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Am Abend vor meiner etwas verzögerten Abreise ging ich ins Theater, wo Carmen gegeben wurde. Ich hatte vor langer Zeit die ersten Teile dieser Oper mit meiner Mutter angehört. Da ich von jeher das Unvollendete haßte, (deshalb blieb mir auch von Karla solch bitterer Nachgeschmack, fast eine Art Reue!), wollte ich jetzt das Ende nachholen. Ich kam erst nach Beginn der Vorstellung in die Loge. Das Haus war gut besucht, die Aufführung konnte natürlich keinen Vergleich aushalten mit der in der Wiener Hofoper. Ich hörte nur halb zu, in meinen Gedanken gingen sinnliche Vorstellungen, (das Lager im Walde, die weißen Glieder Karlas auf dem dunklen Seidenunterrock mit den vielen Volants), mit ganz abstrakten Gedankengängen durcheinander. Endlich kam das Vorspiel zu dem Akt, während dessen ich damals mit der Mutter das Theater hatte verlassen müssen vor zwei Jahren. Es war der Auftritt in der Schlucht mit den Schmugglern. Mit einem Male hörte ich eine wunderbare, mir nicht ganz fremde Stimme. Im Halbdunkel der Bühne stand ein junges Geschöpf mit weißem Rock, die zarte Büste gezwängt in ein hochgeschlossenes keusches hellblaues Jäckchen, die Zöpfe nach Jungfrauenweise vorn über die Schultern hinabhängend. Sie stand dem Helden gegenüber, Auge in Auge, und sang. Sie sang klar, rein, mit untrüglicher Sicherheit in den Intervallen, das ungewöhnlich holde, warme Organ mit den Instrumenten des Orchesters innig vereinend. Ich suchte, ich fragte mein bisher so lästiges Gedächtnis, den zudringlichen Sklaven: woher kennst du diese Stimme? Ich nahm den Theaterzettel vor und las unten den Namen der kleineren weiblichen Rollen der Oper: ›Micaëla – Josepha Boure‹. Was war mir Josepha? Was sagte mir Boure? Aber jetzt sah mein Auge eine liebreizende, scheue und doch sinnliche Bewegung des Kopfes nach der linken Seite hin, die linke Schulter gehoben, ich lächelte und freute mich: Lilyfine war es.
Ein großes Glücksgefühl, das Empfinden der Dauer, des Nichts geht auf Erden verloren. Alles wird noch einmal so gut! Und das war alles dein! Wie durchströmte mich dies mit unerwarteter, herrlicher, reiner Freude! Das Publikum, das vorher etwas unaufmerksam gewesen war, (in Szenen, bei denen es auf der Bühne halb dunkel ist, neigt es immer zum Husten und Gähnen, denn es will sehen!), horchte jetzt atemlos, die Sängerin wurde leiser, die Stimme wurde wie ein feiner Seidenfaden, aber immer durchdringender; denn sie trug. Es war eine vollkommene Stimme. Man erkannte es am Pianissimo, das wie ein silberner Schimmer durch das Haus drang. Als sie verstummte, brach ein für dieses Publikum ungewöhnlicher Beifall los.
Ich rührte die Hände nicht, mir wäre es gewesen, als applaudiere ich mir selbst. Zum ersten Male seit der Nacht mit Karla war ich wieder ruhig, glücklich. Nach Aktschluß fragte ich die Logenschließerin, ob die Micaëla noch einmal aufzutreten habe. Sie verneinte, fügte aber aus eigenem hinzu, diese blutjunge Person sei eine ›Phänomene‹. Man habe ihr bereits Anträge für große Operntheater gemacht, sie müsse aber zum Glück hier bleiben, weil der Direktor ihr die Mittel zu ihrer Ausbildung nur gegen einen langen Vertrag gegeben habe. Nach Schluß der im übrigen öden Aufführung dachte ich daran, auf Lilyfine zu warten. Warum nicht auch eine Lilyfine nach einer Karla? Aber ich stellte dem Gedanken bald meine Kritik entgegen, der Sinnlichkeit die Vernunft, und so wie oft triumphierte die Vernunft! Ich erkannte plötzlich, wie schön dieser Abgang war. Dieser mußte es sein, und kein anderer! Dank für alles und für dies! Ich durfte ihr eine Freude machen. Aber ich durfte die Gelegenheit nicht ausnützen. Wenn ich bei Karla eine Art Glück gehabt hatte, so hatte ich es ja auch nur dem Umstand zu verdanken, daß ich niemals eine Gelegenheit ausgenützt hatte, ausgenommen die entscheidende.
Zum ersten Male einigermaßen froh wie früher, kam ich heim. Meine Mutter war noch auf, ich brachte die Rede auf den Geldbetrag, den Lilyfine uns damals gegeben hatte, kaum daß der Selige begraben war. Meine Mutter hatte das Geld längst zurückgezahlt. Sie hatte also immer verstanden, daß sie es nicht behalten dürfe. Auch dieses Zeichen ihrer Vornehmheit, an der ich niemals hätte zweifeln dürfen, machte mich sehr glücklich. Meine Mutter verstand es aber nicht, denn sie wußte fast nichts von meinem eigentlichen Leben.
Am nächsten Morgen ging ich in ein großes Blumengeschäft und bestellte einen mächtigen Strauß Rosen, rote und weiße, die der Sängerin bei ihrem nächsten Auftreten auf die Bühne gebracht werden sollten, ›im Auftrage eines unbekannten Verehrers ihrer großen Kunst und als kleiner Dank in treuem Gedenken‹. Hatte sie doch trotz allem auch meiner gedacht und hatte sich nach der Gegend der roten Felsen genannt: ›Boure‹. Ich ließ diese Zeilen von der sehr niedlichen, wie eine frische Blumenknospe unberührt rosigen Blumenverkäuferin niederschreiben, die mich mit ihren Vergißmeinnichtaugen, so scheu und zärtlich anstrahlte, daß ich ihr ins Ohr flüsterte, – (mich über die Karte beugend, die sie in meinem Namen schreiben sollte), ich würde vielleicht heute oder morgen nach Geschäftsschluß abends auf sie warten. Sie antwortete nicht, nur wurde der makellose Teint von dem knospenhaften Rosa in eine purpurne Glut verwandelt, und sie irrte sich, indem sie statt der Worte ›in treuem Gedenken‹ ›in treuer Liebe‹ niederschrieb. Ich tadelte den kleinen holden Irrtum nicht, und ich wollte unter den Augen der Geschäftsinhaberin keine Ausstellungen machen.
Aus dem Wiedersehen mit der Knospe wurde nichts. Es war der Abend, an dem meine Mutter öffentlich zu sprechen hatte, ich sah wohl, es war ihr lieber, wenn ich vorher abreiste.
Meine Schwester schien es zu bedauern, ebenso Marthy, die sich gern mit mir ausgesprochen hätte. Der alte Bräutigam (ihr erster Geliebter?) war wieder erschienen, in der Küche war der Ofen für die großen Aufgaben der Mittelstandsküche vorbereitet worden, aber ein erregter Wortwechsel zwischen den ehemaligen Brautleuten war zu uns in das Wohnzimmer hinüber gedrungen. Marthy erschien nachher mit verweinten Augen. Sie murmelte mir zu: Wens packt!! Dabei konnte man sich alles denken. Hatte es den armen verratenen Bräutigam von einst gepackt? Oder hatte es sie selbst mit einer großen unbesieglichen und daher schmerzlichen Leidenschaft zu dem schnurrbärtigen Goliath, dem letzten und schönsten der Schamster, dem Galan in der Haustür gepackt?
Ich trug mir meinen Koffer also abends selbst zur Bahn. Postillion hatte mir meine Krawatte abgerissen bei der Abschiedsumarmung, Anninka und Marthy mußten bei ihm bleiben. Sollte lieben, wer kann! Ich verstand nicht, wie er sich in den wenigen Tagen so sehr an mich hatte hängen können. Ich hatte nichts dazu getan!
Manchmal war mir, als liebe ich sie beide sehr, Postillion und Anninka besonders. Ja, die schöne brave Schwester liebte ich als Bruder, als Freund, als Lebensgefährte. Deshalb brauchte es keine Worte zwischen uns. Aber bleiben konnte ich bei ihnen nicht.