Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vor alten Zeiten lebte ein König. Der war reich an Land und Volk und hatte eine einzige Tochter, eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit. Viele Prinzen und vornehme Herren kamen und wollten um sie freien. Doch der König war ein weiser Mann. Ihm dünkte ein kluger Eidam besser zu sein als ein reicher und vornehmer. Daher sagte er zu ihnen: »Nur der soll meine Tochter zur Frau haben, der so zu lügen weiß, daß ich ihn mit eigenem Munde einen Lügner nennen muß. Er ließ dies Gebot auch im ganzen Lande verkünden, und so kamen bald Leute genug, die den Preis gewinnen wollten. Aber soviel sie sich auch Mühe gaben, den König anzulügen, so brachte es doch keiner fertig, daß ihn darüber der König einen Lügner nannte. Der König hatte aber an den wunderbaren Geschichten, die ihm aufgetischt wurden, sein Vergnügen, und auch der Prinzessin machten sie gar vielen Spaß.
Nun geschah es, daß ein junger Schwabe auf der Wanderschaft durch dieses Königs Reich kam. Er hörte des Abends in der Herberge, was der König versprochen hatte, und da er kecken Mutes war, so beschloß er, auch einen Versuch zu wagen. Er machte sich also flugs auf den Weg zum Schlosse und ließ sich bei dem König melden. Der König hieß ihn hereinführen und gebot ihm, seine Märe zu sagen. Der Schwabe erzählte: »Es ist noch nicht lange her, Herr König, daß ich auf der Jagd im Gebirge war. Als nun ein Hase daherlief, erlegte ich ihn rasch mit einem Pfeil, zog dann das Messer heraus und schnitt ihm den Kopf ab. Wie ich nun den Kopf mit der Hand emporhob, flossen plötzlich aus dem einen Ohr des Hasen tausend Maß Wein heraus. Darob verwundert, wandte ich ihn um, und alsobald fielen aus dem anderen Ohr tausend neue Goldgulden heraus. Voll Freude darüber band ich alles zusammen in die Haut des Hasen ein, um es nach Hause zu tragen.« Der König lächelte und sagte: »Solche Geschichten habe ich schon viele gehört.« Der Schwabe aber sagte: »Meine Geschichte ist noch nicht aus, Herr König; denn als ich den Hasen daheim zerlegte, da fand ich ganz hinten im Schwanze einen königlichen Brief mit Unterschrift und Siegel, in dem geschrieben steht, daß ich der Herr von diesem Lande und Ihr, der König, nichts anderes seid als mein Untertan und Leibeigener.« Wütend sprang der König von seinem Stuhle auf und schrie mit zornbebender Stimme: »Wie kannst du solches sagen, du frecher Lügner? Lügenwerk ist alles, was du gesagt hast von dem Brief, von dem Hasen und von mir!« »Ihr habt recht,« erwiderte der Schwabe, »ich habe das alles gelogen und bin ein Lügner, wie Ihr eben mit Eurem eigenen Munde bestätigt habt. Aber den Preis habe ich gewonnen, und Eure Tochter müßt Ihr mir nun zur Frau geben.« Der König merkte jetzt erst, wie ihn der Schwabe überlistet hatte. Und obgleich der Schwabe nur ein geringer Geselle war, so hielt der König doch an seinem Worte fest und gab ihm seine Tochter zur Frau. Und er durfte es auch nicht bereuen; denn der Schwabe war wirklich ein kluger Mann, und als der König sterben wollte, da war er froh, daß er solch' einem tüchtigen Eidam Thron und Reich übergeben konnte.
(Nach einer lat. Handschrift aus dem 10. Jahrh. [mitgeteilt in Hartmanns Schwabenspiegel] von K. Rommel.)