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28.

Wir gingen noch auf der monderhellten Straße und warfen groteske Schatten. »Warum siehst du dich um«, fragte sie plötzlich nach einem langen Schweigen, »wir sind allein, es kommt uns schon keines nach.« Ich schwieg. Sie drängte mich etwas nach links, unter die Bäume. Ich folgte ihr, scheinbar ruhig. Aber auch im Schatten der Bäume versuchte ich keine Liebkosung. Auch sie beherrschte sich, und bei der nächsten Windung des Weges waren wir beide wieder in der hellen Mitte, dort, wo die Spuren der Räder waren. Um ihren Mund zuckte es, ich sah, sie mußte bald beginnen zu weinen. Tränen aber hätten mich vielleicht unsicher gemacht. Ich begann also, ihr gut zuzusprechen.

Oh, so gut! Sofort, als sie meine Stimme hörte, lächelte sie mich an. Sie ging unsicher, hastig und ungeschickt, das Gesicht und den Körper mir zugewendet, und stolperte mehr als einmal auf dem ebenen, nur leicht ansteigenden breiten Weg.

»Karla«, setzte ich fort, »du sagst, weißt, ich heirate nicht, und ich sehe dich niemals wieder. Das sind doch deine Worte, und du meinst es so?« Sie wollte mich unterbrechen und stehenbleiben, aber ich faßte ihren Arm mit ruhiger Stärke und führte sie allmählich weiter, und sie schwieg.

»Du mußt aber heiraten, es wäre schade um dich, tätest du es nicht. Keinen alten Knacker, der deine Herzensgüte mißbraucht, sondern einen jungen braven Menschen, der dich eben verdient und dem du endlich von ganzem Herzen gut sein kannst! Ich werde es dir nicht als was Schlechtes anrechnen, denn du liebst mich nicht und kannst mich deshalb gar nicht verraten! Widersprich mir nicht!« kam es sehr langsam, mit einer kleinen Pause zwischen jedem Wort, aus meinem Munde, und der eisige Ton meiner Stimme überraschte selbst mich. Vielleicht erscholl er nur zwischen den beiden Wänden aus dichtem Baumbestande so klar und bestimmt. »Ich will dein Bestes, wie du mein Bestes willst. Ich achte dich! Du kannst mich nach deiner Hochzeit, oder wenn du lieber willst schon nach meiner Reise wiedersehen. Warum soll es nicht Freundschaft geben zwischen Mann und Weib? Sind wir zu schwach? Ich sage nicht, du bist ungut. Ich weiß, daß du heute nacht nicht aus unvernünftiger, dummer, unüberlegter Liebe handeln kannst wie ein Kind. Das solltest du nicht. Wer kann das denn? Du kannst es halt nicht, es ist dir nicht gegeben, nein! Niemand weiß besser als ich, wie schwer dein Beruf ist, ich habe nie einen Prachtmenschen gekannt wie dich, wie du dich aus Pflicht allen Menschen aufopferst, deinem Vater, dem Andenken deiner Mutter, deinen Geschwistern. Mir auch noch? Nein! Aber ich meine es im Ernst!« schloß ich. »Was?« »Ich achte dich meiner Mutter und meiner Schwester gleich!«

»Du sollst mich nicht achten«, schrie sie auf mit einer heiseren Stimme, wie ich sie nie aus ihrem Mund gehört hatte, »um dich habe ich es nicht verdient.«

»Nicht so laut!« sagte ich. »Ich habe niemals etwas von dir verlangt«, sagte ich.

»Ja, und habe ich dir jemals etwas gegeben? Will ich denn nicht? Glaubst du, es ist mir leicht gefallen, dich vor ein paar Wochen warten zu lassen und mein Wort zu brechen? Ich hatte dir versprochen...« »Alles gut. Das ist lange vorbei. Liebes! Gutes! Braves Weiberl! Ach meine liebe schöne arme Karla! Mache dir keine Vorwürfe, Karla, du kannst nicht anders handeln, als du tust. Quäle dich nicht, denn damit quälst du auch mich. Alles ist gut, wie es ist. Wir sind eben arm und nein, es kann nicht sein!«

»Ja, ja und nochmals ja«, schrie sie noch lauter, so daß es widerhallte zwischen den Bäumen, »was weißt du denn, was hier drinnen vorgeht in dem Kasterl bei einem Menschen mit Fleisch und Blut?«

»Es kann aber nicht sein und darf nun einmal nicht sein, um Himmels willen, hör zu«, sagte ich. »Du kannst dich nicht ohne Ehering hingeben, du mußt dir selbst treu bleiben und an deine Zukunft denken, an deinen Beruf und die vier Geschwister, an sonst nichts!«

»Bist du ein Teufel? Laß dich ansehen«, sagte sie immer noch laut, aber mit einer rührenden Stimme voll von warmer Zärtlichkeit oder von großer Angst, »oder bist du etwas, was man sonst nicht kennt in dieser niederträchtigen geilen Zeit?! Ich gehe neben dir, und du bist da, und ich begreife dich nicht. Zwei Jahre und nicht einmal ein Kuß? So häßlich bin ich? So alt?!! Hast du großer kluger Philosoph denn keinen Tropfen lebendiges Blut in den Adern?« Ich schwieg. Lastwagen kamen vorbei, die Pferde dampften, es war kühl. Die mit Eisendraht vergitterten Wagenlampen warfen ein rußiges Licht auf uns zwei.

Ich schwieg. Sie packte mich an der Schulter und rüttelte an mir, als wolle sie mich zu einer Antwort zwingen. »Wozu sollen wir noch reden? Genug!« sagte ich, »mit solchen Dingen schachert man nicht, nicht Mann, nicht Weib, und alles im Kopfe zusammenzurechnen, für und wider, hat jetzt keinen Sinn mehr.«

»Nein, nein, nicht mehr, du hast wohl recht! Nein«, murmelte sie, den Kopf auf die Brust gesenkt. So hatte ich sie gesehen, vor Jahren auf dem Bahnhof als ich glaubte, wir würden uns trennen auf immer, ohne uns zu kennen. Kannte ich sie jetzt? Trennten wir uns jetzt?

Sie hatte den Arm aus meinem gelöst, rang die Hände, das weiße Leinwandtäschchen schaukelte auf ihrem Arm hell im Mondlicht. »Ich kann halt doch nicht«, sagte sie mehr für sich als zu mir, »und wenn es um die ewige Seligkeit ginge, ich kann doch nicht, ich habe es mir damals zugeschworen.«

»Zwinge dich nicht«, sagte ich, »zwinge dich nicht! Was wäre sonst alles wert! Du sollst nie etwas bereuen.«

»Aber wenn ich es vielleicht nicht bereue? Wenn alles ganz anders ist? Ich habe ja noch nie geliebt. Ich habe niemals einem Mann gehört. Aber«, rief sie laut und schlug die Hände gegeneinander, »ich werde auch niemals einem Mann so angehören. Versprichst du es mir?!«

Was sollte ich tun? War ich es, war sie es, die den Weg gewählt hatte, der ins Dunkel führte? Ich war es wohl, denn einer mußte führen; und sie konnte es nicht mehr.

Zwischen den Bäumen war es dunkel, nur ab und zu drang ein Strahl durch die Zweige, und ein müder, halbverwelkter Farn erschimmerte wie in Rauhreif. Rechts und links vom Wege war in hohen Schichten das abgefallene Laub aufgehäuft, das man hier vom Weg fortgeschaufelt hatte. Es hatte lange nicht geregnet, es war schönes, wolkenloses Wetter, nur Nebel, etwas Feuchtigkeit gab es, aber keine Wolken. Sie ging nicht im gleichen Takt, einmal war sie mir weit voraus, und ich sah, wie sie scheu nach rechts und links blickte, dann hielt sie zurück, und ich fürchtete sogar, sie würde völlig zurückbleiben, mich vorangehen lassen und sich so – ohne ein Wort – auf immer von mir trennen. Ich aber stieg mit meinen gleichmäßigen Bergsteigertritten die Anhöhe hinauf. Nach einer langen Pause kam sie mir laufend nach. Als sie neben mir stand, preßte sie meine und ihre Hand zusammen auf ihr mächtig pochendes Herz, dann legte sie die zwei Hände mir an meinen Mund, ich sollte nichts mehr reden, sie wollte mir noch ein letztes Wort sagen. »Ich werde dich nicht lange mehr quälen«, sagte sie endlich, durch die offenen Lippen flüsternd, obwohl uns weit und breit niemand hören konnte. Denn die Landstraße, die man aus dem Tale hervorschimmern sah, war jetzt leer und tot. »Verstehe mich, ich bitte und flehe dich an, habe noch etwas Geduld mit mir, denn ich weiß nicht, was ich tue und was nicht. Aber das eine weiß ich, ich schäme mich vor dir! Ein Mann wie du! Ich habe ja gelesen, was sie geschrieben haben in der Zeitung über dich und... Und du hast mir aus Mitleid zwei Jahre für nichts und wieder nichts geopfert, und ich habe dir nicht einmal einen Kuß gegeben. Muß das nicht bitter für mich sein, mein ganzes Leben lang? Ich kann dir nichts geben, ich darf dir nichts versprechen. Ich möchte im Herzensgrunde nichts als Frieden, seit zehn Jahren, seit ihrem Tod suche ... ich ... glaube mir ... nichts als Frieden, und zwischen dir und mir habe ich es mir immer anders gedacht. Ich war ja sofort am Bahnhof glücklich mit dir, nicht ganz, das verstehst du, aber doch in meiner Art glücklich bis damals , als du mich mit der Hand an der Wange gestreichelt hast.« Ich nickte, den Blick fern. Wann war das? Ich, bei meinem Gedächtnis wußte es nicht. Ich streichelte ihre Wange schon lange nicht mehr. »Wenn ich wüßte, daß du dich immer und ewig so beherrschen kannst wie ich, müßten wir nicht so eiseskalt und so fürchterlich auseinandergehen. Ich kann ja nicht! Du bist zu jung, ich bin zu arm! Ich wollte eben erst unten bleiben, mich im Laub verkriechen und warten, bis du fortbleibst, und ich dachte, du rufst mich wenigstens, ein ganz klein wenig, du lieber Herr und Gott, möchte ich dir doch fehlen.«

»Du wirst mir immer sehr, sehr fehlen, für mich wird es nie eine zweite Karla geben!« sagte ich und küßte ihre Stirn, »ich habe dir nie gelogen, ich bin dir gut!«

»Ich bin dir gut, ja, ja, ich hör, ich hör, ich versteh, ich versteh, ja, ja«, wiederholte sie keuchend, obwohl sie doch stille stand, die paar kurzen Worte, jedes mit einem kurzen gewaltsamen Atemstoß hervorbringend, als presse ihr etwas die Brust zusammen mit eisigen Reifen, »also nicht einmal in der letzten Minute bringst du es über dich, ein gutes Wort zu sagen? Also nichts, als ich bin dir gut und Mitleid! Alles Eis und ein Herz wie Stein bei aller Klugheit! Du glaubst ja lange schon an nichts mehr, und unseren himmlischen Heiland, das einzige Kind Gottes, hast du mit deiner erfrorenen Teufelsphilosophie zum zweitenmal gekreuzigt. Du läßt mich in meiner Marter gehen und weidest dich an meiner Pein und wendest dich nicht einmal um! Aber ich kann es doch nicht!« Diese Worte rief sie an meiner Brust. Ich fühlte eine unbeschreibliche Glut in mir erwachen, etwas Schweres und Entzückendes, wie ein Blitz, der aber nicht in einem Augenblick verschwindet, sondern immer furchtbarer und feuriger wird, und so schwer, daß beide niedersanken. Ich legte meine Hand unter ihren schönen bleichen Kopf, von dem der Hut abgeglitten war. Auf der einen Seite meiner Hand war das feuchte Laub, auf der anderen Seite ihr seidiges weiches Haar. »Schwöre mir bei dem Leben deiner Mutter, bei dem Heiligsten, was du hast! Ich will auch schwören, aber wobei soll ich schwören, außer dir habe ich ja nichts!« Ich schüttelte den Kopf, auf den Knien vor ihr, meinen Mund über dem ihren. Aber ich berührte ihn nicht. Endlich schüttelte auch sie den Kopf, und so küßten wir einander zum ersten Male.

Es war hier viel wärmer als unten auf der Straße, wo der Wind in langen Zügen strich, hier streifte er nur die Wipfel der Bäume zart gegeneinander, und recht selten löste sich ein welkes Blatt, eine vertrocknete Waldesfrucht, eine Buchenecker ... Nur in der unsagbaren Stille der monderfüllten Nacht konnte man das Auffallen auf dem weichen, moosigen, laubüberhäuften Boden hören.

In der Nähe unseres Laders war eine halb entlaubte Brombeerstaude. Als sie plötzlich ihren Arm noch einmal und wilder als das erstemal um mich schlang, alles vergessend, sah ich, wie ein Dorn ihre nackte Haut faßte und blutig riß. Ich fühlte ihren Schmerz in mir. Ihre Augen waren aber weit offen, und es war keine Träne in ihnen. Eher eine Art Stolz. Es war nicht mehr so dunkel, ich konnte alles sehen. Lange lagen wir noch schweifend, Brust an Brust. Unten waren einige knarrende Holzfuhrwerke, auch diese mit einer schwankenden rötlichen Laterne zwischen den Pferdeköpfen an der Deichsel, vorbeigekommen. Ich flüsterte ihr zu, wir wollten nach Hause. Sie antwortete mir, ebenso flüsternd, sie erinnere sich einer Waldwirtschaft ganz in der Nähe und bat mich, mich abzuwenden, während sie aufstand und alles an sich ordnete.

Der Mond stand jetzt viel höher, hatte sich aber ganz fein umschleiert. Der Nachttau lag jetzt überall auf dem Boden, auf den Steinen und moosigen Felsen und auf den schweigenden Pflanzen.


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