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Es hatte mich überrascht, wie schwer ich mich von dem Spielsaal getrennt hatte. Viel schwerer war mir bei den Spieltischen das Fortgehen und das Fortbleiben angekommen als das Fortgehen und Fortbleiben von Lilyfine. Und doch waren die sinnlichen Leidenschaften in mir nicht schwächer geworden. Ja, sie wühlten und brannten viel tiefer. Sie wuchsen so, daß sie sich mit einem bitteren, aufwühlenden Glücksgefühl verbanden – und zugleich mit einem Gefühl der unausfüllbaren Leere, der völligen Vereinsamung!
Nun hatte mich schon der kurze Umgang mit dem weltkundigen Allerweltsphotographen Wharf belehrt, daß man sich leicht helfen konnte, wenn man keine übertriebenen Ansprüche stellte, – und vor allem etwas Geld besaß. Aber jetzt, da es mir im ganzen Leben nie mehr an Geld fehlen konnte, erkannte ich, daß es doch wohl ganz andere Hoffnungen und Erwartungen sein mußten, die mich von billigen, das heißt in Geld zahlbaren Freuden abhielten. Ich wich mehr denn je allen Gelegenheiten zu ›genießen‹ aus, so sehr ich mich meiner Unberührtheit schämte. Stolz hätte ich auf diese trügerische Reinheit ja nur dann sein können, wenn ich dieses Opfer einer geliebten Person, – (etwa einer ebenso unberührten jungen Verlobten) oder meiner Mutter gebracht hätte oder wenn diese Keuschheit im Einklang mit meiner im Werden begriffenen Philosophie gestanden hätte. Aber dies war ja nicht der Fall, ja meine Lehre verpflichtete mich vielmehr, der Natur zu folgen, die mindestens ebensogroß wie jeder vom Menschengeist faßbare Gott sein sollte. Ich hatte mich lehren wollen, nichts ernst und schwer, sondern alles ›federleicht‹ zu nehmen, ein treuer, aber vom Glück etwas mehr verwöhnter Sohn meines armen Vaters.
Als ich jetzt in Wien, dieser prächtigen und lebensfreudigen Stadt wieder Fuß faßte, war viel von meiner früheren Heiterkeit verschwunden. Ich hätte ungestört hier bleiben können, (denn wer hatte ein Recht auf mich, wenn ich es ihm nicht freiwillig einräumte?), und doch zog mich etwas zu meiner Familie zurück. Ich konnte also (auch hier in Widerspruch zu meiner Lehre), nicht allzu flink und federleicht mich den Verpflichtungen entziehen, die die Meinen an mich hatten, wobei ich auch Marthy zu den Meinen rechnete.
Lilyfine rechnete ich nicht dazu, und doch war es ein Brief von ihr, der mich im Hotel in Wien erwartete. Meine Mutter hatte ihn mir nachgeschickt und hatte, aus alter Sparsamkeit, auf der Rückseite der Briefhülle in ihrer schönen Lehrerinnenhandschrift hingeschrieben.: ›Brief folgt, Gruß! M.‹ Nun war dies nicht ganz korrekt, die Postverordnungen sahen diese kostenfreie Korrespondenz nicht vor. Ich fand den Einfall übrigens reizend, wie man überhaupt kleine Schwächen an sonst fleckenlosen Charakteren nie ohne ein gewisses Wohlgefühl betrachtet. Sonderbar berührte mich aber auch Lilys Brief. Sie sei nicht unglücklich, schrieb sie, ja, sie war so ›übervoll von Seligkeit und innerem Jauchzen‹, wie sie noch nie gewesen sei, – und das alles verdanke sie mir. Nie hätte ein Mann mit solchem Adel (!) ihr sein Lieben geoffenbart, und mehr als das, ›sein heiliges Sehnen als Mann bewiesen in Selbstzucht und Charakterstärken‹. Auch danke sie für die Zigaretten, die ihr viel zu teuer seien, um geraucht zu werden. Sie ›schlürfe‹ nur ihren Duft kalt ein und sähe ihren jungen Ritter vor sich. Sie wolle niemals den Tag vergessen, der mich ihr geschenkt habe. Auch dann nicht, wenn wir, falls es mein Wunsch und Wille sei, uns nie mehr von Angesicht zu Angesicht begegnen sollten. Und noch mehr als das, sie verdanke mir etwas, worum sich eine Menge anderer Verehrer vergebens bemüht hätte, nämlich ihr einen ›furchtbaren Tramor‹ (sollte Tremor heißen, Lampenfieber) abgewöhnt zu haben, der sie bis jetzt immer ›gehandikappt‹ hatte. Sie machte Scherze über das Wort gehandikappt, das sie von den Flach- und Hindernisrennen her kannte. Aber es war ihr doch ernst. Ich mußte ihr glauben, wenn sie erzählte, daß sie vor drei Tagen, einer inneren Stimme, die aber meine Stimme gewesen sei, denn wessen sonst?, folgend, dem Direktor des Stadttheaters hätte vorsingen wollen. Und die Probe sei erschütternd komisch ausgefallen, man hätte nämlich ein echtes Körnchen dickes Gold in ihrer Kehle gefunden und ihr so ›horrende Propos‹ gemacht, daß sie sich erst auf der Straße von ihrem freudigen Schrecken erholt habe. Nämlich eine kostenlose Ausbildung zur ›Koloratursoubrette‹, teils in Wien, teils in Italien, und als Gegenleistung bloß einen Kontrakt auf fünf Jahre an unserer Bühne. Am nächsten Tage wäre der Direktor in höchst eigener Person zu ihrer Mutter gekommen, (Lilyfine war ebensowenig großjährig wie ich, und ihre Mutter hatte Vormundschaftsrechte über sie) und hatte den ›Propo‹ noch brav verbessert, Lily ließ nur ahnen wie. Mich fragte sie um telegraphischen Rat, sie wollte mir alles überlassen, und wenn sie mir einen ›kleinen Gefallen‹ damit täte, sogar alles lassen und wieder in das Handschuhgeschäft eintreten oder mit Herrn Peters etwas Geschäftliches beginnen. Aber der Schluß des Briefes zeigte, daß noch anderes in dieser anscheinend so kindlich reinen Seele schlummerte. Sie sagte in ihrer witzelnden Art, es wäre ihr heimlicher Traum, wenn sich ihr der gute gelbe Peters aus Liebe zu Füßen würfe. Aber nicht auf dem Bettvorleger aus Ziegenfell, (eine peinliche Erinnerung für mich), sondern sie wolle unten vor seinem Hause stehen, er aber solle von oben, von fünf wohlgezählten Stockwerken herab sich zu ihren Füßen niederlassen, ohne Benutzung der Treppenstufen. Es reize sie mächtig, ihn dazu zu bringen, schon um seine Niedertracht uns gegenüber zu rächen. Denn er hätte uns belogen und bestohlen, sogar ohne Nutzen für sich, rein aus Haß gegen meinen Vater.
Ich antwortete ihr sofort (brieflich, nicht telegraphisch), wünschte ihr Glück zu ihren Berufsaussichten und bat sie allen Ernstes, den Verkehr mit dem liebestollen Prokuristen ganz abzubrechen; ich behauptete, ich könne es nicht ertragen, wenn dieser Mann in ihren Gedanken eine Rolle spiele. Er sei nicht einmal diese Rolle wert, nämlich ihretwegen Selbstmord zu begehen. Von mir sagte ich kein Wort, und ich glaube, dies sagte alles.
Die erwartete Antwort auf diesen Brief traf ein, nämlich gar keine. Ich konnte also auch über das Schicksal dieses erbärmlichen Gesellen ruhig sein.
Meine Mutter schrieb; sie schrieb etwas viel und sagte etwas wenig. Sie bat mich, ja nicht den Aufenthalt in Wien ihretwegen abzukürzen. Aber das war eine fromme Lüge. Sie hätte schon eine kleine Überraschung für mich vorbereitet, orakelte sie, und ich zerbrach mir den Kopf, was das sein könne.
Auch Marthy hatte eine Karte geschickt, die aber infolge ihrer elenden Handschrift fast unleserlich war. Ich mußte also bald nach Hause zurück.