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15.

Mein armer Vater mußte furchtbar leiden. Der Arzt sah es, er mußte es von Berufs wegen verstehen. Er fand alles ›natürlich, höchst normal, ein einfacher Fall‹. Die Lebensgefahr schätzte er nicht hoch ein, wollte aber auch keine Bürgschaft für einen glücklichen Ausgang geben. Nun sollte doch Gott den Ausgang in der Hand haben, nun, wie es ihm gefällt dort oben, sagte er, meinem Vater auf die Schulter tätschelnd, als betrachte er ihn als ein Kind. Ich überließ meiner Mutter oft nun deshalb die Pflege, um ein Gebet zu versuchen. Es wollte mir nicht gelingen. Vater unser. Ich wollte gerade jetzt nicht an den Vater erinnert sein, ich wollte meinen leiblichen, gequälten, am ganzen Leibe von roten, eitrigen, schmerzhaften Schwären bedeckten Vater nicht mit dem ruhigen, tiefen, seligen Himmel in Verbindung bringen. – Ich hatte nachher den Mut, zu meinem Vater mit einem fast heiteren, jedenfalls aber gefestigten Gesicht zurückzukehren, und ihm offen ins Auge zu sehen, als er nach der zweiten Woche seiner Krankheit wissen wollte, was ihm fehle. Nun war gerade die Krankheit der Pocken vermeidbar. Wir hatten ihn alle vorher gewarnt, angefleht. Ich konnte ihm daher nicht sagen: Du hast jetzt diese und diese Krankheit, sie ist unnötig gewesen, du hast sie dir bei der unnötigen Reise, durch unnötigen Wagemut zugezogen. Er sollte und mußte es erfahren. Aber erst dann, wenn alle Gefahr vorbei war und die nächtlichen Delirien, die uns anfangs so furchtbare Angst gemacht hatten, – (seinen Vater stundenlang mit Gewalt bändigen, vor sich selbst schützen müssen!) vorbeigegangen waren, um nicht mehr wiederzukommen. Am fünfzehnten Tage schien also die größte Gefahr vorbei. Ich sah es an der Miene des Arztes, der bei all seinem mürrischen Wesen doch ein herrlicher Mensch war. Er erlaubte jetzt zum erstenmal, daß wir das bis jetzt geschlossene Fenster weit öffneten und daß wir die trübselig herabgelassenen Rolläden mutig in die Höhe zogen. (Wir hatten vor einer Woche diese Maßnahme gegen den Willen des Kranken durchsetzen müssen. Wir konnten ihm damals nicht gehorchen.) Mein Vater hatte jetzt wieder begonnen zu sprechen, anfangs bewegte er nur ein wenig die Lippen, aber doch so deutlich, daß wir ihm seine Fragen und Wünsche ablesen konnten, dann begann er ganze Worte zu formen. Er setzte sich im Bett zum erstenmal auf. Jetzt schien ihm die überstandene Gefahr zum Bewußtsein zu kommen, er verlangte in Ruhe und Zuversicht, scheinbar von seinem alten Geist des Unnütz, Umsonst! befreit, nach dem Geistlichen zum Empfang der Sakramente und nach dem Notar für sein Testament. Da ich die Angst meines Vaters vor dem Tode kannte, schloß ich aus diesen Zeichen, daß er sich für gerettet hielt. Während der Geistliche mit einem jungen Ministranten bei meinem Vater war und der Notar in meinem Zimmer wartete, – (die Krankheit konnte ihnen nichts anhaben, da sie alle kürzlich nachgeimpft waren), kam auch der Arzt, dem diese Fülle von Menschen zuwider war. Er zeigte eine grämliche Miene und wollte gehen, um am Abend wiederzukommen. Ich begleitete ihn zur Tür, ließ ihn aber nicht gehen, ohne die große Frage an ihn zu richten. Denn noch traute ich dem Schicksal nicht! Er beruhigte mich, als er aber schon auf dem Treppenabsatz war, wandte er sich noch einmal um und sagte: »Sprecht noch nicht zu viel mit ihm, schonet ihr alle sein Herz! Das Herz, das ist der schwache Punkt bei ihm, verstehst du das auch?« Ich lächelte ihm dankbar zu. Ich – und nicht sein Herz schonen! Auch meine Mutter hatte ihre bitteren Gefühle ihm und mir gegenüber längst überwunden. Zwar warf sie mir jetzt die ›Kohlenkiste‹ ebenso vor wie meine Versuche, vor ihren kurzsichtigen Augen die heimlichen Zusammenkünfte meines Vaters in der Stadt zu verbergen, und desgleichen mein Streben, ihr das goldene Kämmchen als mein Eigentum darzustellen, obgleich es nur von ihr stammen konnte, aber sie sagte, man könne mir nicht böse sein, man wisse nicht, wie man mir Nein sagen solle. Ich küßte ihre magere Hand voll Dankbarkeit.

Jetzt war unser aller Mut so sehr gehoben, daß meine Mutter, die nach dem Fortgehen des Geistlichen mit dem Notar ins Krankenzimmer trat, lächelnd zu dem Vater sagte: »Jetzt willst du dich wohl um den Friedhof kümmern?!« – wobei sie an das meinem Vater gehörende Grundstück in der Vorstadt dachte, (es gehörte ja nur zum Schein ihr), die künftige Villenkolonie, die stärkste Hoffnung meines Vaters auf künftigen Reichtum und Glanz. Er versuchte zu lachen und schwieg.

An diesem Abend konnte mein Vater zum erstenmal selbständig essen. Bis jetzt hatten wir uns in die Arbeit geteilt, meine Mutter und ich, einer hatte ihn aufgesetzt und ihm den Kopf gehalten, (denn im Liegen verschluckte er sich zu leicht), der andere fütterte ihn. Noch jetzt entsinne ich mich, wie sehr es ihm peinlich gewesen war, wenn meine Mutter mit der Kante des Löffels einen hinabfallenden Tropfen von seiner Unterlippe abnahm. – Wenn ich an der Reihe war, ließ ich alles ruhig auf die Serviette herabtropfen, um ihm nicht das Gefühl seiner völligen Ohnmacht zu geben, das ihn auch bei hohem Fieber bis zum Beginn der Delirien nicht verlassen hatte ... Nun war alles gut! Die Nacht war gut, die Atmung war gut, die Temperatur war gut, nur der Puls war noch nicht ganz ›eisenfest‹, aber wie sollte das anders sein, nach zwei Wochen einer so furchtbaren Krankheit, bei einem immer noch von düsterroten Pusteln und Geschwüren besetzten, geschwollenen Gesicht, und ebenso erkrankten Händen usw. Es war die ganze gepeinigte Haut, auf deren Glätte und Weiße er vielleicht früher stolz gewesen war, und die jetzt nur langsam heilte und sicherlich noch lange Zeit bis zum Vernarben brauchte. Nun hatte mein Vater von seiner Geliebten außer dem goldenen Kamm auch einen in Gold eingefaßten Spiegel erhalten. Ich hatte ihn schon am ersten Tage aus seiner Weste genommen und unter meinen Sachen verborgen. Nun richtete mein Vater zum erstenmal wieder klar das Wort an mich. Ich empfand es als ungeheures Glück, daß er mich um etwas bat. Ich ahnte nicht, daß alles, was von ihr oder ihresgleichen kam, ihm zum Unheil werden mußte. Oder soll ich sagen, alles, was von mir kam, brachte ihm Unheil? Ich gab ihm den Spiegel. Er starrte sein Gesicht an, das einer großen Wunde glich. Es war in Heilung begriffen, die Gefahr für sein teures Leben war vorbei, aber es schien ihm davor zu grauen, daß er nie wieder seine frühere Schönheit zurückgewinnen würde. Er begann zu zittern, sank stöhnend, stöhnend wie noch nie, in die Kissen zurück, in seinen Händen bewegte er das Spiegelchen im Kreise, er rollte es, als wäre es eine kleine Sonnenscheibe, er preßte es, als wolle er es zerdrücken und ließ es plötzlich fallen, ein verlorenes Lächeln in dem verwüsteten geliebten Gesicht.

Hätte er nur gesprochen! Aber er schwieg. Er tat nichts. Er aß nichts. Vielleicht machte er sich schwächer als er war, solange bis er wirklich zu schwach war, sich aufzuraffen, sich auszusprechen, und die Bitternis und Enttäuschung loszuwerden, die er eben nicht ertragen konnte. Ich verstand ihn, ich las in ihm –, genau und klar, bis in sein innerstes liebes Wesen hinein verstand ich ihn –, nur helfen konnte ich nicht. Der Arzt, der bis jetzt immer einen grimmigen Optimismus gezeigt hatte, wurde nun unruhig. Da wir, Mutter und ich, nicht mehr imstande waren, unseren Lieben zum Essen und Trinken zu bewegen, und er jetzt sogar den Champagner, den er früher immer geliebt hatte, traurig an seinen blassen Lippen vorbeirinnen ließ in seinen neu hervorgesprossenen, ergrauenden, harten Bart, setzte der Arzt seinen Stolz hinein, ihn zum Essen, Trinken, ja zum Leben zu zwingen. Er wollte ihn nicht aufgeben! Er konnte es nicht verstehen, daß mein armer Liebling sich selbst aufgab! Er konnte die Kreise und Striche, die Buchstaben alle nicht begreifen, die mein Vater mit unsteten Fingern an die Tapete neben seinem Bett oder auf die flache seidene Steppdecke zeichnete, aber ich konnte es, zu meinem Jammer, zu meiner Verzweiflung, – U. F. S., das waren die Buchstaben dieses Nachmittags, und ich glaubte auch die Worte trotz der Lautlosigkeit, die im Zimmer herrschte, an den stummen Lippen ablesen zu können: Unter Fremden sterben, U. F. S.! Viel später habe ich eine viel einfachere Erklärung für diese drei Buchstaben gefunden. Ich verschweige sie aber, ich kann nicht anders.

Jetzt sah ich hilfesuchend meine kluge, immer mutige und starke Mutter an, aber ich konnte ihr dieses für uns alle grauenhafte Bekenntnis nicht anvertrauen, denn es sagte klar, daß wir ihm zur Last waren, und was noch fürchterlicher war für mich, daß er mit dem Sterbegedanken sich vertraut und Abschied von der Welt genommen habe! Wir, ich und sie, seine Frau, hätten ihn halten sollen und können, und vielleicht floh er uns! Konnte es mir ein Trost sein, daß auch seine Geliebte ihn nicht mehr freute, daß er sich nicht mehr nach ihr sehnte, daß sie ihn nicht mehr zurückbeschwören konnte in den alten Zauber des Willens zum Leben, zum Genuß, zur Freude, Hoffnung und zum Glück?! Ich sprach endlich in meiner Verzweiflung mit meiner Mutter, denn es schien mir, als wolle er auch nicht mehr richtig tief atmen. Er hauchte die Luft nur flüchtig vor sich hin.

Wir hatten beide keinen Stolz mehr, kannten keine Eifersucht. Sie kniete sich vor sein Bett hin, sie drückte ihren Kopf an seine Knie, die spitz durch die Bettdecke sich abzeichneten, sie sagte ihm leise, tief errötend, – (nicht er, aber ich konnte es schauernd sehen), sie habe nichts mehr dagegen, sie wolle nicht an mich, nicht an Anninka, nicht an das Ungeborene in ihrem Schoß denken – (sich selbst vergaß sie völlig, und gerade das hatte mich schaudern gemacht!), sie wolle ihm – die Freiheit zurückgeben! (Als ob nichts als ein heimliches, unsinniges Verlöbnis zwischen ihnen beiden bestünde statt einer bald zwanzigjährigen Ehe!) Sie wolle die ›Dame‹ benachrichtigen, sie wolle ihr – eine Freundin sein! Nur ein bitteres Lächeln verzerrte den Mund meines Vaters mitten in seinen kaum vernarbten Wunden, in seinem zerrissenen Gesicht. Sie ging noch weiter, sie versprach ihm, die Dame zu uns kommen zu lassen, sobald der Arzt die Quarantäne aufgehoben habe. Was konnte sie noch tun? Oder ich, der bereit war, sein Leben für ihn hinzugeben, so sehr ich als junger, bisher vom Schicksal verwöhnter, immer und überall erfolgreicher Mensch an dem Leben und an meiner Jugend hing? – Sie, die sich von ihrem Mann, ihrer einzigen Stütze, ihrem Ernährer freiwillig trennen wollte. Ich schweige von mir. – Was sollte ihm noch der Schatten der jungen Frau, der eben wie ein Schatten kraftlos war? – (Wir hatten an einem Morgen im Nachtgeschirr das Kämmchen und den Spiegel, ihre Geschenke gefunden mit den Fetzen des zweiten Briefes an sie.) – Wir alle, Sohn, Gattin, Geliebte, mit unserem Willen vermochten nichts. Und als wir abends den Arzt mit verbissenem Ernst beschämt aus dem Krankenzimmer treten sahen, erkannten wir, daß auch er mit seiner bärbeißigen Vernunft und seinem guten Willen nichts ausgerichtet hatte. Ich nahm ihn beiseite und sagte ihm, er möge noch etwas versuchen. Ich fürchte, flüsterte ich voll Scham und Verzweiflung, daß meinen Vater die Aussicht, mit einem häßlichen blatternarbigen, scheußlichen Gesicht weiterleben zu müssen, so furchtbar niedergerissen habe. Konnte denn der Arzt ihm nicht vorlügen, daß die Narben sich ausfüllen würden, daß keine und auch nicht die winzigste Spur zurückbleiben würde? Trotzdem der Doktor gerade an diesem Tage, (es war schon der zwanzigste Krankheitstag), sehr gehetzt war, weil einige andere ähnliche Falle in der Stadt existierten, kehrte er, diesmal mit uns beiden, zu meinem Vater zurück. Mein Vater war nicht mehr im Bett. Er hatte sich in sein langes Schlafgewand gehüllt, hatte sich zu seinem Schreibtisch an das Fenster geschleppt und zitterte vor Schwäche, die Hände um seine große Kassette geklammert, die er aber nicht mehr öffnen wollte oder konnte.

Es war ein herrlicher, klarer Sommerabend, der Himmel und die Erde prangten bis zum Horizont in sommerlicher Fülle, der Himmel in reinem starken Kornblumenblau, die Häuser in brennenden ungebrochenen Farben, die Mauern kalkig weiß, zinnoberrot die Rohziegel, tief schieferblau die glatten Dächer, die Akazien standen mitten in der Blüte, weithin am Horizont erhoben sich die milden Hügel mit ihren blaugrünen, im Abendglanz verschwimmenden Wäldern, den kleinen verstreuten weißen Dörfern, wo wir noch vor kurzer Zeit als eine zufriedene Familie ahnungslos und glücklich gewandert waren. Mein Vater ließ sich ohne Widerstand in das Bett zurücktragen. Er wehrte sich nicht dagegen, daß wir ihm noch ein Glas Sekt an die Lippen preßten, er trank einige Tropfen, sie schienen ihm gut zu tun, als aber meine Mutter das Glas bis zum Rande neu füllte, schüttelte er den Kopf. Er war sehr blaß geworden und die Kraft verließ ihn jetzt sichtlich.

»Haltet mich! Haltet mich!« flüsterte er. Sollte das bedeuten, daß wir ihm den Oberkörper halten sollten? Wollte er nicht liegend leiden, nicht im Liegen zugrunde gehen? Oder hieß das, daß wir ihn seelisch aufrecht erhalten sollten? Seine Blicke gingen zu der alten, stets verschlossenen Kassette, aber er sagte nicht, wir sollten sie ihm bringen, sie ihm öffnen. Auf dem Nachtkästchen lag ein Rosenkranz, die wie Wacholderbeeren glänzenden, schwarzen Holzperlen waren verschlungen in die schweren Windungen der goldenen Uhrkette, die mit der Uhr über dem Rosenkranz lag. Wollte er beten? Auf dem silbernen Kreuzchen, den Perlen und auf dem dicken goldenen Deckel der Uhr brach sich das Licht der Abendsonne. Er hatte jetzt ein zusammengefaßtes, bei aller Pein festes und unerschütterliches Gesicht, dessen Ausdruck nichts mit uns zu tun hatte, die wir ihn umgaben. In all meinem Entsetzen bewunderte ich ihn wegen seiner Tapferkeit, denn wenn er wirklich im Sterben lag (er, der nicht liegen mochte), dann tat er es ohne Zagen, ja sogar mit einer Art Leichtsinn. Er klammerte sich nicht mehr an uns. Als wir, Mutter und ich, ihn stützten, schien er uns wahrhaft federleicht zwischen unseren Händen. Eines von seinen Worten hatte sich ihm also bewährt.

Er schloß jetzt mühsam die Augenlider, die von den Pocken noch gerötet und entzündet waren, dunkelrote Polster, zwischen denen sein blaues Auge langsam versank, als ziehe es sich in die Tiefe zurück. Nannte man das: das Auge bricht? Damals verstand ich es noch nicht. Wir taumelten um ihn umher, wir gaben ihm zu trinken. Der Arzt holte eine kleine Spritze aus einem schwarzsamtenen alten Etui und stach meinem Vater in den Arm. Ich zuckte zusammen, als die Nadel in die Haut drang. Er nicht. Es roch stark nach Kampfer, der mich an die Ferientage erinnerte, an denen man Kampferkristalle verstreut hatte in der leeren Wohnung.

Jetzt schien er sich zu erholen, er schlief, er atmete tief, so tief wie er sonst nur im Walde geatmet hatte, oder dann, wenn er nach dem Schwimmen, den Bart noch voller heller Tropfen, ans Land gesprungen war. Ich ließ meine Blicke von dem Arzt zur Mutter wandern. Der Arzt wich mir aus, die Mutter aber wollte von mir wissen, ob ich noch hoffte. Ich hoffte, ich glaubte, ich betete, den Rosenkranz vorsichtig unter der Uhrkette vorziehend. Plötzlich schraken wir drei zusammen. Der Vater hatte sich geregt! Er hatte sogar einen Laut von sich gegeben, einen tiefen kehligen Laut, ähnlich dem einer tiefen Saite beim Cello, ein Uuu, langgezogen, allmählich verhallend, noch einmal begonnen, ein drittesmal nur angesetzt ... Was war das? Wovon träumte er? Verlangte er etwas von uns? Jetzt lag er plötzlich doch flach am Ende der Kissen, den Kopf nach hinten. Still. Vor dem Fenster flitzten mit feinem zwitscherndem Laut Schwalbenpärchen vorbei wie an jedem Tag um die Abendzeit ... Unwillkürlich folgten wir alle drei ihrem blau glänzenden Gefieder in pfeilschnellem Flug. Jetzt hörten wir ihn noch einmal kräftig atmen, er reckte sich auf, stieß die Kissen mit dem Scheitel nach oben, streckte sich sehr lang, tat als wolle er erwachen, und dann war nichts mehr. Wir begriffen es nicht. Als der Arzt nach knapper Untersuchung das Wort Collapsus vor sich hinmurmelte, glaubten wir nur, es bestünde Gefahr für ihn. Aber warum streichelte der sonst so gemessene alte Mann meiner Mutter, die zurückzuckte, das Haar, weshalb langte er nach meiner Hand?

Meine Mutter brach nicht zusammen. Mutig, übermutig wie sie immer gewesen war, schleppte sie sich zum Tisch. Der Arzt schrieb auf ein Formular, nachdem er meine Mutter nach allen möglichen Daten gefragt hatte, das Wort Herztod. Meine Mutter hielt ihm die Hand, als wolle sie ihn hindern! ... Weiter sei nichts erzählt.

Schon in den ersten Nachtstunden kamen die Träger um die Leiche. Sie hüllten sie in karbolgetränkte Tücher. Meine Mutter wollte Wäsche und Kleider mitgeben. Sie schüttelten die Köpfe, auf denen sie ihre Wachskappen mit städtischen Insignien trugen. – »Er kömmt in Kalk!« sagten sie. Es waren ehrliche, etwas törichte, kräftige Leute. Sie hätten sich an den Sachen bereichern können. Sie gaben einander gegenseitig Ratschläge, wie sie mit der Bahre am bequemsten über die steilen winkligen Treppen hinabkommen könnten. Es mußte sein.


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