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Zweites Kapitel.

»Alle neun! Das wäre just das Rechte gewesen,« sagte Jakob wehmütig scherzend, denn neun Kinder wurden im Bahnhäuschen Nummer 374 geboren. Allemal abends zwischen dem Güterzug und dem Pariser Eilzug meldete Jakob das Neugeborene beim Pfarrer an, und er that das immer so geschämig und atmete erst wieder leicht auf, wenn er auf der Freitreppe am Pfarrhaus seine Dienstmütze wieder aufsetzte und seine Pfeife anzündete. Er vergaß aber auch nie, vom Bäcker Weißbrot mit heim zu nehmen für Magdalena und mürbe Mütschele für die Kinder, die ihnen das Schwesterchen oder Brüderchen mit auf die Welt gebracht. – In den Nächten hätte keine Frau für das Neugeborene besser sorgen können als Jakob. Jedesmal das jüngste Kind war sein liebstes, und bitter war nur das Aufsuchen von Gevattern; wer dazu angesprochen wurde, war zwar bereit, aber hart war's eben doch, daß man stets gefragt wurde, ob denn Mann und Frau keine Verwandten hätten. Magdalena hatte die Antwort bereit gemacht, alle Anverwandten seien nach Amerika ausgewandert. Jakob verstand sich schwer auf diese Notlüge, aber er mußte sie doch gebrauchen. Vier Kinder starben, zwei bald nach der Geburt, ein Knabe im Alter von fünf Jahren – die Mutter vergißt den lieben Konrad nie – und ein Mädchen von zwanzig Monaten; es soll aber so gescheit gewesen sein, wie sonst ein Kind von drei Jahren, und Magdalena weiß merkwürdige Aussprüche und Thaten von ihm zu erzählen, ja sie behauptet manchmal, dies Kind wäre noch das bravste und gescheiteste geworden; aber die andern Kinder, drei Töchter und zwei Söhne, sind gut gediehen.

Magdalena hat wohl recht, die Kinder haben nicht viel Unterweisung in Worten bekommen, von ihr selber wohl manchmal, aber vom Vater nie; sie haben indes vom ersten Atemzuge an Liebe und Fleiß vor sich gesehen und nie ein böses Wort über einen Nebenmenschen gehört.

Nur einer war aus der Art geschlagen oder vielleicht hatte er etwas von der Art des Großvaters, vom lustigen Frieder. Jakob ließ den Gedanken nie zu Wort kommen, wenn er das dachte, denn er wußte, wie sich Magdalena darüber grämen würde, und Magdalena, die alle Gedanken ihres Mannes erriet, ja sogar solche, die er nicht hatte, war ihm still dankbar für seine Zurückhaltung.

Jakob hatte seine besondere Lust daran, das kleinste, bis es laufen konnte, so oft als möglich auf dem Arm herum zu tragen, und er pfiff ihm – denn singen konnte er nicht – die alten Weisen, die er vordem als Postillon geblasen; nur an einer schönen Weise möchte er gern vorbeikommen; sie weckt gar traurige Erinnerungen, aber sie summt immer wie eine verscheuchte Wespe um ihn her, und eine Wespe wird man schließlich am besten los, wenn man sie gewähren läßt, dann sticht sie nicht und fliegt davon. So ließ also Jakob auch die Weise von jener Nacht, da er ins Verbrechen verfallen war, laut werden, und als sie wieder und wieder kam, brachte sie keinen Stachel der Erinnerung mehr mit.

Das älteste Kind, Emil – der Pate des Advokaten Heister, der den Eltern aufgeholfen hatte – war einer der besten Schüler in der eine halbe Stunde entfernten Dorfschule, und er ward Lehrer seiner Geschwister, ja sein Hauptvergnügen bestand darin, in dem einsamen Bahnhäuschen mit den kleinen Geschwistern Schule zu halten, und was noch seltsamer war, die Eltern selbst gingen bei ihm in die Schule. Jakob schämte sich, zu bekennen, daß er mit Lesen und Schreiben nicht mehr zurecht komme, aber Magdalena trat für sich und Jakob mit dem offenen Bekenntnis heraus; denn sie hoffte auch, daß ihr Mann, besser geschult, später einen höheren Dienst bekomme. Sie sagte Emil, daß vor Zeiten die Schulen nicht so gut gewesen seien wie jetzt, und kurzum, die Eltern lernten von dem ältesten Sohne wieder schreiben und lesen. Magdalena war noch etwas weiter voran als Jakob, aber sie hielt an, um in gleichem Schritt mit ihm zu bleiben.

Wenn die jüngeren Geschwister zu Bette gebracht waren, saßen die Eltern an den langen Winterabenden bei Emil im Unterricht. Emil erhielt sogar Schulgeld, jede Woche zwei Kreuzer, die er auch haushälterisch zusammensparte.

Wer aber einen wunden Finger hat, der stößt sich öfter dran; natürlich, wenn er sich an den gesunden stößt, weiß er's nicht. Und eine Wunde wollte bei Jakob nicht heilen, sie brach sogar jetzt auf.

Emil diktierte zusammenhanglose Worte, wie sie in der Fibel standen, aber für die Eltern wurden die Worte zu Erinnerungen.

Emil diktierte: Hag! Henne!

»Stehen die Worte wirklich da nebeneinander?« fragte Magdalena; sie sah ihren Mann schweratmend an, sie gedachte jenes Abends, da sie, ihre Henne suchend, Jakob am Schloßhag zuerst ordentlich sprach.

»In der Schule darf man beim Diktando nicht sprechen,« belehrte Emil und es ging weiter gut. Waldhorn! diktierte Emil, und »Waldhorn« sagte Jakob fröhlich.

Beim Z aber ging's bös. Emil diktierte: Zange. Zuchthaus.

»Steht das da?« fuhr Jakob auf.

»Ja.«

»Ich hab' genug,« sagte er aufstehend, und als das Licht gelöscht war, sagte er zu Magdalena:

»Ich mein', wir müßten den Kindern sagen, was mit uns war, bevor sie's von andern erfahren.«

»Und ich sag' nein. Sie verlieren den Respekt, zu weiter hilft es nicht.«

»Du kannst es leichter ertragen, du bist unschuldig, aber ich –«

»Du bist unschuldig, ja, daß du dir dein Herz abplagst. Du bist braver als Tausende. Gut Nacht, du mein lieber guter Karl, du darfst mir meinen Jakob nicht weiter plagen, ich leid's nicht. Laß ihn schlafen. Gut Nacht.«

Es war still in dem kleinen Häuschen, nur draußen von der Bahnlinie her tönte es wie Aeolsharfenton, denn der Nachtwind spielte seine unfaßlichen Weisen in den ausgespannten Drähten des Telegraphen.

»Du lachst? du schläfst noch nicht?« fragte Magdalena nach geraumer Weile.

»Ja,« flüsterte Jakob, »ich will dir's sagen. Mir ist eingefallen, in meiner Heimat war eine Frau, der hat man nachgesagt, sie könne durch Anhauchen eine offene Wunde heilen. Verstehst du mich?«

»Nein, was meinst du damit?«

»Du bist auch so, du kannst's auch. Deine getreuen Worte heilen meine geheime Wunde.«


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