Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Aber konnte es mir denn genügen, ein wackerer Handwerksmann der Wissenschaft zu sein?
Ich wußte, meine arme Mutter glaubte wenigstens an Gott. Sie war also nicht so arm wie ich, trotz meinem Schatz im Safe. Mir fehlte der Mut, mich ganz von jedem Glauben loszusagen. Was ist aber Philosophie anderes als die Wissenschaft der Freiheit, die Fragen stellt von ungeheurer Kühnheit und ohne Gott? Wenn ich niemals ganz den Gedanken an die Mutter oder ihr Bild loszuwerden vermochte, wenn sie mich erreichte, obwohl sie mein Quartier nicht wissen durfte, wie sollte ich es wagen, mich zu dem freien Sprung über einen Abgrund oder gar in einen Abgrund anzuschicken, dessen Bestehen meine Mutter ableugnete? »Glaube vorerst brav an Gott, den Gerechten, und an Christus, den Barmherzigen, den Erlöser von allem Übel«, so hörte ich ihre Lehrerinnenstimme und sah zu gleicher Zeit auf mich gerichtet ihre Hand mit den dünnen Fingern, zwischen denen das graue Stöckchen halb zum Weisen, halb zum Strafen festgehalten war, »dann erst hat dein Tun und Lassen Grund und Boden unter sich! Du mußt nur an der rechten Seite bescheiden dastehen, Bürschlein, demütig der inneren, besseren Stimme lauschen und arbeiten! Laß gut sein, mein getreuer Sohn! Er wird dir unbedingt einleuchten!«
Was sollte ich tun? Ich konnte nicht. Ich studierte Philosophie, ich erfuhr mit kalter, etwas bitterer Bewunderung, welche Gedankengebäude geniale Menschen aufgebaut hatten, und hörte nicht auf, zu zweifeln an allem, sogar an dem Zweifel selbst! Denn ich zweifelte an meinem Wahrheitsdrang und hoffte, ich könne einen Weg finden, hinter die Geheimnisse der Zeit und Ewigkeit zu kommen und vielleicht dennoch ein guter Katholik zu bleiben. War dies nicht auch Menschen gelungen, die unendlich größer, tiefer und reiner waren als ich, Blaise Pascal zum Beispiel? Ich suchte also seinen Weg des Heils; schweren Herzens, ich gestehe. Denn seine geniale Wirklichkeit hatte kaum eine Spur gemeinsam mit der meinen.
Ein junger Jesuitenpater, der mir Anfang Februar die Beichte abnahm, tröstete mich damit, mir sei es wie vielen anderen auferlegt, so lange um den himmlischen Glauben und den Frieden in Christus zu kämpfen, bis das von mir erobert sei, was anderen durch die Gnade zufalle. Natürlich wollte er mich in seinem Sinne dabei unterstützen, auch meine weltliche Laufbahn schien ihm nicht gleichgültig zu sein. Ich versprach, wiederzukommen, aber auch daran zweifelte ich.
Anfang März saß ich gegen Abend in meinem Ottakringer Zimmer bei der ›Ethik‹ Spinozas und hatte sein System, das von jetzt an wie so vieles andere durch mein unfehlbares Gedächtnis eingefangen war für immer, mit dem schofeln Neid des kläglichen Schülers vor dem mächtigen königlichen Meister aufgenommen, als es so an meiner Tür pochte, wie ich es nur von meiner Mutter her kannte. Eine mir selbst unbegreifliche Freude wallte auf in mir, Hoffnung und Zärtlichkeit! aber auch der kluge kalte Zweifel schwieg nicht, ich zweifelte natürlich daran, daß meine Mutter, deren Briefe poste restante unter den Anfangsbuchstaben meines Namens nach Wien gingen, meine winzige zweite Wohnung gefunden haben sollte in der großen Stadt. Und doch war sie es. Ich versteckte das Buch schnell in den Kissen des Bettes, nicht daran denkend, daß sie doch zuerst das Bett (auf seine Sauberkeit) prüfen würde. Aber vor allem fielen wir einander um den Hals, und meine Hände zitterten so sehr, daß es lange dauerte, bis die Tischlampe angezündet war.
Ich war von Herzen froh, daß sie da war, und zugleich mußte ich ihre erste Frage fürchten. Denn wenn man dem glaubte, was ich geschrieben hatte, so wohnte ich schon lange nicht mehr hier, dafür sollte ein anderer Mensch gleichen Namens in dem Haus wohnen. Beide Angaben waren Lüge. Die erste Frage beim Portier oder bei der stets sehr mitteilungsfreudigen Wirtin mußte alles aufklären. Aber sie fragte zum Glück sehr wenig. Das Zimmer gefiel ihr nicht. Vielleicht hatte sie aber Angst, zuviel zu erfahren. Jedenfalls waren wir beide froh, das kalte Kabinett zu verlassen. Wir verbrachten einen fröhlichen Abend. Nachts schlief ich, ruhiger als in den letzten Monaten, wo mich meine Leidenschaften gequält hatten, auf dem abgenutzten, mit schlüpfrigem Wachstuch bespannten Sofa, das noch nach den Ungezieferbekämpfungsmitteln duftete, wenn man das Duft nennen kann, denn Rosenduft war es nicht. Als ich am Morgen erwachte, fand ich sie schon angekleidet, sie hatte sich gewaschen, hatte das Wasser im Becken erneuert. Das Handtuch war trocken. Sie hatte zum Abtrocknen ihre Taschentücher verwendet. Ich sah sie lange an, sie schien dies nicht zu wollen, – hatte sie Angst vor meiner neuen Zärtlichkeit? Erst später entdeckte ich, daß etwas an ihr fehlte. Es waren die Ohrgehänge aus Rubinen, mit kleinen graupenförmigen Brillanten eingefaßt, Schmuckstücke, die sie immer getragen hatte. Wie oft hatte ich sie mit etwas Seife mittelst einer alten Zahnbürste vom Staub gereinigt und mich gefreut, wenn sie trocken geworden, blutrot in der Mitte und bläulich weiß am Rande, in herrlichem Glanz strahlten!
Ich ahnte, sie hatte diesen Schmuck, der aus den ersten schönsten Jahren ihrer Ehe stammte, eben verkauft. Sie hatte nicht nach dem Mysterium meiner neuen und zugleich alten Adresse, nicht nach dem heidnischen Spinoza unter dem Kopfkissen gefragt, – und ich fragte nicht, wohin der Schmuck gekommen war.
Wir gingen in ein großes Caféhaus, um das Frühstück einzunehmen, das sie wunderbar gut und besonders billig fand, während von beidem das Gegenteil stimmte. Ich hatte ihr zu Ehren ein vornehmeres Lokal gewählt, das dementsprechend teuer war. Der Kaffee war zwar heiß, sie und ich merkten ihm aber an, daß er von gestern stammte und nur aufgewärmt war. Wir waren die ersten Gäste in dem Lokal, und aus der Küche kam der balsamische Duft des jetzt erst frisch aufgebrühten Kaffees, der uns beiden nicht bestimmt war! Wir taten, als läsen wir die Tageszeitungen, der Kellner häufte außerdem illustrierte Modejournale neben ihr, und einige etwas schlüpfrige Blätter neben mir auf, vielleicht um uns über den schlechten Kaffee hinwegzuhelfen. Aber meine Mutter las die Modejournale nicht, und ich ließ die erotischen Zeitschriften links liegen, wie immer.
Schließlich reichte mir meine Mutter verlegen lächelnd über den Caféhaustisch eine Banknote. Nicht zum täglichen Lebensunterhalt sollte sie bestimmt sein. Ich hatte ihr ja vorgelogen, ich ernähre mich üppig dank fürstlich bezahlter Nachhilfestunden. Aber ich solle mir kleine Vergnügungen gönnen, »ein kleines Sträußchen Frühlingskinder in einem schlichten Wasserglas, damit du immer etwas Schönes, Unschuldiges und Holdes vor Augen hast, denn auch das ist vonnöten im Kampfe ums Dasein!«
Ich nahm die Gabe an, tief errötend, so sehr schämte ich mich. Natürlich mußte auch sie von mir etwas annehmen, ich lud sie für den Abend in die Oper ein, wo nach der Zeitungsnotiz Carmen mit einem berühmten Sänger als Gast in der Rolle des Don José gegeben wurde. Sie wandte ein, sie müsse noch nachts zurück, denn am nächsten Morgen habe sie um acht Uhr spätestens im ›Hort‹ anwesend zu sein. Ich hoffte, sie würde sich in der Oper umstimmen lassen und noch eine zweite Nacht über bleiben.
Es war noch nicht sehr frühlingsmäßig. Fröstelnd schlug sie auf der Straße den abgeschabten Kragen ihres Mantels bis über die Ohren hoch. Ich konnte doch nicht glauben, daß sie sich schämte, ohne ihre Ohrringe über die Straße zu gehen. Und doch war es vielleicht so.
Sie hätte eine Bitte an mich, sagte sie, die Augen niederschlagend, als bitte sie mich um etwas Verbotenes. Ich solle zu Ostern, welches Fest in diesem Jahre erst auf Ende April fiel, heimkommen. Und nun fügte sie eine unschuldige kindliche Lüge hinzu, daß nämlich Postillion, der doch kaum sprechen konnte, seine Sehnsucht nach mir geäußert habe. Als ob es nicht genügte, daß ich sie zu Ostern besuchen solle?!
Herrlich war abends die Auffahrt zur Oper, zu dem grauen gewaltigen Gebäude mit den Balustraden, die von hohen, kunstvoll in Erz getriebene Kandelabern hell beleuchtet waren. Vor allem berauschte mich das in Marmor und Gold gehaltene, mit riesigen Säulen geschmückte Foyer und die zwei unbeschreiblich schönen Treppen mit den vielen niedrigen Stufen rechts und links, die zu den Logen führten. Wir blieben solange unten, bis das letzte Klingelzeichen verklungen war, dann liefen wir flink wie Eichhörnchen eine kleine nüchterne, saubere Seitentreppe hinauf. Die Aufführung erregte mich sehr, aber mein Eindruck wäre stärker gewesen, wenn meine Mutter nicht neben mir gesessen und meinen Arm festgehalten und mich auf diese oder jene ›entzückende Schönheit‹ und auf das ›charakteristisch Spanische‹ aufmerksam gemacht hätte. Nach dem Vorspiel zum dritten Akt sah sie auf die Uhr.