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17.

Ich kehrte sehr bedrückt heim. Alles war fehlgeschlagen. Ich war müde, legte mich in den Kleidern aufs Bett und schlief einen bleiernen Schlaf. Ich erwachte aber kurz darauf, von der hellen, lustigen Stimme meines kleinen Bruders, der mich am Arm rüttelte. Er, der echte Postillion, hatte einen Brief in der Hand. Ich war so schlaftrunken, daß ich zuerst glaubte, der Brief stamme von meiner Mutter, – (es war halbdunkel im Zimmer, und die Schrift ähnelte etwas der ihren), und sie schrieb mir, daß sie sich eines Besseren besonnen habe, sie erhalte sich uns und bitte mich zu kommen. Es war aber ein Brief von Alexandra, der mir von Wien nachgeschickt worden war. Im Anfang war ich enttäuscht, die Sorge um meine Mutter lastete so schwer auf mir, daß ich glaubte, nichts anderes könne mich im Augenblick bewegen. Aber je länger ich las, desto tiefer fühlte ich meine Verzweiflung wachsen, sie lähmte mich so sehr, daß ich beinahe die Hilfe meines kleinen Bruders brauchte, um mich zu erheben.

Alexandra schrieb, sie wolle mir vor allem danken. Seitdem sie mich kenne, habe sie ein zweites Leben begonnen. Sie hätte niemals geglaubt, daß etwas anderes als eine große Liebe sie aus ihrer Lähmung aufrütteln könne, bis ich erschienen sei, aber sei Freundschaft nicht auch Liebe? Es sei ihr nie gegeben gewesen, jemanden glücklich zu machen, deshalb sei sie von niemand geliebt worden, für ihren Vater sei sie ein unnützes Ding, da sie sich von seinen technischen Narreteien nicht verführen lasse, für ihre Mutter sei sie der ewige Anlaß zu sinnlosen Gewissensbissen, und es sei furchtbar für sie, ihre Mutter trösten zu müssen, die nur ihr eigenes verlorenes Leben beweine, wo sie doch selbst Trost brauche, mehr als das tägliche Brot! Aber sie ertrage auch Frohsinn, Jugend und Schönheit nicht leicht neben sich, ich sei der erste, der sie nicht verbittere, zu mir habe sie Vertrauen, meinetwegen sei der erste große Streit zwischen ihr und ihrer Mutter ausgebrochen, denn sie habe gesagt, wenn sie einen Bruder gehabt hätte wie ich, so wäre es niemals so weit gekommen mit ihr. Ich solle nicht glauben, daß ich sie jemals gelangweilt habe, sie habe nur gegähnt in meiner Gegenwart aus Scham, um mir nicht zu zeigen, daß sie den ganzen Nachmittag mit der Uhr in der Hand auf mich gewartet habe, die Blumen hätte sie nur deshalb so schlecht behandelt, weil ich der erste gewesen sei, der ihr Blumen gebracht. (Hierbei vergaß sie in der Erregung die Freundinnen, die ihr zum Geburtstag Blumen geschenkt hatten, ich hatte ja das Seidenpapier im Korridor gesehen!) Sie liebe mich nicht, aber sie könne mir nicht widerstehen, das heißt, meiner Klugheit, Ritterlichkeit und Jugendfrische, meinem Willen zum Leben, und sie richte jetzt ihre erste Bitte an mich, ohne zu wissen, ob ich ihr die häßlichen Worte vom letzten Male verziehen habe. Sie wolle sich operieren lassen. Das Geld dafür hätte sie von ihrer Mutter erzwungen, sie setze eben alles aufs Spiel, und doch habe sie ein schweres Vorgefühl, ja sie habe furchtbare Angst! Angst vor den fremden Menschen, die ihren Körper ohne Kleider sehen und in ihm mit ihren schauerlichen Marterwerkzeugen umherarbeiten würden, Angst vor Schmerzen, die sie niemals habe ertragen können, vor dem Tode, sie sei ja noch so jung, vor dem Fegefeuer, denn sie sei voller Sünden trotz der Kirchenbesuche und der vielen Beichten, ich sei der einzige, der sie in ihrer Sündhaftigkeit durchschaue. Jetzt solle sie ihr Leben aufs Spiel setzen und habe noch nicht gelebt! Sie habe Angst vor der ersten Nacht ›dort‹, sie werde, aus der Narkose erwacht, auf einen Klingelknopf drücken und die Pflegerin rufen wollen, diese aber würde schnarchen und sie verdursten lassen. Ihre Mutter aber könne sie nicht pflegen, sie sei so aufgeregt und zerfahren, daß ihr schon jetzt die Hände zitterten und sie alles fallen lasse. Ihr Vater würde vielleicht der beste sein, denn er sei ein praktisches Genie, aber sie sei ihm nichts, er habe ihr alles überlassen und sich nur gekränkt, daß man das teure Geld nicht für einen Motor aus England ausgeben wollte und alles andere der Zeit überlasse, die schon mehr als einen Krüppel geheilt habe. Sie wolle aber keiner sein, lieber sterben. Sie werde am Mittwoch operiert, (heute war Mittwoch), sie habe Auftrag gegeben, man solle mich zu ihr lassen, wenn die Operation vorbei sei, ich solle dann etwas Geduld haben mit ihr. Wenn ich ihr nur nicht die Zeitschrift gegeben hätte! Vielleicht solle sie das nicht sagen, was folge, aber es quäle sie zu sehr, nämlich der Gedanke, sie könne bei der Operation bleiben ebenso wie der Unglücksvogel, von dem geschrieben sei: Schwächezustand, Exitus. Sie und er allein würden die Operation mit dem Leben bezahlen, aber alle anderen dreiunddreißig und alle kommenden würden lebend und geheilt das Krankenhaus verlassen! Sie wolle ja nicht leiden, sie habe in ihrem Stolz – das müsse ich verstehen, da ich ja auch stolz sei – gesagt, Gott habe sie geadelt mit dem Leiden, aber sie habe gewußt, ich glaube ihr nicht. Ich kenne sie, ich sei ihr gut, und selbst wenn sie sterben sollte, dann sollte ich mir keine Vorwürfe machen, denn ein Leben wie das ihre mit der Aussicht auf die Lastenstraße und als Besitzerin einer Spatzenpension wäre kein Leben ... Es kam noch eine durchgestrichene unleserliche Zeile und die Unterschrift.

Ich hatte den Brief noch einmal gelesen. Meine Schwester war eingetreten und hatte Kaffee und schönes Gebäck gebracht. Sie sah den Brief in meinen Händen, und sicherlich sah sie mit ihren klaren großen Augen auch mein verstörtes Gesicht.

Ich mußte bleiben. Ich mußte mich für meine Mutter einsetzen und sie, koste es, was es wolle, von ihrer wahnsinnigen Absicht abbringen, schlimmstenfalls auch gegen ihren Willen. Nämlich gegen den überhitzten Willen zum Opfer. Wenn eine Natur wie meine Mutter, wenig begabt zum Glück, glücklich werden konnte, dann nur im Opfer, in der Selbstlosigkeit. Aber was sollte ein Opfer für die Proletariermasse, zu der sie doch nur herabstieg, mit der sie niemals eins werden konnte? Ich konnte an ihre Liebe zu den Ärmsten der Armen nicht glauben, ich glaubte, zufrieden könne sie nur werden durch ein Opfer und Verzichten uns zuliebe, für die ihren. Ich mußte sie zurückbringen zu sich, zu ihrer innersten Natur und Bestimmung! Das konnte niemand tun, glaubte ich, außer mir. Und es mußte schnell geschehen, in ein paar Stunden spätestens.

Bei Alexandra war das Entscheidende bereits erfolgt, die Operation war vorüber. Ich hatte mein erstes Ziel erreicht, ich hatte das für sie getan (und für mich, der mehr denn je im tiefsten Innern verbunden und vereint war mit ihr, der Armen), was niemand anderer für sie tun konnte. Ich fuhr am Hauptamt vorbei, von wo ich Wien hätte anrufen können, in das Präsidium, um meiner Mutter beizustehen.


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