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7.

Ich hockte lange noch an der Uferböschung und lugte nach meinem Vater aus. Er glitt endlich, ohne Schwimmstöße, ohne Anstrengung, den Flußlauf hinab, auf dem Rücken liegend, sein schönes gerötetes Gesicht von dem schwimmenden fächerförmigen Bart umgeben, die Augen geschlossen, dem Himmel zugewendet. Ich rief ihn an, denn er näherte sich der Stelle, wo sich die flottierenden Algen (ich nenne sie Algen, aber es waren auch Stengel von Seerosen darunter) befanden. Er schreckte auf, warf sich herum auf die Brust und kam mit einigen Schwimmbewegungen zu mir. Er fragte mich, während er nach unseren Sachen Umschau hielt (sie befanden sich weiter flußaufwärts), warum ich ihn so erschreckt hätte. Ich wollte damit beginnen, ihm meine blutigen Hände zu zeigen und ihm meinen Kampf um mein Leben zu erzählen und hatte den ersten, ironischen, mich selbst tapfer verspottenden Satz schon auf den Lippen, da besann ich mich. Er hörte höchst ungern vom Tode reden. Er nannte ihn nicht oft beim Namen, sondern bezeichnete ihn, wenn er schon davon sprechen mußte, als das natürliche Lebensende oder die traurige Bestimmung von uns armseligen Menschen, nie nannte er unsereinen sterblich, immer nur vergänglich, nie war einer tot, stets nur ›von uns gegangene‹ dorthin, woher man nicht wiederkehrt, er war abgeschieden. Am liebsten schwieg er davon.

Ich erklärte ihm meinen Warnungsruf lieber nicht. Ich liebte ihn so und war so ungeheuer gewiß auch seiner Liebe, daß mir sein Mitleid wehe getan hätte. – »Ungeschickt wie immer!« meinte er, als er die blutigen Schrammen an meiner Hand und unter meinem Knie sah, er wollte aber eigentlich nicht wissen, wie ich dazu gekommen war.

Jetzt waren wir an der Stelle angekommen, wo unsere Kleider lagen. Sie waren trocken und warm und dienten uns wunderbar als Kopfkissen. Hier, schon am Rande des schwellend frischen grünen Laubwaldes, dem noch nichts von der Dürre des Hochsommers anzusehen war, und wo noch weniger ein fallendes, raschelndes Buchenblatt das Kommen des Herbstes verkündete, legten wir uns hin. Hier waren wir noch im Bereich der Sonne, und unsere Körper trockneten schnell.

Ein leichter Wind hatte sich bald von neuem erhoben. Ich merkte es am Rascheln der Büsche, am Wiegen der Zweige, sogar an dem deutlicher werdenden Rauschen des Flusses, daß der Wind auf uns zukam. Er strich dann über seine und dann über meine Brust hinweg, die sich fast im gleichen Takte hoben und senkten. An seinem Bart und auf seiner Brust glitzerten die letzten Tropfen. Unter seiner Achsel sah ich das Blut pulsieren, denn die bläulichen Adern schimmerten durch seine weiche, mädchenhafte Haut, die der der jungen Gräfin ähnelte. Er hatte jetzt seine Arme unter den Kopf gelegt, lächelte in seinen Bart, wie in Erwartung einer schönen Stunde, summte verloren vor sich hin, bald begann er einzuschlafen, sein Gesicht drückte aber eine Erwartung, eine freudige Spannung aus, die sich allmählich löste in den tiefen Atemzügen des Schlummers, in seinem wie verklärten, frohen, aber etwas fremd werdenden Gesicht. Der Wind kam dann von Osten in frischen Stößen, als wolle er ihn wecken. Ich kniete jetzt neben ihm und deckte ihn mit meinen Sachen zu. Er schlug die Augen auf, sagte aber nichts mehr. Im Schatten war es kühl. Sein Arm war wie aus Alabaster, kein Haar, keine Falte. Mich durchlief es kalt. Ich stand auf, und lief auf dem Uferweg dahin, die Arme an die Brust gepreßt wie im Turnsaal und erwärmte mich schnell. Meine Wunden hatten sich längst geschlossen, alles heilte bei mir sehr schnell.

Während ich lief, ohne mich um das schmerzhafte und doch süße, aufregende, sinnliche Gefühl zu kümmern, das die Steine auf dem Treidelweg auf meinen nackten Sohlen verursachten, fiel mir ein, daß ich keine Impfnarben an seinem linken Arm gesehen hatte. Ich nahm mir vor, ihn danach zu fragen. Denn es gab in unserer Stadt immer wieder vereinzelte Fälle von Pocken, die man bei uns ›schwarze Blattern‹ nannte. Man sah auch ab und zu auf der Straße Menschen, sonderbarerweise meist Männer, deren Gesicht die tiefen Narben trugen, als ob der Teufel Erbsen gedroschen hätte, nach Marthys Worten, die ihr meine Mutter stets verwies. Ich erinnerte mich an einen blatternarbigen, kahlköpfigen, scheußlich häßlichen Bettler, der an unserer Ecke stand und blind war. An ihm hatte ich erfahren, was Mitleid heißt. Erst vor einem Jahr ist er verschwunden, und er hat mir sogar gefehlt.

Ich kam jetzt schnell zu meinem Vater zurück. Er war erwacht, auf seiner jetzt bläulichen, leicht marmorierten Haut sah ich die Wirkung der Kälte, und er war wohl ihretwegen erwacht. Ich fragte ihn, warum er nicht geimpft sei. Er sagte irgendwas, aber er wich mir aus, – wie so oft auf ihm unangenehme Fragen, denn Impfen hing mit Krankheit und Krankheit mit Tod zusammen. Und Tod an einem so herrlichen Tag? Ich, der eben einer Lebensgefahr entronnen war und jetzt ahnte, was sterben bedeuten könnte, nahm seine beiden Hände in die meinen. Er machte sich aber erstaunt los. Ich bat ihn, stotternd in meiner Ungeduld, er möge sich impfen lassen, uns zuliebe! Mir zuliebe! Er schüttelte den Kopf, sein Gesicht war eher finster. Ich sagte also nichts mehr. Er stand auf, reckte sich mit seiner hohen, breitschultrigen Gestalt, sein Hemd hin- und herschwingend im Winde, um die Feuchtigkeit daraus zu entfernen, die sein nasses Haar zurückgelassen hatte. Seine goldenen Manschettenknöpfe leuchteten hell. Er schien mir jetzt viel größer als ich, denn er sah über mich hinweg nach etwas Weitem. Aber die Vorfreude, die er vor einer halben Stunde gehabt hatte, war nicht mehr an ihm zu sehen, nur das Zerstreute, das Verlorene ...

Meine Mutter rief uns mit ihrer etwas scharfen, heiseren Stimme, meine Schwester tat mit ihrem hellen, piepsenden Stimmchen das gleiche. In den Gebüschen regten sich überall Vögel, sie kamen von den Buchen, Birken und Weiden, flatterten, sich jagend und fliehend und erreichend, im Zickzackflug über den kleinen Fluß, um am jenseitigen Ufer in den Rüben- und Kartoffelfeldern zu verschwinden. Ich nahm meine Sachen und zog mich in einem von jungen Laubgewächsen dicht umgebenen, dunklen, moosigen Fleckchen mitten im Walde wieder an. Auf dem Boden wuchsen Erdbeeren. Ich pflückte welche und brachte sie den Meinen. Es war schon etwas spät im Jahr für Erdbeeren, sie waren dunkelrot und zusammengeschnurrt. Niemand wollte sie nehmen. Sie dufteten aber noch sehr süß. Sie hatten ja den ganzen langen Sommer in sich. Alle rieten mir, sie fortzuwerfen. Aus Widerspruchsgeist aß ich sie, sie schmeckten wie rotes Löschpapier.

Meine Schwester bat meinen Vater, er solle ihr Holzlöffelchen für die Puppenstube schnitzen. Meine Mutter sah auf ihre goldene, mit kleinen Brillanten eingefaßte Uhr. Aber nicht sie, er drängte zum Aufbruch.

Wir hatten viel Zeit, die Tage waren noch sehr lang. Im Westen stand eine halbmondförmige oder kahnförmige Wolke bläulich und unbeweglich über den vom Wind bewegten Bäumen. Eine Wolke, und doch war ihr Blau so zart, so himmlisch, so voller freudiger Zuversicht. Aber es war kein Stück Himmel. Die Sonne sank allmählich hinter das Gewölk, die Bäume nahmen eine kalte steingrüne Färbung an, der zwiebelförmige schwarze Kirchturm des großen Dorfes, dem wir nun alle vier zustrebten, lag wie zum Greifen nahe vor uns, wie stets vor einem Regen. Hier waren die Felder schon abgeerntet, die Stoppeln standen rostrot und matt glimmernd in dem von kleinen Furchen zerrissenen Boden, in welchen sich Heuschrecken und Eidechsen versteckten und aus denen bald, mit sinkendem Abend, die Grillen zu schrillen begannen. Wir aßen im Gasthof des Ortes unter den Nußbäumen vor einem großen Bauernhofe allerhand Gekochtes, Gebackenes und Gebratenes auf dicken Steinguttellern. Ich hatte nicht acht, was es war. Ich hatte gewaltigen Hunger, es wühlte geradezu in mir. Ich kannte das Gefühl noch nicht ...

Alle sahen mich an. Im nahegelegenen Stalle klopften wiehernd die Pferde auf die Streu, Kühe rasselten an ihren Ketten, Schweine stießen mit den Rüsseln gegen die schlecht schließenden Türen ihrer niedrigen Koben, viele schwarze und weiße Hühner liefen aufgeregt im Hofe umher, auf ihr Abendfutter wartend, das ihnen ein halbnacktes blühendes Bauernmädchen aus einem groben sandfarbenen Rock herauswarf. Während sie mit ihren kleinen fetten dunklen Händen im goldgelben, rieselnden Futter grub, entblößte sie, ohne es zu wissen, ihre Beine bis zum Knie. Die Knie waren dunkel, fast schwarz, vielleicht hatte sie knieend in den Ställen gearbeitet, obwohl es Sonntag war. Beim Streuen des Futters beugte sie den üppigen Oberkörper lachend zurück, um sich vor den aufflatternden Hühnern zu retten. Wie von einer Faust hervorgestoßen, drängte sich ihr strotzender Busen mit den zwei dräuenden Spitzen zwischen den Rockträgern hervor. Aber er, mein Vater, sah nicht das lachende derbe Gesicht, nicht die strahlenden unwissenden Augen, nicht den Busen, auf den sie vielleicht stolz war. Sein Blick haftete auf ihren Füßen und es war mir ein seltsames Gefühl zu sehen, wie er seine eigenen Lippen gleichsam verzehrte, indem er abwechselnd die obere und die untere zwischen seine schönen Zähne nahm ... Ich dachte plötzlich an die unvergessene A. v. W. Das, was ich Hunger nannte, wallte noch glühender in mir auf, das Herz pochte, es wurde mir Angst.

Er hatte wohl nur an seinen früheren Beruf gedacht. Die Füße der Bauernmagd waren es wert, bewundert zu werden, so fein gedrechselt die Knöchel, der Spann so hoch. Selbst unter dem Schmutz der Ställe hatten die Zehen ihre ebenmäßige Ordnung bewahrt und reihten sich gerade und fein eine an die andere ... Mein Vater war aufgeschreckt. Meine Schwester hatte ihn angestoßen, sie hatte eine neue Bitte an ihn, die sie jetzt mit ihrem piepsenden Stimmchen vorbrachte. Mein Vater konnte nicht nur Kochlöffel aus Haselnußstauden schnitzen, sondern auch Flöten aus weißen Rüben. Aber er schüttelte den Kopf. Es war spät, er wollte heim.

Unser Zug war sehr besetzt. Wir hätten noch einen späteren (und sogar einen dritten, einen Sonntagszug) abwarten können, aber mein Vater zitterte jetzt vor Ungeduld, es erwarte ihn eine geschäftliche Unterredung, sagte er meiner Mutter leise und schmeichelnd ins Ohr, damit es die anderen Passagiere nicht hören sollten. Schon schüttelte er den Kopf, wie um einen Widerspruch meiner Mutter abzuschneiden. Aber meine Mutter schwieg und sah strafend die sonst so wohlerzogene Anninka an, die mit speichelbenetztem Finger quietschende Töne aus der Glasscheibe des Abteils hervorlockte ...

Daheim kamen wir mitten im Gewitter an. Lachend liefen wir vier durch den prasselnden duftenden hellgrauen Regen. Mein Vater voran. An einer Ecke war er verschwunden. Nun liefen wir nicht mehr. Mühsam stieg meine Mutter die Treppe zu unserer Wohnung hinauf, während es noch von unseren Kleidern tropfte.

Wir traten leise ein in die verlassene Wohnung, meine Mutter schlüpfte durch alle Zimmer, als hätte sie erwartet, mein Vater sei vor uns gekommen und verstecke sich in einer Ecke, um uns zu erschrecken. Wir zogen uns dann um. Aber erst jetzt, in den trockenen Kleidern, überkam es mich kalt. Meine Mutter strich mir durchs Haar. Sie hatte Angst um mich. Aber ich wurde nicht krank. Mein Vater kam sehr spät.


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