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»Der älteste Sohn in Frankreich und die älteste Tochter in Ostindien,« sagte Jakob am Feierabend, »hat der Bub noch nicht einmal auf den schon so lange geschriebenen Brief von der Verlobung seiner Schwester geantwortet. Ja du,« wendete er sich zu dem Bilde, »ein Nichtsnutz bist du. Ein Nichtsnutz!«
Nach Art der Mütter suchte Magdalena den Sohn zu entschuldigen; vielleicht sei ein Brief verloren gegangen.
»Ja, ja,« entgegnete Jakob, »ich wünsch', daß du recht haben mögest, ich mein' aber, du redest dir nur selber ein, was du sagst. Ein Nichtsnutz ist der Bub. Ich sag' mir's nur ehrlich und muß es tragen.«
Er hatte das rechte Wort gesagt, und wußte doch nicht, was in Hyères vorging.
Heister war schwer krank geworden, war aber jetzt bereits wieder genesen und Emil hatte ihn mit einer Liebe und Sorgfalt gepflegt, die kein leibliches Kind nachhaltiger und geduldiger üben konnte, und dabei hatte er eine Art der Erheiterung, ein scherzhaftes Zureden, daß Heister einmal sagte:
»Du hast doch viel von deiner Mutter. Du weißt gar nicht, wie lieb mir deine Mutter war.«
»Jawohl, das weiß ich,« entgegnete Emil, und Heister merkte nichts von dem triumphierenden Tone, mit dem er das aussprach.
Er ging am Arme Emils wieder spazieren und wiederholt sagte er, er habe Lust, sich in der Heimat auf ein kleines Landgut zurückzuziehen, er möchte Emil gern lebenslang bei sich behalten, aber es wäre unrecht, ihn seinem Berufe und einem selbständigen Leben zu entziehen.
»Bist du um Verlängerung deines Urlaubes eingekommen?« fragte Heister dann. Emil bejahte und doch hatte er das mit Absicht unterlassen; es war ja unmöglich. in das kleinliche Lehrertum, wie es ihm jetzt erschien, wieder einzutreten.
In der Nachbarschaft der beiden Männer lebte ein junges Ehepaar aus Norddeutschland; der Mann, der als Hauptmann im Heere diente, war schwer krank und die feine, lebhafte junge Frau pflegte den Rettungslosen mit der vollen Hingebung einer Liebenden.
Emil stand in freundlichem Verkehr mit dem jungen Ehepaar, und der jugendlich frische, allzeit gefällige »Sekretär des Justizrats« war den beiden zur Stütze. Daneben hatte er mit der jungen Frau ständig einen Austausch von Büchern, die reichen Gesprächsstoff boten, denn Emil hatte mit großer Schnelligkeit sich das Französische angeeignet. Heister ermahnte ihn oft, sich mit dem französischen Schulwesen und mit wissenschaftlichen französischen Werken bekannt zu machen. Er nahm selber Einsicht von den Büchern, die zwischen Emil und der jungen Frau hin und her gingen. Er konnte diese Lektüre nur mißbilligen und warnte die jungen Leute: Man lese dergleichen nicht ungestraft; er betrachte diese pikanten Romandichter in gewisser Hinsicht als Verräter an ihrem eigenen Vaterlande, denn es könne nicht wahr sein, daß eine Nation aus einer so großen Anzahl solcher Personen bestehe; wäre das der Fall, so gäbe es, abgesehen von der Seltenheit rein sittlicher Ehen, zuletzt kaum mehr eine redliche Gemeindeverwaltung oder eine rechtschaffene Vormundschaft für Waisen, überhaupt keine sittliche That mehr.
Die beiden jungen Leute hörten den »Pedanten« mit mitleidiger Nachsicht an und scherzten oft über ihn.
Dagegen erhielt Heister von dem kranken Manne die Schriften von Fritz Reuter, und so schwer es ihm anfangs als Süddeutscher wurde, er las sich in dieselben hinein und wiederholte oft, er verdanke seine volle Genesung, die Erheiterung seines Gemütes den sonnigen Schriften des plattdeutschen Dichters.
Als im Frühling der Offizier starb, vererbte er ausdrücklich diese Bücher dem Justizrat Heister. Die junge Frau war zerbrochen und verlassen, und sie gestand Heister, daß sie nach den Landesgesetzen als kinderlos auch erblos sei und sich ihren ferneren Lebensunterhalt durch Arbeit suchen müsse.
Ob sie dies auch Emil mitgeteilt, blieb zweifelhaft; er nahm ihr alle Mühseligkeiten ab, und nach ihrer Abreise war er mehrere Tage in sich gekehrt.
Heister berichtete ihm von dem grausamen Gesetze, das die junge Witwe nun der Armut übergab.
Emil erwiderte hierauf nichts, sondern sagte: »Ich war im Bagno in Toulon, ich habe in das Chaos der Verbrecherwelt hinein gesehen. Aber was ist das alles noch gegen Menschen, die mit dem Brandmal behaftet, Kinder in die Welt hineinsetzen und ihnen von der Geburt an ein Brandmal aufdrücken?«
Heister erzitterte und brachte endlich die Worte hervor: »Was sagst du?«
»Sie haben mich wohl verstanden,« entgegnete Emil mit eisiger Kälte. »Herr Justizrat! Ich möchte einmal ganz offen mit Ihnen sprechen und den Heimlichkeiten ein Ende machen. Darf ich?«
»Sprich nur.«
»Ich überlasse es Ihnen, welchen Namen ich haben soll, obgleich mir natürlich der ehrliche lieber wäre. Ich werde mit Leichtigkeit die Landwirtschaft erlernen, daß ich Ihr Gut in der Heimat bewirtschaften kann. Ich glaube, Ihnen gezeigt zu haben, wie ich Sie treulich pflege, und mit mir wird das allzeit Emilia thun.«
»Emilia?«
»Ja, Emilia. Wir haben uns gelobt, wenn die Trauerzeit vorüber ist, uns anzugehören. Sie werden als Vater die Einwilligung gehen.«
»Vater? Ich?«
»Nun denn, so muß ich's sagen. Der Mann im Bahnhäuschen heißt mein Vater, aber Sie, aber du –«
»Pfui!« konnte noch Heister rufen, dann verfiel er in einen Hustenanfall, daß es schien, er sinke sofort in den Tod; er wehrte Emil ab, der ihn in die Arme fassen wollte, aber bald konnte er sich dessen nicht mehr erwehren.
Heister erholte sich wieder, er öffnete die Augen, er sah Emil, er schloß die Augen wieder und schien sich lange still zu fassen. Mit großer Selbstbeherrschung sagte er dann, daß die verdorbenen Bücher die Seele Emils vergiftet hätten; Emil habe sich schwer versündigt, aber es könne ihm noch verziehen werden. Heister hielt mit scharfem Bedacht die bittern Worte zurück, die ihm auf der Lippe schwebten, er fürchtete, Emil zu einer verzweifelten That zu treiben, und er wollte ihn heimbringen.
Auf der Reise nach der Heimat sprachen Heister und Emil nur selten ein Wort.
Am Morgen nach der Ankunft schickte Heister nach dem Hauptmann Hornung, dem Sohne seines Freundes. Als dieser eingetreten war, sagte er:
»Bitte, Herr Hauptmann, warten Sie hier. Ich habe mit dem jungen Manne hier nur noch ein Wort zu sprechen.« Er winkte Emil, ihm zu folgen.
Er trat mit ihm in die andere Stube und. sagte: »Wie schlecht du bist, das soll vorerst niemand wissen als du und ich. Ich rate dir nun, thue freiwillig, was du sonst gezwungen thun mußt.«
»Was? Was denn?«
»Du hast den Lehrerdienst aufgegeben und bist nun militärpflichtig. Vielleicht kannst du als Soldat noch ein brauchbarer Mensch werden, dessen sich deine Eltern nicht zu schämen haben.«
Bevor Emil erwidern konnte, öffnete Heister die Thüre und sagte:
»Herr Hauptmann, der Herr Ketterer hier war Lehrer und muß nun, da er diesen Beruf aufgegeben, Soldat werden; ich bitte Sie, auf meinen Paten ein besonderes Augenmerk zu halten. Nun sprechen Sie, Herr Ketterer.«
Sie? Herr Ketterer? Emil schaute hin und her, wie wenn ihn Wahnsinn ergreifen müßte; endlich faßte er sich und erklärte, daß er seine Soldatenpflicht erfüllen wolle; sein Atem war beklommen, sein Auge funkelte und seine Zähne knirschten.
»Ihren Eltern werde ich selber mitteilen, daß Sie Soldat werden. Ich muß Ihnen nämlich sagen,« wendete sich Heister zum Hauptmann, »daß Herr Emil Ketterer mein Pate ist. Er ist der Sohn des Bahnwärters Ketterer, der in nahezu dreißig Dienstjahren noch keinen Tadel seiner Vorgesetzten erhalten hat. Die Mutter des Herrn Ketterer war fast sieben Jahre bei uns in Dienst und nachdem sie gegen unsern Willen unser Haus verlassen hatte, heiratete sie zwei Jahre später, und Herr Emil ist der älteste Sohn.«
Der Hauptmann nahm diese seltsame Mitteilung mit Verwunderung auf, Emil wußte, warum sie so und vor diesem Zeugen gegeben wurde; er fuhr sich mehrmals mit der Hand nach dem Hals, wie wenn ihn die feine knochige Hand des Justizrats da würge. Heister hatte es tief unter seiner Würde gehalten, dem Entarteten eine Erklärung zu geben und er hatte den befreundeten Hauptmann vornehmlich in der Absicht zu sich gebeten, um Emil in jeder Weise zu bannen. Jetzt wendete er sich wieder zu Emil und sagte:
»Ich hoffe, Sie werden sich so halten, daß Sie bald eine höhere Stelle erringen. Herr Hauptmann, er hat ein gutes Lehrerexamen gemacht und spricht vortrefflich französisch.«