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2.

Noch nach dem Weihnachtsabend verließ uns Marthy, um zu ihren Verwandten aufs Land zu reisen und sich auf ihre Hochzeit vorzubereiten (oder um es sich noch einmal zu überlegen). Ich hatte nichts zu tun, außer daß ich mich um den Haushalt kümmerte und meiner Mutter an die Hand ging. Auch wollte ich einen letzten Versuch mit den meiner Überzeugung nach böswilligen Schuldnern machen. Sie empfingen mich fast alle freundlich. Das Beileid und Mitleid tropfte ihnen von den Lippen. Aber die Augen blieben hart und ihre Kassen geschlossen für mich. Sie stritten nicht ab, von meinem Vater größere Beträge erhalten zu haben. Aber sie behaupteten so einträchtig, als hätten sie sich untereinander verschworen, sie hätten sie längst zurückgezahlt, und sogar mehr, als das Debet seinerzeit betragen hatte!

Der eine streichelte mir die Haare aus der Stirn, der andere rückte mir die Krawatte zurecht, der dritte wollte genaue Einzelheiten über den Gesundheitszustand ›der guten Witwe‹. Sie gebrauchten keine so bitteren Worte wie die Gläubiger in der Versammlung. Sie nahmen mich leutselig an der Hand oder zogen mich an den Manschetten meines Hemdes zu sich heran, als hätten sie mir aus größerer Nähe noch wichtigere Geheimnisse mitzuteilen. Aber sie hatten mir keine Geheimnisse zu sagen. Je eindringlicher ich aber wurde, desto mehr entfernten sie ihre Schreibtischstühle von mir, sie sprachen wieder laut und mit ihrer natürlichen, kommerziellen Stimme. Sie verwiesen mich auf den Buchstaben des Gesetzes.–

Wenn die Rede auf Peters kam, konnte keiner von ihnen eine Art verschmitzten Lächelns verbergen, so daß ich den Eindruck hatte, er sei von ihnen bestochen und habe mit voller Absicht alle Belege vernichtet. Als ich aufs Geratewohl Zahlen nannte, sagten sie, ich solle das Mitleid, das sie unserer Lage entgegenbrächten, nicht plump mißbrauchen. Ich antwortete, ich wolle kein Mitleid, sondern die Schulden bezahlt. Darauf schwiegen einige entrüstet, einer aber gab mir die böse und kluge Antwort: »Warum sollen wir generöser sein als Ihre gute Mutter? Wenn sie den Friedhof aus der Masse herausgefischt hat, gibt ihr der Buchstabe des Gesetzes recht und wenn Ihr keine gestempelten Belege besitzet für Eure Guthaben hier«, (und er schlug leicht auf ein mit Messingecken eingefaßtes großes Buch, das vor ihm lag), »dann ...« Er brauchte weiter nichts zu sagen, ich war schon aus seinem Büro gegangen, und auf dem Wege zu einem anderen, bei dem ich dieselbe Erfahrung machte.

Meiner Mutter sagte ich die traurige Wahrheit nicht. Ich behauptete, alles sei noch in der Schwebe, stünde aber eher zu unseren Gunsten, Peters sei wirklich krank und im Grunde die treueste Seele auf der Welt, und nach Neujahr würde der eine oder andere Schuldner freiwillig mit einer größeren Abschlagszahlung herausrücken usw.

Die arme Frau, die jetzt infolge ihrer Last immer wieder Atemnot bekam und nur flüsternd mit mir sprach, um Luft zu sparen, wie sie sagte, atmete jetzt aus Herzensgrunde auf.

Sie, die noch am Heiligen Abend, den wir mit Marthy gemeinsam gefeiert hatten, fast nichts von den leckeren Speisen berührt hatte, empfand jetzt Hunger. Sie kam mir, als ich, mit Paketen beladen, unsere Treppe im Laufschritt emporstürmte, bis auf den Treppenflur entgegen, streichelte meine heißen Wangen und wollte mich bei sich in der Küche haben, wo sie, neben dem Herde auf einem Küchenschemel sitzend, kochte und einige Kleinigkeiten naschte. Als wir gegessen und das Geschirr abgewaschen hatten, begleitete ich sie in ihr Schlafzimmer und legte ihr einen heißen Ziegelstein in das Bett unter die Decke zu ihren Füßen.

Am letzten Tage des Jahres begleitete ich sie in einer eiskalten, knarrenden, nach altem Leder riechenden Droschke in das Krankenhaus. Sie lachte fast übermütig, als ich ihr aus dem Wagen heraushalf. Ihre bösen Ahnungen waren verschwunden.

Am Abend des nächsten Tages durfte ich sie besuchen und das neugeborene Geschwisterchen, einen schwächlichen und häßlichen Knaben, bewundern. Ich heuchelte Freude, fand das Kind ungewöhnlich kräftig, außerordentlich wohlgebildet und schön und sagte ihr alles, was sie von mir als einem braven Sohn, ›wie er im Buch steht‹, erwarten konnte. Hatte sie mir das Bündel mit dem armen Kind nicht wie eine Schulaufgabe hingehalten, damit ich mein Urteil abgeben könnte? Ich lobte sie also über die Maßen.

Sie fragte mich, als wäre ich der Vater, wie man das Kind nennen sollte. Vielleicht Sylvester, weil es am Silvesterabend zur Welt gekommen war? Interessant war auch ›Postumus‹ (»oder sagt man Posthumus?« fragte sie), weil er nach dem Tode seines Vaters das Licht der Welt erblickt hatte. Gegen Sylvester war ich durchaus. Es war dies überhaupt kein Name für ein Kind in unserer Zeit. Postumus fand ich traurig. Aber das Wort erinnerte mich – (meine Verzweiflung trug an jenem Abend das Gesicht des Spottes, ohne daß sie es ahnte) – an Postillion. Auch, war das Kind pünktlich wie mit der Post gekommen.

Jetzt begann die Mutter, der ich die Leiden der letzten Nacht noch sehr ansah, zu lächeln und sagte, ihr grobes Krankenhaushemd über ihrer hohen Brust mit den mageren, wachsbleichen Händen zusammenhaltend: »Postillion klingt wirklich schön und froh, nach Schlitten oder Pferdeschellen, aber es ist kein Christenname. Postillion, nein?! Postillion?« wiederholte sie in Gedanken, das Kind, das schlief, aus seiner Wiege wieder zu sich nehmend und es prüfend ansehend, wie um zu erkennen, ob der Name ihm auch zu Gesichte stand, »Postillion nicht, aber vielleicht Lion, Leon, Leopold, du kennst doch das Lied ›Leopold, mein Sohn‹? Kennst du es nicht?« Sie versuchte es sogar zu singen, aber unterließ es aus zwei Gründen, weil nämlich ihre Singstimme nicht gut war und dann, weil sie das Kind, das sie mühsam eingeschläfert hatte, nicht wecken mochte. Bald schlief sie selbst ein, während ich auf den Zehenspitzen das Zimmer verließ. Aus dem Nebenzimmer drangen Stöhnen und unterdrückte lange Schreie. Ich dachte an ihn.


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