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Der Justizrat Heister saß am Morgen in der Laube des Gartens bei der Sommerfrische im Dorfe, das nur zwei Stationen vom Bahnhäuschen 374 entfernt war, in dem Jakob und Magdalena lebten.
Das Dorf, wohlgelegen und gegen Norden geschützt, am Fuße des bewaldeten Berges, wo der helle Bach rauschte, war zu einem sogenannten Luftkurorte erhoben worden; abgemüdete Männer und Frauen, meist aus der Hauptstadt, fanden hier Erholung und gute Pflege.
Die Waldwege mit mäßiger Steigung waren schattig, unter den breiten Tannen und an Aussichtspunkten waren Ruhebänke für die älteren Leute, die junge Welt machte größere Ausflüge. Noch gestern Abend war eine Schar von Männern und Frauen ausgezogen, um auf dem mehrere Stunden entfernten Hochberge den Sonnenaufgang zu sehen.
Darum war's heute so still und leer bei der Sommerfrische.
Heister hatte sich, wie allmorgendlich, seine Zeitung am Bahnhofe geholt; jetzt an dem mit einer blauen Decke gezierten Tische sitzend, schnitt er die Zeitung auf, legte sie ungelesen neben sich und dazu Feuerzeug und die Cigarrentasche. Er schaute behaglich umher über die wogenden Kornfelder nach dem Walde und nach dem hohen Berge, auf dem ein Wartturm blinkte. Es ist kein Wölkchen am Himmel; ein echter und vollkommener Hochsommermorgen. Die jungen Leute dort oben hatten heute einen hellen Sonnenaufgang.
Der Staatsrat Hornung kam eben von seinem Morgenritte zurück und rief noch vom Pferde zu Heister:
»Emil, warte mit dem Frühstück nicht auf mich.«
Heister brockelte die Krumen den traulich herbeifliegenden Finken, die dafür um so lustiger von den Bäumen sangen, sie sind die letzten, deren Sang bald aufhören wird, nur die Wasseramsel am Bache zwitschert noch unaufhörlich aus den Weiden. Vom ersten Augenaufschlage an war der Tag für Heister eine Kette von dankbar empfangenen Gaben des Daseins; er hatte doch, wenn er in die Vergangenheit zurückdachte, viel verloren, da ihm seine Frau entrissen wurde, aber nun, da ihm die Gesundheit wieder gegeben war, empfing er das Dasein selber wie ein tägliches Geschenk.
Er hatte nach langer Verfremdung sich hier wieder mit dem Freunde zusammengefunden; die beiden Männer erkannten es als ein Glück, daß sie in alten Tagen noch einmal traulich miteinander leben sollten, und sie hüteten sich wohl, die Gegensätze und Widerstreitspunkte zu betonen, denn die verschiedenen Grundnaturen und die verschiedenen Lebenswege hatten sie viele Jahre voneinander entfremdet und noch jetzt, während Heister sich beglückt fühlte durch Errichtung und Erstarkung des deutschen Reiches, betrachtete der Staatsrat jede Rechtsbefugnis des Reiches als eine Minderung der Lebenskraft des Landes, dem er eine Zeitlang als Minister vorgestanden hatte und als dessen Gesandter er die Auflösung des Rumpf-Bundestages mit erleben mußte.
Die beiden Freunde vermieden sorgfältig jede dahin führende Erörterung, und gerieten sie doch in eine solche, so war Heister überaus mild, nicht nur, weil er der Befriedigte war, er fand auch eine Wahrung gegen einseitige Verstockung darin, nicht ständig mit Gleichgesinnten zu verkehren, sondern auch der noch bestehenden Gegensätze bewußt zu bleiben.
Heister nahm nun seine Zeitung zur Hand, in welche der Staatsrat nie schaute, denn es war diejenige, die sein Sohn, der Vater Theodoras, herausgab. Er las ein Telegramm und legte plötzlich die feine knöcherne Hand zitternd auf das Blatt; in seinem Gesichte zuckte es schmerzlich. Er stand auf, setzte sich aber rasch wieder, schaute hinaus in die Landschaft und wischte sich die Augen ab.
Der Staatsrat kam, er war sorgsam gekleidet, er trug sogar beim Landaufenthalt beständig einen glänzenden Orden. Er kümmerte sich nichts darum, daß man offen darüber scherzte und geheim darüber spottete, ja er sagte geradezu: »Ich maskiere mich nicht mit Bescheidenheit, ich will, daß mir jeder Begegnende ansehe, ich gehöre nicht zur Masse.«
Das sagte auch sein stolzer Gang, mit dem er jetzt daherkam; er trug den Kopf hoch und selbstbewußt. Im Ausdruck seines Gesichtes lag eine strenge Härte, während Heister jegliches mit fast zärtlichem Blicke ansah.
Als die Cigarren angezündet waren, sagte Heister:
»Nun kann ich dir's sagen, es hat mich tief erschüttert: da steht's! Fritz Reuter ist tot! Eine Seele, so stark und so fein, so voll heller Lust und von innigem Ernste, hat im Thüringer Lande am Fuße der Wartburg ausgehaucht.«
»Ich kann die Schriften des Mannes nicht lesen, das Idiom macht mir Unbehagen.«
»Es ging mir auch so, aber als ich das überwunden hatte, ging mir ein Quell von Innigkeit und Heiterkeit, von unverwüstlicher Menschenliebe, von Glauben an Güte und Treue auf, dergleichen ich nicht weiter kenne. Und ein Bestes ist noch, er hat mich bekehrt.«
»Wozu? Wovon?«
»Zunächst von unserer Einbildung, daß wir Süddeutschen die allein seligmachende Gemütlichkeit inne hätten. Da zeigt sich's, der Norddeutsche ist zurückhaltender, der Süddeutsche offener, und das erscheint als Gemütlichkeit. Dieser Mecklenburger hat uns so unvergeßliche, goldhaltige Volksnaturen gegeben –«
»Volksnaturen!« fiel der Staatsrat unwillig ein, »euer Grundirrtum ist eben, daß ihr glaubt, das Volk sei Natur. Das Volk ist am wenigsten Natur, seine Leidenschaften sind nur ungemäßigter und roher –«
»Bitte, sage unschuldiger und offener.«
Der Staatsrat nickte, fuhr aber dann in gleichem heftigem Ton fort:
»Wunderlich! Ich denke, ihr Liberalen solltet doch selber jetzt von eurer Volksverehrung bekehrt sein. Ihr seid ja jetzt die Befriedigten, aber das muß euch doch klar geworden sein, die Masse, das sogenannte Volk, bringt nichts hervor; das bleibt Hebel und Werkzeug. Was Großes geschieht, geschieht nur durch große, gewaltige Menschen. Euer allgemeines Stimmrecht bringt nichts hervor; Neubelebendes entsteht nur aus der einzigen Stimme des Genius. Was ihr Volk nennt, wird beherrscht, entweder von den lügnerischen Pfaffen des Jenseits oder von den lügnerischen Pfaffen des Diesseits, den Herren Sozialdemokraten.«
»Und weder diese noch jene,« erwiderte Heister mit ungewöhnlicher Heftigkeit, »werden die Grundnatur unseres Volkes verderben können, so wenig das die Gewalthaber der Reaktion vermochten. Des ist wieder Fritz Reuter ein Zeugnis. Alle Peinigungen –«
Plötzlich brach Heister ab, er sah, wohin das Gespräch geraten war, er suchte abzulenken und begann mit sanfter Stimme:
»Ich wollte nur von Fritz Reuter –«
Der Staatsrat faßte seine Hand und sagte:
»Mein guter Emil! Mir fällt eben ein, es sind wohl dreißig Jahre, da haben wir in der Laube in deinem Garten ein ähnliches Thema besprochen. Erinnerst du dich?«
»Jawohl, es war damals beim Verein für entlassene Sträflinge.«
»Ja, und ich dürfte einen Accent auf meine damaligen Aeußerungen legen. Erstlich, daß ich dir schon damals gesagt habe, die Eisenbahnen müssen dem Staate angehören, und dann habe ich dir schon damals gesagt: Mein Herz ist kein Spital, und ich will nichts von diesen Poeten, die uns die niederen Schichten aufschminken. Auch dein Fritz Reuter ist, nach allem was ich höre, ein Schönfärber des neuen Götzen, genannt Volk.«
»Wenn du unter Schönfärberei das verstehst, daß man trotz alles Wissens von der Roheit und Dumpfheit doch aufzeigt, wie die sonnenhafte Psyche aus den niederen einfachen Charakteren aufleuchtet, dann war er auch ein Schönfärber. Es ist aber die echte Erkenntnis der Gleichheit aller Menschen, die höchsten Mächte überall zur Erscheinung und Wirkung zu bringen. Das ist unsere neue Andacht, unsere neue Religion. Und wie im plattdeutschen Dialekte homerische Schönheit gegeben ist, so steht auch fest, daß in jeglichem Gewande das Göttliche sich offenbaren kann.«
Der Staatsrat sah bewegt in das Antlitz seines Freundes, dann wendete er sich und sah mit ironischem Lächeln hinaus ins Weite, er wollte offenbar den Freund nicht stören. Nach einer Weile sagte er:
»Heute habe ich erfahren, daß du Geheimnisse vor mir hast.«
»Ich?«
»Ja du, du hast mir nicht gesagt, daß unser Pflegling von damals, der Postillon, der den fahrlässigen Totschlag abgebüßt hatte, hier in der Nähe Bahnwärter ist. Ich bin ihm heute zufällig begegnet und habe ihn erkannt.«
»Hast du ihn an sein Schicksal erinnert?«
»Natürlich.«
»Und eben das wollte ich vermeiden. Aber nun ist's auch gut. Ich weiß, du wirst jede Bitternis abwenden, denn das sind bis auf das eine, das vergessen werden muß und vergessen ist, wahrhaft glückliche Menschen.«
»Glückliche Menschen?« lachte der Staatsrat, »es gibt keine glücklichen Menschen. Der Unwissende ist ein redendes Tier, und der Wissende sieht nichts als Chaos. Wer uns beide so von außen sieht, wird sagen: was sind das für glückliche Menschen mit schönem Alter, mit Ehre und gutem Auskommen. Und was ist das Ganze! Unser Beruf ist jetzt Spazierengehen und Reiten, Essen und eine Partie Pikett nach Tische, und wenn wir die Summe ziehen, ist das Leben ein Elend; das mußt du, der Kinderlose, bekennen, wie ich, der siebenfache Großvater. Und daß wir vom Sterben wissen, nichts aber von einem jenseitigen Leben, das ist eine Grausamkeit eures sogenannten Weltgeistes. Wie jetzt die dort, so werden Geschlechter auf Geschlechter an den Tischen sitzen und über Nichtigkeiten lachen, sich in Landpartien müd' machen, um gut schlafen zu können, und gut schlafen, um sich abzumüden; so werden sie sitzen und wandern und plaudern und liebeln und hassen, während wir in der Erde modern. So lang man jung ist und Leidenschaften hat, täuschen uns diese über die Leere, Oede und Nichtigkeit dieser von Göttlichkeit erfüllt sein sollenden Welt. Vogelsang und Ordensbänder, Frauenliebe und Wissenschaft, das Bewußtsein vollführter Arbeit, alles ist eitel –«
»Mein lieber Freund!« warf endlich Heister ein und bot dem Geheimrat, dem die Cigarre ausgegangen war, Feuer an, »warum heftest du deinen Blick immer auf die Schattenseite, und nicht auch dahin, wo das goldene Licht doch so reich ausgeströmt ist? Freilich ist viel Elend und Mühsal im Dasein, aber des Glückes und der Freude noch mehr. Wir sind nur für das Alltägliche nicht erkenntlich und heften unsere Gedanken an das Störende, Auffällige.
»Ich verstehe allerdings die Mischung des Einzellebens nicht, aber die große Harmonie des Weltlebens wird mir immer klarer, und darin ist Sterbenmüssen kein Elend.«
Der Staatsrat schien das Gespräch nicht fortsetzen zu wollen, er sagte:
»Erlaube mir einen Einblick in eure Zeitung,« und kaum hatte er hineingesehen, als er froh ausrief: »Und das hast du natürlich nicht gelesen? Da steht's ja, mein Sohn Theodor ist Oberst geworden.«
Eine alte Frau, die in einem Handwagen geführt wurde, ließ sich zum Staatsrat heranrollen, sie hatte bereits auch die Zeitung gelesen und brachte mit großem Nachdruck ihren Glückwunsch dar.
»Was dem Vater versagt war, das wird nun dem Sohn,« sagte die alte Dame lächelnd und reichte ihre feine, wohlgepflegte Hand dar, die der Staatsrat als allzeit verbindlicher Mann von vollendeten Formen ehrerbietig küßte.
Der Staatsrat und Heister hatten einander in die Sommerfrische bestellt; ungerufen – aber wie der Staatsrat sagte hochwillkommen – hatte sich auch seine Jugendfreundin, die verwitwete Präsidentin von Kastelburg, eingefunden.
Sie erzählte nun Heister, wie gut der Staatsrat damals, als er Assessor beim Gerichtshofe ihres Mannes gewesen, in der Uniform ausgesehen habe, als sie mit ihm in einem lebenden Bilde stand, und wie er schmerzlich beklagt habe, nicht Soldat geworden zu sein.
Die Dame war dem Staatsrat mit diesen wie mit anderen Erinnerungen und Betrachtungen lästig, aber er that, als ob er mit dem innigsten Interesse zuhöre, und sie war gewohnt, daß alles, was sie sagte, aufmerksam beachtet wurde; sie fuhr daher, jedes Wort mit besonderer Huld ausstattend, fort:
»Ja, ja, die jungen Leute schwärmen heute Natur. In unserer Zeit war man aber doch heiterer. Die heutige Jugend ist viel zu ernst, sie genießt das Leben mit finsterer Miene. Wir haben mit Wonne getanzt. Nicht wahr, Herr Staatsrat?«
Der Staatsrat mußte entzückt bestätigen, und die Präsidentin fuhr fort:
»Die heutige Jugend berühmt sich: ich tanze nicht gern und – tanzt doch. Wo ist da noch unbefangene Lebenslust? Das räsonniert, das reflektiert. Sollte man's glauben: junge Mädchen in hellen Kleidern sitzen an Sommertagen in grüner Laube und sprechen von Religion und von Frauen und Volkswohl, und unsere liebe Theodora, die doch sonst so entzückend und frisch, führt da das große Wort, und gestern, was geschah? Ich höre die kleine Lilly von Arven von Stoffwechsel reden, ich denke, es ist von Kleiderstoffen die Rede. Aber denken Sie, das arme Kind hat vergangenen Winter einen Cyklus von Vorlesungen über Chemie gehört.«
Der Staatsrat lachte laut und hörte dann lächelnd zu, wie Heister sich bemühte, die Anschauungen der alten Dame zu berichtigen. Der gute Heister, dachte er, glaubt noch immer an aufrichtiges Interesse und weiß nicht, daß die Menschen nur Unterhaltung machen und die Zeit verplaudern wollen. Heisters ernsthafte Verteidigung der geschmähten Gegenwart wurde durch wohlgestimmten hellen Chorgesang von Männer- und Frauenstimmen unterbrochen.
Ein vierspänniger Bauernwagen kam langsam daher. Man ging von den Nachbartischen den Ankommenden entgegen, die vom Sonnenaufgange auf dem Hochberg zurückkehrten.
Als Theodora, hochgerötet mit einem frischen Kranze auf dem Haupte und den Hut in der Hand haltend, abstieg, rief der Staatsrat:
»Kind! Onkel Theodor ist Oberst und Regimentskommandeur geworden.«
»Gratuliere, lieber Großvater. Ich will nur mein Gewand etwas in Ordnung bringen. Ich komme gleich wieder.«
Sie eilte in das große Haus.