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Karl war der Unerfahrenste von uns dreien. Aber er bestand darauf, die nötigen Ausrüstungsgegenstände zu bezahlen, er war der reichste, oder glaubte wenigstens es zu sein. Wir durften ihm aber die Wahl nicht überlassen, denn er hatte sein Augenmerk gewaltigen Zeltausrüstungen, Prismenfeldstechern und ›Freßkörben‹ zugewandt, ich und Wharf bestanden auf Steigeisen, Eispickeln, die an Karabinern am Gürtel zu tragen waren, auf leichten Kletterschuhen und auf einem gedrehten Manilahanfseil von etwas über fünfzehn Metern. Karl war es, der dieses Seil transportieren sollte, während wir in unsere Rucksäcke seine Schlafdecke, das Kochgeschirr, die nötige Wäsche, die Konserven und den Hartspiritus für uns drei hineinstopfen wollten. Dem guten Karl, der immer noch hüstelte, war also der am leichtesten zu tragende Teil der Ausrüstung zugedacht.
Als wir den soliden Laden, der in allen alpinen Zeitschriften seine Anzeigen hatte, verlassen hatten, kehrte er noch einmal dorthin zurück, angeblich, um eine englische Pfeife für sich der Ausrüstung hinzuzufügen. Erst viel später, im Eisenbahncoup é, bemerkte ich, daß er, dieser ewig verneinende Geist voller Lügen, Trauer und Genie, uns einen kleinen Streich gespielt hatte. Das Seil war wesentlich dünner als das, welches ich ausgewählt hatte, und auch mit der Länge schien es mir nicht ganz zu stimmen. Aber auch jetzt dachte ich an keine Gefahr, ebensowenig wie die anderen jungen Leute, die singend, lachend, plaudernd, liebelnd, rauchend und essend das von heller Sonne durchströmte Abteil füllten, wo es angesichts der vielen Rucksäcke und Eispickel in keinem Gepäcknetz ein freies Plätzchen gab.
Karl hatte also bei dem Seil über Wharf und mich obgesiegt, bei dem Reiseziel siegten er und Wharf über mich. Ich hatte an eine Höhenwanderung in den Stubaier Alpen bei Innsbruck gedacht, weil mir der Führer auf der Rax, der aus Tirol stammte, als passable Partie die Pfaffengruppe, den Tribulaumkamm und den Eiskopfkamm genannt hatte. Aber meine Freunde bestanden jetzt während der Fahrt auf ihrem Willen, nämlich dem Dachsteingletscher und dem Salzkammergut, weil sie mit den Bergtouren den Wassersport verbinden und im Hallstädtersee schwimmen und rudern wollten. Wir fuhren bereits auf der Strecke, die uns sowohl nach Salzburg und Hallstadt als auch nach Innsbruck und ins Stubaital bringen konnte. Ich hätte meine Ausrüstung von der ihren absondern, ich hätte mich von der Sozietät immer noch frei machen können, um nach meinem Belieben zu handeln, aber, durch die Ereignisse der letzten Zeit etwas in meiner Selbstherrlichkeit erschüttert, sagte ich mir, auch ich dürfe einmal nachgeben und mich der Majorität fügen. Ich blieb also mit ihnen und beherrschte mich in meiner Enttäuschung. Als wir abends in Hallstadt ankamen, sahen wir das herrlichste Alpenglühen von den Wolken und dem Gletscher angefangen bis in die Felsspitzen, in die Wälder, in die Matten bis zu den kleinen Blumengärten rings um die Häuser hinabstrahlen, alles war von dem zart rosaroten, mit unnennbaren Goldtönen vermischten Lichte erfüllt, das meine Freunde mit Ausrufen der Begeisterung begrüßten. Karl zeigte zum erstenmal, daß ihn etwas hinreißen konnte, und Wharf richtete das Objektiv seines schweren komplizierten Apparates auf das schwebende, duftige Licht, das da glimmte zwischen den Eisfeldern, den kahlen Höhen, dem Walde, den Almen und dem ruhenden, alles in sich widerspiegelnden See. Ich ließ ihn photographieren, ich wußte, es würde alles nur grau auf die Platte kommen. Ich wußte, von den Wetterbelehrungen im Semmeringgebiet her, daß solche Glanzmomente der sinkenden Sonne stets einen Wetterwechsel (zum schlechten) andeuten. Aber ich glaubte nicht das Recht zu haben, meinen Freunden die Laune zu verderben.
Vielleicht fühlte ich, obwohl ich doch auch selbst darunter zu leiden hatte, etwas Schadenfreude, als am nächsten Tage nach einem ebenso gloriosen Sonnenaufgang die Wolken immer dichter über dem Bergkessel sich zusammenzogen. Bald war es so weit, daß in der ernüchterten, farblos und übersichtlich gewordenen Natur alles erstarrte, bis sich endlich der Himmel über dem schon etwas unruhigen hechtgrauen See vollständig schloß.
Gegen Mittag begann es zu tröpfeln, gegen drei Uhr nachmittags aber in dichten, wie aneinander gebundenen Zügen zu gießen. Der Nebel stieg ohne Unterbrechung von den Wiesen auf wie von dem See und wogte von einer Fläche zur anderen, von trägen, lauen, schwachen Luftzügen getrieben. Es war still über dem Wasser. Die Bäche rauschten viel lauter als morgens und stießen sich hell aufschäumend gegen die gewaltigen Blöcke im Bachbett. Die Glocken läuteten sehr stark in der dünnen, feuchten, herben Luft. Die Wege am Ufer und im Walde leuchteten matt weiß, wo der Kalkboden die Feuchtigkeit nach langer Dürre mit Gier verschlang. Die Kameraden stießen das Barometer an der Wirtshaustür mit den Zeigefingern an, es hielt stand und blieb, wo es war. Ich wußte wohl, es war verdorben, und der Wirt ließ es immer auf veränderlich, mit einem kleinen Strich gegen ›schön, beständig‹ hin stehen, aber ich ließ ihnen auch diese Illusion. Ich ging allein hinaus. Mir taten Ruhe und das Alleinsein not.
Es führte ein Weg mit vielen Krümmungen, aber ohne die geringste Steigung rings um den See. Die Privatgrundstücke dürfen nicht bis an den Strand heran. Ab und zu mußte ich über kleine, unter den Regentropfen knisternde, nach morschem Holz und wuchernden Pilzen riechende Brücken, die vom Anprall der wild gewordenen Berggewässer zitterten und dumpf tönten.
Auf manchen Wiesen lagen die Kühe trotz dem Regen da auf ihren nach innen gebeugten Vorderbeinen, die Köpfe ohne Regung, die Flanken glänzend weiß und tief schwarz, langsam mit dem Schwanz schlagend und ihre Nahrung wiederkäuend, oder sie wandelten geruhsam, die dreieckigen Köpfe mit den lyraartig gewundenen, hellen Hörnern gesenkt auf ihren, mit Holzhauern geschlossenen Weidestätten umher, die kupfernen Glocken erklangen trocken und blechern, die eine etwas höher, die andere tiefer, in regelmäßigen Abständen und mischten sich zu einer Art von Harmonie. Der Regen hielt immer den gleichen, etwas singenden Ton. Von Wind keine Spur. Das Wasser flach wie ein Glas, aber wie ein getrübtes.
Die Schwimmanstalt am Flachufer war fast völlig verlassen, ich badete, schwamm weit hinaus und tauchte. Das Wasser war unter mir und trug mich und war über mir und fiel, mit einem Geräusch, das man nur von der Wasseroberfläche her richtig vernahm und das wie ein tiefes rieselndes Zirpen erklang, auf meinen Kopf, wenn ich nicht gerade tauchte. Der Regen trat zu mir, als ich emporkam und mich umblickte, als wollte er mich kämmen, er strich in langen Küssen auf mein Haar, auf meine Augenlider, die ich schloß, und den Mund, den ich offen hielt, um leichter atmen und schneller schwimmen zu können. Ich wiederholte den Weg, den ich zuerst außen um den See gemacht hatte, jetzt innerhalb des Sees. Als ich ans Land stieg, mich mit der Hand an dem glatten Holzgeländer der Schwimmanstalt festhaltend, fühlte ich mich warm und blieb so, obwohl die Kleider, Hemd und Hose, dick mit Feuchtigkeit getränkt waren, denn die Nässe war so durchdringend, daß sie durch das alte gebrechliche Dach der Kabine durchgekommen war. Der Spiegel, der an der Wand hing, war beschlagen. Ich ordnete mir mein widerspenstiges Haar vorerst nur mit den Fingern.
Im Gasthof wechselte ich alles, setzte mich an den mit Fichtenscheiten geheizten Ofen, aß einfach und gut und trank Wasser, das hart schmeckte; ich trinke niemals Alkohol, wenn ich in den Bergen bin.
Abends sah ich von der glasgedeckten Veranda durch den Regenschleier hindurch den gleichen Zug am jenseitigen Ufer lautlos vorüberglitzern, (durch die Baumstämme und Felsen war das Licht oft unterbrochen), der uns gestern hergebracht hatte. In der Salzburger Abendzeitung stand der Wetterbericht von den Ostalpen, also Tirol, Vorarlberg: schön und beständig. Ich sagte nichts. Ich schrieb kurz nach Hause. Ich dachte vor dem Schlafen im harten, aber von Kissen und einer ›Bauernduchent‹ hoch aufgetürmten Bett an sie alle, Vater, A. v. W. und O. Ich wollte ihrer aller gedenken, sage ich. Aber der Regen und die herrliche, von Regen und vom Waldgeruch getränkte Luft betäubten mich zu sehr; die Troofen pochten zu einschläfernd auf das solide dicke Holzdach, das unmittelbar über meinem Zimmerchen lag. Jemand ging unten mit einer Laterne vorbei, wohl in die Ställe, die bei dem Wirtshaus waren. In der Extrastube lachten sie, sangen und stießen an. Ein Zug kam am anderen Seeufer vorbei, diesmal von der anderen Seite. Der Pfiff der Abfahrt brach sich an den Felsenwänden, die gerade gegenüber der Station Hallstadt sehr hoch waren. Ich versuchte, mir die drei unvergeßlichen Menschen vorzustellen. Vergebens! Ihre Züge gingen ineinander über, so wie Regen im Regen verrinnt.