ob ich dich je im Leben wieder sehe. Ich wünsche den Tod nicht, aber ich erwarte ihn ruhig. Ich muß dir doch noch meine Geschichte erzählen. Sie ist dir vielleicht auch gut.«
Die Doktorin erzählte. Ich meine, ich höre sie jetzt noch sprechen, und könnte ihr Wort für Wort nacherzähle: