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[Einleitung]
Deutsche Dichter sind in diesem Buche versammelt. Österreicher. Im großen Gefüge der deutschen Kultur haben die immer ihre Sonderart besessen; sie waren immer die südlicheren Temperamente, die sinnlicheren Naturen, die musikalisch Empfänglicheren. Denkt man längst hingeblaßter Zeitläufe: der Sänger von der Vogelweide war Österreicher.
Aber hier muß soweit nicht zurückgegriffen werden. Hier kommt etwa nur ein Jahrhundert der österreichischen Dichtung in Betracht, das jüngste. Nicht aber so, wie es zumeist gesehen zu werden pflegt, indem man für Wien einfach Österreich sagt.
Deckt sich denn Wien mit dem Begriff Österreich? Mag es auch Gipfel und Quintessenz sein. Vom Reif der Habsburgerkrone umspannt, klüftet sich, wirrt sich, stößt sich das Ländergemenge. Ein nationales Gesprenkel. Ein Reich im Aufeinanderprall der Rassen. Ist es nicht seine historische Mission, das harte Zusammenklirren zu mildern? Die grelle Buntheit in einen harmonischen Akkord aufzuschmelzen? Grenzvölker mischen ihr Blut. Scharf schießen ihre Gegensätze im politischen Kampfe hervor. Aber unsichtbar vollzieht sich doch der Ausgleich. Unter allem nationalen Bewußtsein hinweg regiert das geheimnisvolle ewige Gesetz der Blutmischung. Und im Einzelnen steigen die feinsten Säfte der Auslese empor.
Im Künstler wirken sie am geistigsten, fruchtbarsten. Erkennt man in den barocken Palästen von Salzburg, Wien, Graz nicht ein Grüßen her von Italien? Schimmert in Straußens Walzertakten nicht der weiche Klang slawischer Sehnsucht auf?
Eingebettet mitten zwischen den Ländern ruht Wien. Das Herz. Ihm rinnt das Blut aus allen Gliedern zu. Ein wenig buhlerisch und in Sicherheit gewiegt, liebäugelt es mit dem eigenen Zauber. An den Rändern des Reiches bedeutet aber jeder Tag neues Ringen und Wehren. Da klammern die Völker sich eigensinniger an ihre Ursprünglichkeit. Kein stolzeres Deutschtum als in Tirol. Echt, aufrecht, derb und gemütvoll zugleich. In Böhmen nicht anders. Fremde Art filtert schwer sich durch. Wer leugnet es dennoch: allein durch die Reibung schon flimmert ein Phosphoreszieren auf. Im seelischen Ausdruck bebt manchmal eine andere Tönung mit, eine andere Musik klingt an. Man soll nicht vergessen, daß Künstler sensitiver im Empfangen sind. Dies bleibt der Reiz aller deutsch-österreichischen Kunst: daß sie aus einem Geblüt stammt, das sich durch viele Jahrhunderte veredelt hat und das eine jüngere und eine ältere Rasse mitgespeist haben. Die Kunst ist beschwingter, farbiger, differenzierter geworden.
Spiegelt sich die Mannigfaltigkeit österreichischer Art nicht in der Landschaft? Voll Anmut wellen sich des Wienerwaldes Hügel. Um die Siedlungen rings klimmen Weinreben die Hänge empor. Das breite Band der Donau schlingt sich durch die Wachau, dieses Panorama von Schloßruinen, Kirchen, entzückenden Vedutten; vorüber an kleinen Städten, denen die Bauherren von einst die Behaglichkeit stilvoller Residenzen schenkten. Ästhetische Gefälligkeit überall. Das kaiserliche Wien: eine Riesenstadt, die gegen die lärmende Modernisierung sich stemmt. Straßen und Alleen lassen die Bewohner zu Spaziergängern werden, zu Flaneuren, die im Umhergehen einzig den beglückenden Zweck des Schauens suchen. Anastasius Grün spazierte im Getümmel des vormärzlichen Praters und dichtete. Grillparzer löste im Vorwärtsschreiten die schwere Dumpfheit seiner Brust. Bauernfeld brummte gleich einer Hummel durch den Ischler Wald. So ist auch in Hofmannsthals Gedichten die Umgebung Wiens tief in die traumhafte Welt verwoben. Gewiß: in die Natur hinaus trugen und tragen sie fast alle Salonatmosphäre mit. Nicht Rousseausche Schwärmerei jagt sie zur mütterlichen Erde. Städtersehnsucht treibt sie nach Einsamkeit, tiefem Atemholen, Augenlust. Gesellschaftliche Kultur beherrscht ihre Nerven. Hof und Aristokratie zeigten früh, wie Luxus und Leben sich köstlich durchdringen können. Unwillig geradezu erkennt man die praktischen Forderungen, die einer modernen Großmacht Industrialismus diktiert. Dichterträume neigen mehr zur Vergangenheit hin als zur Zukunft. Wie selten ertönt doch ein sozialer Notschrei! Ist es Blasiertheit vor Wirklichkeiten? Niemals. Vorliebe für Ästhetisierung jedoch verschleiert die Kraßheiten äußeren Elends, – ein häufiges Erbteil empfindsamer Geschlechter. Patrizischer Dilettantismus schwelgt lieber in der Kostbarkeit von Dingen und Worten. Er zerbricht die Unbefangenheit der Anschauung. Da überwiegen espritvolle Räsoneure gegen starke Bildner. Folgt dies nicht auch aus der Blutmischung, ist dies nicht ihr Schatten? Skepsis zersetzt den Lebensgenuß, dem doch die Heiterkeit der Stadt, die Schönheit der Landschaft, vielfach der Wohlstand zutreiben. Die Heimat der tragisch-sentimentalen Temperamente! Alle Vormärzdichter grübeln, härmen sich ab, sind Raunzer, Malkontente. Bei Grillparzer und Stifter zernagt Unfriede der Brust beste Gaben. Metternichs Zensur und Polizei spitzten noch alle Krisen zu. Diese Verschärfung fegte der Sturmmärz zwar hinweg, die Lust an Negation, splitternder Analyse jedoch ist geblieben.
Ein geschlossenerer Menschenschlag, berg- und baumverwandt, erwuchs in den Alpen. Die Silberfirne und schroffen Zinken reißen ihre Linien in den Himmel, unberührt und zur Ewigkeit weisend. Das Bild der Welt trägt monumentale Züge. Auch im flüchtigsten Wechsel der Zeit ist der Bestand der Dinge hier sichtbar. Läßt die Bergscholle sich nur widerwillig die Frucht abzwingen, hängt der Bauer um so zäher und treuer am Besitz. Aus bäurischer Wurzel erstanden die markigsten Dichter dieser Länder, dem unkomplizierten Leben nah, von quellfrischer Gesundheit, mit dem Mut und der gläubigen Philosophie derer, die ungekünstelt empfinden und die Lauterkeit langer Jugend besitzen. Städtische Bildung vermag die Wucht nicht zu schwächen, die gerade Natürlichkeit nicht zu biegen, mit der sie Geschautes und Gedachtes formen. Aber umgekehrt: der Landschaft Gewalt und der robusten Bevölkerung prächtige Primitivität modeln oft Gelehrten-, Beamten-, Klerikerköpfe um. Freiluftmenschen werden hier. Gläubige Menschen, in denen heidnischer Naturkult nachrumort. Unauslöschlich wirkt die Erinnerung kirchenfrommer Kindheit. Juchzer, die der Rausch der Höhe jäh der Kehle erpreßt, angestammte Volkslieder, stampfende Tanzrhythmen sind ihre Musik. Feldblumenfarben von urgroßmütterlichem Hausrat prangen in ihrer Phantasie. Zartheit muß von Kraft nicht erdrückt werden: Stickerinnen, Holzschnitzer, Silberschmiede pflegen die künstlerische Überlieferung – wie die Dichter.
Die Länder des Sudetenkranzes und Deutsch-Ungarn ... Wie auf Inseln lebt das Deutschtum hier, umbrandet von Streitrufen. Wachsam, hellhörig, wie eben fortwährender Kampf verlangt. Die ästhetischen Anreize müssen kräftig sein, um solch angespanntes Dasein zu überschmettern, zu durchdringen. Und wirklich, das Auge trifft auf grellbunte Trachten rings, das Ohr auf fremdmütige Melodien. Fruchtbar ruhen die Ebenen, fettschollig, im Sommer Lerchenjubel darüber. Alte Schlachtfelder, mit Blut gesättigt. Religiöser Brüderschaften Fanatismus johlte hier seine Flammenlieder, moderne Batterien durchdröhnten den Boden. Wälder dunkeln märchenstill, legen sich über die Mittelgebirge, aus Felsen sprudeln Gesundbrunnen. Die Städte breiten sich frei an den Flüssen. Dem erregenden Atem der weiten Welt willig geöffnet sind diese Länder. Tüchtigkeit, Eifer, Emsigkeit durchfiebern Grubenwerke und Fabrikwerkstätten. Hell pocht der Puls der Zeit, erglüht soziales Bewußtsein. Bürgerlicher Liberalismus holte sich dahier seine tapfersten Verteidiger. Prag – ward da nicht von den Luxemburgern die erste deutsche Universität gegründet? Eine ragende Burg der Kultur nach wie vor. Brünn – heißt man's nicht Österreichs Manchester? Die deutschen Städte in Siebenbürgen, in der Bukowina ... allzu ostwärts versprengt, läßt der »Schwab« seinen Vorpostenblick schweifen. Jedes Fußbreit Erde will erkämpft sein. Üppige, wilde Gegend ringsum.
Vielstimmig ist dies Orchester. Es spielt nicht auf eigene Hand. Literarischen Partikularismus ... gibt es das? Gab's das je? Nicht einmal der Begeisterung des Freiheitskrieges hätte es bedurft, um Österreichs und Deutschlands Dichter zu einigen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts saß Schreyvogel im Burgtheater, vollgesogen von Jenaer Idealen. Die Häupter der Romantik siedelten nach Wien, das, während der Kongreß tanzte, Europas Hauptstadt war. Goethe fuhr in die böhmischen Bäder, Grillparzer nach Weimar. Die Staatengrenze bestand nicht in der Literatur. Was die Sprache verband, bildete ein einziges geistiges Reich. Eins war die Entwicklung. Klassik, Romantik, Epigonentum, Naturalismus, Impressionismus, sie waren nicht bloß Echo, sondern volles Miterleben. Keine Sonderwege lassen sich erspüren.
Von den Anfängen empor mag die formale Reife der österreichischen Lyriker größer gewesen sein. Der Glanz eines vornehmen Eklektizismus durchleuchtet ihrer aller Gedichte. So zerrissene, dissonierende Naturen selbst wie Sauter klären sich in ausgeschliffenen – in Frankreich würde man sagen parnassistischen – Formen. Lenau, der zigeunerhaft Verzweifelte! Die wählerische Kunst des Wortes versagt sich seinen trübsten Schmerzensausbrüchen nie. Die leicht huschenden Töne und Zwischentöne konnte sie schon umfangen, die Landschaft beseelen, neue Musik aus altbekannten Silben schlagen. Die Raffinements der Sprache verloren sich nicht mehr, steigerten sich noch, vervielfältigten sich, sublimierten sich. Die Betrachtung der Welt wurde nicht mehr zu allgemeinen, typischen Eindrücken umgeprägt, individualisierte sich, ward intimer, intensiver. Und allmählich reifte die Erkenntnis: Nicht darauf komme es an, die Dinge mit Stimmungen einzuhüllen, damit sie poetisch seien, denn ihnen selbst wohnte ja Seele, also Poesie inne. Durch die bloße Hingabe erschließt sich ihr Gesang den Dichtern. Dort halten sie jetzt, wollen Welt und Leben nicht »schöner« machen, doch auch nicht ernüchtern, wollen sie nur in ihrer Realität, doch auch mit ihren tief waltenden Gesetzen erklingen lassen, jeder auf seine Weise.
Auf die neue Blüte der österreichischen Lyrik hinzudeuten, war dieses Buches Zweck. Dies sollte nicht ohne Zusammenhang mit der unmittelbar vorangegangenen Zeit geschehen. Auch wurde Deutsch-Ungarn angegliedert: zu Lenaus Jahren war Transleithanien noch ein Teil Österreichs, und heute noch fügen die Deutsch-Ungarn sich ungezwungener zu den Österreichern als zu den Madjaren. Blieben auch alle germanistischen Ansprüche ausgeschaltet, so sollte doch der Boden sichtbar sein, aus dem die neue Lyrik wuchs. Die Lebenden fußen auf den Schultern der Toten. Es wurde die chronologische Folge gewählt, mit Voranstellung Grillparzers, dessen Name – als der epochale des vorigen Jahrhundertanfangs – das Titelblatt trägt. Unter den Hingestorbenen werden manche zu Unrecht nie mehr genannt, geraten in Verschollenheit. Keine einzige Literaturgeschichte würdigt bisher Österreichs Dichter nach Gebühr. Vielleicht hilft dieses Buch dem Urteil nach, frischt Erinnerungen auf, regt zu weiterem Nachgehen an. Vollständigkeit ist nicht sein Ziel. Nur durch charakteristische Erscheinungen will es repräsentieren. Daß bei der Auslese die Toten strenger gesichtet wurden als die Lebenden, möge man billigen. Schade, daß die Jüngsten, unter denen es sich wundervoll rührt, nicht zahlreicher gebracht werden konnten; der ursprünglich zugemessene Raum wurde ohnedies überschritten, – »der Nachtigallen, der sind viel«.
Benutzt wurden Bücher, Zeitschriften und Manuskripte. Die »Deutsche Lyrik aus Österreich« enthält auch bisher unveröffentlichte Gedichte wie die von Kürnberger. (Sie verdanke ich dem Herausgeber der gesamten Werke Kürnbergers, Otto Erich Deutsch. Rainer Maria Rilke, der sich in den letzten Jahren allen Anthologien fernhielt, schuf diesmal eine Ausnahme, will dies aber nicht als Präzedens angesehen wissen.)
Das Buch wird durch eine kleine Porträtgalerie bereichert. Für diese Bildnisse bin ich der kaiserlichen und königlichen Fideikommißbibliothek verbunden.
Wien, am 1. Mai 1911.
Camill Hoffmann.