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22.

Ich meldete bei der ehrwürdigen Schwester Pförtnerin meinen Besuch an. Man ließ mir nach einer langen Wartezeit sagen, ich könne heute meine Schwester nicht sehen. Ob ein Zusammensein später erlaubt würde, darüber hätten die geistlichen Vorgesetzten zu entscheiden. Ich fand, daß dieser Bezirk katholischer Erziehung am ehesten einer preußischen Kaserne glich und hatte wenig Hoffnung, mein Ziel zu erreichen. Indessen kam schon am Nachmittag eine Botschaft aus dem Kloster, ich dürfe Anninka am nächsten Nachmittag einige Minuten lang sprechen.

Als ich sie nach so langer Zeit wieder sah (und zum erstenmal in geistlicher Tracht, die sie ernster, aber noch viel schöner machte, ja, von einer geradezu himmlischen Schönheit!), glaubte ich mich einer Fremden gegenüber. Sie hatte nach Nonnenart die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Tracht verborgen, ihr schmuckloses Kreuz aus Nickel, an einer Kette um den Hals getragen, blinkte hell, sie durfte aber noch ihre herrlichen Haare in dreifachem Kranz um den Kopf geflochten tragen. In ihrer Begleitung war eine ältere Nonne, die unweit von uns Platz nahm, das Gesicht fast ganz unter der gewaltigen, weißen, frisch gestärkten Haube verborgen und die sofort einen Rosenkranz vornahm und abrollte. Dies hinderte sie nicht, von Zeit zu Zeit auf eine ziemlich plumpe Taschenuhr zu sehen. Uns waren, wie ich bereits gestern erfahren hatte, nur fünfzehn Minuten Gespräch erlaubt. Ich wußte eigentlich nicht, was ich sagen sollte. Wie sollte ich Anninka fassen? Die ersten zehn Minuten vergingen in Schweigen oder in ziemlich ratlosen Gesprächsfetzen über Marthy und den Postillion, welche Anninka mit engelhafter Geduld anhörte, ohne auch nur ein Wort zu erwidern. Sie fragte nicht nach unserer Mutter, und damit nahm sie mir meine letzte Waffe aus der Hand. Konnte ich über ihr Leben hier sprechen? Sie war, trotz oder gerade wegen ihrer geistigen Gaben – in der Klosterküche beschäftigt, wie mir die Schwester Pförtnerin unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Sollte ich ihr sagen, daß sie hier sehr leicht ersetzbar war, bei uns zu Hause aber gar nicht? Ich wagte es nicht. Was war ihr aber der Postillion, den sie niemals gesehen hatte?

Ihr Blick ging zuerst an mir vorbei, nach Art der Nonnen, die ungern den Menschen ins Gesicht sehen und vielfach durch ihre Tracht daran gehindert oder besser gesagt, davor geschützt sind. Dann aber durch mich hindurch. Und hätte ich nicht aus ihren unbewegten Zügen und ihrem frommen, nichtssagenden und nichts verschweigenden Lächeln schließen müssen, alle meine Worte seien ohne Wert für sie, und ich selbst sei ihr nichts als eine Erinnerung an eine Existenz, die sie aufgegeben hatte für immer, so hätte ich aus diesem kalt prüfenden, tiefen, durchdringenden, unweiblichen Blick schließen können, sie sei der erste Mensch, der mich durchschaue und meine Motive erkenne.

Die begleitende Nonne hatte aber mehr Interesse am Gespräch, denn sie hatte sich mit einer unmerklichen Drehung uns zugewandt, hatte den Kopf etwas nach rückwärts gehoben, um durch das Visier ihrer Haube nicht gehindert zu sein, und regungslos hing der Rosenkranz um ihr feines, fahl gelbliches Handgelenk. Ich sah sie an, nicht meine schöne, allzu schöne und allzu stolze Schwester, und ich erblickte ein verblühtes Gesicht mit den bitteren Falten der Resignation um den noch vollen, aber trübe erschlafften, der Länge nach gerunzelten Mund.

Ich senkte nun selbst den Blick. Ich begann, mit meinen Worten zu sparen, ich ließ sie fallen, zögernd, überlegt und überlegend, eins nach dem andern. Es mußte bereits mehr als eine halbe Stunde seit dem Beginn unseres Gesprächs vergangen sein. Die alte Nonne hatte begriffen, daß ich eine wichtige Mission zu erfüllen hatte, und sie hatte mir (nicht meiner ganz passiv dastehenden Schwester) Viertelstunde auf Viertelstunde zugegeben.

Ich hatte mich selbst wieder, sobald ich etwas Sympathie bei der alten Frau spürte und als ich (infolge meines abgewandten Blicks) der lähmenden Gewalt der Marmorschönheit Anninkas nicht mehr ausgesetzt war. Ich schämte mich vor den zwei unberührten Frauen nicht. Ich sagte alles. Nicht alles, was ich dachte, aber alles, was notwendig war. Ich riet Anninka nicht von dem geistlichen Berufe ab, ich warnte sie keineswegs als guter, treulich besorgter Bruder vor einer Entscheidung, die für die Tochter unseres Vaters viele Enttäuschungen mit sich bringen konnte, aber ich machte mich auch nicht zum Dolmetscher meiner braven Mutter, ich schwieg vom ›braven Weib‹, von der rechten Frau am rechten Ort, nämlich bei Bruder, Mutter und schließlich bei dem braven Mann und den braven Kindern am Herd und im Hort. Ich sagte, ich verstehe sie, meine sehr geliebte Schwester, ich beneide sie, ich suche es ihr gleichzutun. Vielleicht würde auch ich, dem seine Keuschheit teurer sei als die billigen ordinären Genüsse der modernen Zeit, früher oder später ihrem Beispiel folgen. Ich würde dann, hoffentlich bald, keine Rücksicht nehmen auf das weltliche Heil meiner Mutter, die sich kein Recht anmaßen dürfe auf uns, ebensowenig auf die Zukunft des Postillions, der zwar leider in der Obhut einer verworfenen, liebestollen Magd sei, über dem aber Gottes Hand schützend schwebe. Ich sagte ferner, ich hätte genau so wie sie einen Graus vor der Ehe. Ich wollte kein Ehemann und kein Lebemann werden, wie mein Vater es gewesen war. Ich sagte ferner, mein Vater hätte in Verzweiflung sein Leben beschlossen, er hätte länger leben können, seine Kinder wären es ihm jedoch nicht wert gewesen. Er hätte seine Schönheit mehr geliebt als uns und über seine Art zu lieben müsse ich in Trauer schweigen und aus Achtung auf den geheiligten Boden, auf dem ich stehe. Sie, Anninka, sagte ich jetzt in wärmerem, trauterem Ton, wäre die klügere von uns beiden gewesen, sie hätte an ihr eigenes ewiges und seelisches Heil gedacht, aber an nichts anderes sonst, und hätte sich von dem aus eigener Schuld tödlich angesteckten, armen Mann ferngehalten. Er hätte oft auf seinem Leidenslager mit seinen wunden Lippen nach ihr gefragt, aber man könne es nicht allen recht machen. Entweder man widme sein Leben dem Vater hier auf Erden mit seinen Schwächen, oder aber dem ewigen Vater über uns in seiner Herrlichkeit und Kraft! Man müsse Opfer bringen, sie habe den Vater geopfert und opfere jetzt die Mutter und das Brüderlein, denn sie folge getreu der Schrift, die dem Weib heiße Vater, Mutter, Bruder, Haus und Hof und Heimat zu verlassen und dem zu folgen, welcher der wahre Hirte und der echte Führer sei, unserem Heiland, dem Bräutigam in Ewigkeit. Ich wisse nicht, ob ich bei ihrer geistlichen Hochzeit, der Weihe, dabei sein dürfe. Sie würde dann sicherlich auch für uns arme Sünder beten, und dieses Gebet einer unschuldigen Gottesbraut sei viel wichtiger für unser Heil, als wenn sie meiner Mutter und meinem Bruder in ihrer Bedrängnis am Kochherd oder sonst im Haushalt beistehe. Der Heiland hätte Martha und Maria vor sich gesehen. Er hätte beide geliebt, aber seine Hand hätte länger auf dem Haupt der keuschen Blüte Maria gelegen als auf dem der praktischen Hausfrau Martha. Meine Stimme wurde leiser. Man hörte die Nonne schwer atmen, meine Schwester schien zu weinen, aber mit zusammengebissenen Lippen, ihre Schönheit hatte ihren blendenden Glanz verloren, ihre Hände, längst aus den Ärmeln der Tracht herausgesunken, verkrampften sich ineinander, sie stützte sich auf den Arm der alten Nonne, als die beiden, ohne Abschied von mir, das von der hellen Abendsonne durchstrahlte Sprechzimmer verließen, dessen Marmorfliesen, spiegelglatt und rein wie Schnee, auch die Farbe des Schnees besaßen. Ich blieb noch einen Augenblick, bis die Schritte auf dem Stein des Korridors verklangen.


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