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Um diese Zeit erhielt ich endlich die erwartete Nachricht von Karla. Sie bat um Entschuldigung, wenn sie mich störe, sie wollte nur fünf Minuten für eine Unterredung, da wichtige Ereignisse eingetreten seien. Ich gab ihr einen Treffpunkt an.
Ich bin nicht ganz pünktlich gekommen, – (ich weiß nicht warum, vielleicht um das Warten, nein, das Erwartetwerden endlich besser auszukosten) und war sehr betroffen, als sie nicht da war. War sie zur rechten Zeit gekommen und hatte das Lokal wieder verlassen, da sie tatsächlich nicht mehr als die lumpigen fünf Minuten für mich übrig hatte? Als sie aber, abgehetzt elend, fahl aussehend erschien, eine Dreiviertelstunde zu spät, machte ich ihr keinen Vorwurf.
Ich fragte mich, liebst du sie noch? Ich konnte mir keine klare Antwort darauf geben. Aber ich begehrte sie mehr denn je gerade jetzt.
Liebte sie mich? Wie gerne hätte ich sie gefragt, aber ich hatte mir vorgenommen, abzuwarten und keinen Schritt zuerst zu tun. So saß ich neben ihr, und als sie, aus unbekanntem Grunde, etwas abrückte, setzte ich mich noch weiter entfernt, nämlich ihr gegenüber, so daß der Marmortisch des Cafés zwischen uns war. Endlich begann sie zu sprechen. Von dem entscheidenden Ereignis? Nein. Und doch hatten wir uns das Wort darauf gegeben, nur dann wieder in Verbindung zu treten, wenn etwas Besonderes vorfiel. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben und sagte, die Augen senkend und den Tisch mit ihrer kleinen aber starken Hand etwas emporhebend: »Laß mich, ich konnte noch nicht anders, ich muß!« Sollte ich jetzt fragen, wobei ich sie lassen solle und was sie zu diesem letzten Wiedersehen bewogen habe? Wozu? Sie saugte sich mit ihren düsteren Augen an meinem Munde fest. Möglicherweise erwartete sie meine Entscheidung, sie hoffte auf eine Erklärung, wo doch sie mir eine solche schuldig war. Plötzlich ließ sie den Tisch wieder fallen, er krachte nieder, was im Lokal etwas Aufsehen hervorrief. Der Kellner kam und reinigte die Marmorplatte, denn die unberührten vollen Kaffeetassen waren übergequollen.
Es waren wirklich erst fünf Minuten verflossen, als sie sich erhob und mir die Hand reichte. »Ich weiß halt nicht, was mit mir ist«, sagte sie, ohne mich anzusehen, »ich dachte natürlich, bei dir würde ich ruhiger werden, aber...« Sie beendete den Satz nicht, setzte sich aber noch einmal hin, mit ihren Händen im Schoß grabend, wo ihr altes weißes Leinwandtäschchen lag, in welchem sie ihre Geldbörse hatte. Aber sie war nicht imstande, das Geld herauszuzählen, oder sie hatte kein Kleingeld bei sich und so ließ sie mich, errötend und erblassend ohne Ursache, für sie zahlen. Ich begleitete sie zu der Station der Straßenbahn.
Endlich, als der Wagen schon in Sichtweite war, faßte ich ihre Hand, die sie mir entriß, und fragte: »Was ist denn eingetreten, um welche Entscheidung handelt es sich?« »Nichts, noch gar nichts, nichts«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. Inzwischen war der Wagen gekommen, hatte geklingelt und war wieder abgefahren. »Wir gehen ein Stückerl zu Fuß, willst du?« sagte sie, hängte sich in meinen Arm, und wir gingen ohne ein einziges Wort durch die innere Stadt hinauf, bis in eine Gegend, die von meiner Wohnung nicht weit entfernt war. »Wo hast du denn jetzt zu tun«, fragte ich, »wo wohnt dein Patient?« »Ja, du hast recht, wo sind wir eigentlich«, fragte sie zurück, sie war erblaßt. »Wohin hast du mich gebracht? Ich muß doch nach der ›Landstraße‹!« (Das war ein Viertel, das mindestens eine Stunde zu Fuß entfernt war von Ottakring.) »Jetzt ist es zu spät. Was tue ich nur? Ich muß einen Wagen nehmen, habe aber nicht genug Geld bei mir.« Nun hatte ich aber mit meinen manchmal nur zu scharfen Augen gesehen, daß sie einen Hundertkronenschein bei sich gehabt hatte und zwar lose, so wie sie immer (gegen meinen Rat) ihr Geld bei sich zu tragen pflegte.
Ich ließ sie aber bei der Lüge, denn ich ahnte, wo sie hinauswollte. Ich gab ihr den für einen Wagen notwendigen Betrag, und sie sagte beim Besteigen des Wagens, dem Kutscher eine Adresse in einer vornehmen Straße zurufend: »Ich bitte dich nur um eins, komme morgen wieder dorthin, wo du heute warst, ich bringe dir das Geld zurück, aber bitte, laß mich nicht wieder warten! Kannst du denn nicht jetzt noch mitkommen? Ich darf ja nicht bei dir bleiben. Wir fahren an der Votivkirche vorbei, dort kannst du aussteigen und in die Universitätsbibliothek.«
Ich tat ihr den Willen. Sie tat mir aber nicht mehr leid, wie am Anfang, ich wußte, daß ich mit Mitleid, Tränen und Gefühl uns beide nur noch unglücklicher machen würde. Auch sie selbst war stets gegen übertriebenes Mitleid gewesen.
Auf dem Wege schwieg sie meist. Ich immer. Als wir bereits den pfauenblau schimmernden Turm der schönen Kirche vor uns hatten, sagte sie: »Ich habe jetzt einen hochadeligen bildschönen Dragonerrittmeister in Pflege. Er hat eine gewisse Krankheit, es ist zum Schaudern. Sein Gaumen ist wie ein Sieb, wir füttern ihn durch die Nase, er atmet durch eine Kanüle, und er riecht wie der arme Lazarus, drei Tage nachher. Deshalb bin ich vorhin in dem Tschocherl weggerückt von dir, ich dachte, es ist etwas von der Pestilenz an meinem Haar oder an meinem weißen Kostüm mitgekommen.« Als ich schwieg und nur ihre Hand im Handschuh keusch streichelte, sagte sie mit heiserer Stimme: »Was ist nur aus mir geworden? Ich weine. Er tut mir leid, und ich pflege schlecht. Er hängt sich an mich, aber der Hof rat gibt mir ›Ausputzer‹. (Damit meinte sie leichten Tadel.) Wir sollten uns niemals wiedersehen, du und ich. Versprichst du es mir? Wie glücklich war ich, als du heute nicht da warst im Tschoch. Endlich, dachte ich, Gott sei Dank, was soll denn sonst aus uns werden, heiraten können wir halt nicht, hingeben kann ich mich dir nicht, denn ich könnte die Schande nicht überleben. Er liebt dich gar nicht, hab ich mir gesagt, aber in diesem Augenblick, Jesus, Maria und Josef bist du gekommen. Komme morgen zum letztenmal, ich will versuchen, etwas länger Urlaub zu bekommen, denn es ist das letztemal in unserem Leben.«