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34.

Wir verlebten diese Zeit anscheinend in völliger Eintracht. Aber jeder hatte seine Geheimnisse. Bei einem Spaziergang in der Fabriksgegend sah ich schreiend rote Plakate der neuen Partei, der meine Mutter angehörte und wo sie, nicht als erste, aber auch nicht als letzte, als Diskussionsrednerin über Gefangenenarbeit genannt war. Die Versammlung sollte Ende der Woche stattfinden, jetzt verstand ich, weshalb meine Mutter so wenig darauf drängte, ich sollte meinen Besuch verlängern, sie legte offenbar heute keinen Wert darauf, mich unter den Zuhörern ihrer Jungfernrede zu sehen. Marthy mußte von ihr ins Vertrauen gezogen worden sein. Die Mutter drückte jetzt, seit Anninka für Ordnung sorgte und Herr im Hause war, ein Auge und noch eines bei den Schwächen der allzu feurigen Magd zu, die ich am dritten Abend nach meiner Ankunft bei einer späten Heimkehr in den Rahmen eines Haustores gedrückt sah, die Augen geschlossen, einen zugleich seligen und verzweifelten Ausdruck um den wüsten Mund, – (war es vielleicht außer der Liebe auch etwas Alkohol?) und von den Armen eines vierschrötigen Mannes mit dickem Schnurrbart fast erdrückt. Ich hatte daheim, um nicht beim Einschlafen gestört zu werden, die Heimkehr Marthys abwarten wollen. Aber es verging Stunde um Stunde, und sie kam nicht. Die umränderten Augen mußten tags darauf der Mutter aufgefallen sein, wie sie der keuschen Anninka auffielen, aber sie verloren alle kein Wort. Ich hütete mich wohl, davon anzufangen. Ich hatte das sichere Gefühl, daß meine Schwester jetzt wirklich, wie ich es in dem Sprechzimmer des Klosters ihr vorphantasiert hatte, Vaterstelle an meinem kleinen Bruder übernähme. Dies war vonnöten. Das seelische und leibliche Heil Marthys hatte sie nicht zu kümmern. Dazu war sie zu jung und zu rein.

Hätte nicht auch ich an ihrer Seite zu Hause weiterleben können? Aber meine Liebe zu Karla hatte mir gezeigt, welche Wonnen nach allen Qualen das Leben bieten kann, ich konnte beim besten Willen jene einzige Nacht nicht vergessen, und meine Natur quälte mich sehr. Ich war noch sehr jung, zweiundzwanzig Jahre, und nur wenig darüber. Vielleicht erschienen mir damals wegen meiner großen Jugend und geringen Erfahrung so viele Frauen und Mädchen schön, begehrenswert, sinnverwirrend. Aber was tun? Sollte ich versuchen, mich der unvergeßlichen A. v. W. zu nähern? Ich hatte Lilyfine gewonnen, aber nicht genommen, Karla hatte mir gehört, (wie deutlich sah ich noch die Brombeerranke vor mir, die ihre nackte Haut geritzt hatte). Mußte denn meine Liebe zu A. trotz des Standesunterschiedes und meiner Jugend so aussichtslos sein? Und gesetzt selbst, ich war ihr nicht mehr, als eine Lilyfine mir gewesen war, war es denn nicht besser, ewig einem so reinen und holden Idol nachzustreben, als mit billigen Genüssen mich zu vergnügen, wie es Freund Wharf und neuerdings auch Karl taten? Ich wußte mir keinen Ausweg. Wen hätte ich um Rat fragen sollen?

Ich ging zu dem Grabe meines Vaters, Blumen in der Hand. Er nahm die Blumen nicht entgegen, auch in Gedanken nicht, denn ich entsann mich, er hatte abgeschnittene Blumen, (die zum baldigen Tode verurteilt waren) nie geliebt, für andere Gewächse war aber die Jahreszeit, – Schnee und Frost, Anfang Januar –, nicht geeignet. Ich konnte zu ihm sprechen, aber das Marmormonument (bescheidener Stein, der Marmor ähnlich sah, aber nur guter Kalkstein war) hatte nichts von ihm außer dem Namen, den es in verwitterten Goldlettern (sicherlich war es auch nicht ganz echtes Gold) eingegraben trug. Durfte ich Anninka aus ihrem Frieden stören, indem ich ihr meine Ängste, Fleischesnöte, meine Zweifel und Begierden mitteilte? Unmöglich. Sie hatte mir bereits ein großes Opfer gebracht. Jetzt wäre es an mir gewesen, ihr ein Opfer zu bringen. Aber sie war nicht zu fassen, sie ging in ihrer weltlichen Beschäftigung, in der Vorbereitung des ›bürgerlichen Mittagstisches‹ auf wie in geistlichen Exerzitien. Sinnliche Triebe, ungeregelte Leidenschaften, religiöse Anfechtungen, sie schien von alledem nicht einmal etwas zu ahnen. Sie schien ja kaum ihre eigene Sehnsucht zu begreifen. Trotzdem hatte ich, aus Angst vor Wien und Karla, den Aufenthalt daheim noch etwas verlängert, ich hatte das Gefühl, hier, wo ich meine wichtigsten Entschlüsse gefaßt hatte, müsse mir die Klarheit über meine Zukunft kommen. Mit den Frauen? Ohne sie? Gegen sie? Ich wußte mir keinen Rat.


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