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3.

Gott, Christus, Himmelreich und Hölle waren große ›Geheimnisse‹ für mich als Kind. Ich empfand eine Art freudiger Neugierde für Gott, keine Angst vor ihm, keine Furcht. Den Tod verstand ich noch nicht. Ich lebte unendlich gern. Gott bedeutete für mich Geliebtwerden, Lieben und ewiges Geheimnis zugleich.

Oft ging ich am Sonntagvormittag mit meinem Vater zum Hochamt, während meine Mutter daheim blieb. Ab und zu stand mein Vater während der Messe auf und blickte sich um. Es kam vor, daß er schon lange vor dem Ite Missa est! dem letzten dröhnenden Orgelschall (Gott bläst uns alle aus der Kirche heraus, dachte ich, es war wie ein Sturm) die Kirche verließ, ohne daß ich ihn begleiten mußte. Meine Mutter empfing mich dann nicht immer freundlich. Aber bald kam er nach. Wir trösteten uns, mein Vater nahm seinen alten Handatlas und verließ mit mir noch einmal die Wohnung. Wir gingen spazieren oder wir setzten uns im stillen, kühlen Treppenhaus nieder, auf die Stufen, jeder sein Taschentuch unter sich, er holte Bonbons aus seiner Tasche und teilte sie mehr als redlich mit mir. Wir breiteten den Atlas über unsere vier Knie und mein Vater erklärte mir die Welt. Die ersten Seiten des Atlasses, welche die Sternenwelt darstellten, überschlug er mit seiner am Handrücken samtartig weichen und weißen, aber an den Fingerspitzen und in dem Handinnern etwas schwieligen und gelblichen Hand. Er hatte auf den freien Rückseiten dieser Karten als junger Mensch Abbildungen der Fuß- und Beinknochen kopiert und ihre lateinischen Namen mit seiner kleinen, kritzligen Schrift aufgezeichnet. Bald aber erschien meine Mutter, halb und halb wieder versöhnt, hörte mit ihrem alten Lächeln seine Erklärungen an, als wisse sie es besser. In ihrer Nähe wurde mein Vater still, errötend klappte er das Buch zu, plötzlich fiel er meiner Mutter um den Hals und sie küßten einander wie Kinder. Ich ging voraus in die Wohnung. Sie sprachen leise und lange auf dem Treppenabsatz.

Meine Mutter lächelte ihm am Nachmittag wieder viel gütiger und frohsinniger zu, und als sie abends schlafen gingen, hörte ich traurig, wie eines von ihnen den Riegel vorschob.

Einige Monate später kündigte mir meine Mutter an, ich solle sie auf vier Wochen verlassen. Ich reiste, als ein Junge von dreizehn Jahren ohne Furcht, aber auch ohne die geringste Freude zu meinem Großvater auf das Graf Minskysche Gut, wo er Obergärtner war. Mein Großvater führte mich in den Glashäusern umher. Mein Vater schrieb mir eine schöne Ansichtskarte. Der Großvater wollte sie natürlich sehen, aber ich hatte sie in meiner Eifersucht längst in kleine Stückchen zerrissen.

Mein Großvater war ein Meister der Gartenkunst und es kamen stets Gärtner der großen benachbarten Güter, um Rat von ihm zu erholen. Er sprach sehr lange und ernsthaft mit ihnen, nachher vertraute er mir, unter seinem dicken grauen Barte listig schmunzelnd an, er habe keinem Menschen jemals seine Geheimnisse verraten, und deshalb liebe ihn die Gutsherrschaft und komme ihm in allem entgegen. Das bezog sich auf die einzige Leidenschaft, die ihn beherrschte, nämlich die Jagd. Er war ein herrlicher Schütze, verfehlte nur sehr selten sein Ziel, aber die Herrschaft sah es nicht immer gerne, behauptete er, wenn er ›Blattschüsse‹ setze, (ich verstand das Wort falsch und dachte, es habe etwas mit Blättern und Wald zu tun), während der Graf die Rehe und Fasanen so schlecht traf, daß es ihn, den Gärtner jammere. Auch sei es schrecklich, das Gezerre der angeschossenen Fasanen, das traurige Flüchten und scheußliche Schweißen der bloß angeschossenen armen Jagdtiere zu sehen. Nur deshalb gehe er, der Großvater, am liebsten allein mit seinem guten Hund, auf den Anstand. Manchmal ließ er mich seine Flinte auf dem Hinweg oder die Jagdtasche auf dem Heimweg tragen. Ich saß auf dem Anstand neben ihm, mitten im Duft des Waldes und im Dunst seines feuchten Lodenrockes; wir hockten stundenlang auf dem Holzgerüste am Waldrande, das er die Jagdkanzel nannte, und lauerten in der Dämmerung auf das Erscheinen der Rehe, die mit den Kälbern und Kitzen lautlos angetrabt kamen. Manchmal begnügte er sich, sie nur zu visieren. Manchmal aber schoß er. Ich erinnere mich aber nur einer Jagd auf Fasanen. Das warme Leder der prall gefüllten Jagdtasche schlug beim Heimweg durch die kahlen Felder an meine Knie und wir beide, Großvater und ich, summten vor uns hin. Der alte Graf begegnete uns, lachte uns zu und schlug sich auf die Schenkel, auf die Jagdtasche anspielend. Der Großvater fluchte und nahm mich nicht mehr zur Jagd mit.

Kurz darauf kam mein Vater an. Er begrüßte den Großvater etwas kühl. Sehr zu meiner Freude, denn ich wollte, mein Vater solle endlich mir allein gehören. Indessen mußte ich hören, daß mich daheim ein ›Geschwisterchen‹ erwarte. Es war meine Schwester Anna, die man Anninka nannte. Ich staunte sie sehr an, konnte mich aber lange nicht an sie gewöhnen.

Mit meinen Eltern war ich jetzt viel weniger als früher allein. Ich begann sehr viel zu lesen. Ich lag dann am liebsten flach auf der Erde, die Arme aufgestützt, die Hände an den Wangen und die Zeigefinger in den Ohren, von wo ich sie nur fortnahm, um die Seiten umzublättern. So konnte mich niemand stören. Ich las mit unersättlichem Hunger, selbst auf dem Heimweg aus der Schule, im gehen. Aber am liebsten in einer bestimmten Ecke meines Zimmers, bei offenem Fenster, wenn der Wind die Vorhänge hineinbauschte. Alte Zeitschriften, Kochbücher, Traumbücher (diese von unserer guten Magd Marthy geliehen), Eisenbahnfahrpläne, Gedichte und Romane, Postalmanachs mit blöden Scherzen und alten Witzen, Schlossers Weltgeschichte, die Bibel, Sagen und Märchen, die Schulbücher meiner Mutter, moralische Erzählungen aus der Schulbibliothek, Goethe und Schiller, oft vieles nebeneinander, ohne immer den Inhalt zu verstehen. Aber ich merkte mir manche Sätze, oft ganze Seiten, dachte später in Ruhe, vor dem Schlafengehen darüber nach, brachte sie mit meinem alten Warum in Zusammenhang. Ich schlug ein kleines Lexikon nach, da ich viele Fremdwörter nicht verstand, den Atlas blätterte ich fast täglich abends durch. Es war immer Neues in ihm zu finden.

Die Sternkarte fesselte mich, die Sterne regten mich auf. Ich fand sie getreu auf dem Himmel wieder. Aber auf dem Himmel waren sie gleichsam weiß auf schwarz, auf der Karte schwarz auf weiß. Einmal lieh ich mir von meiner Mutter ihren neuen Brillantring, den sie anläßlich Anninkas Taufe erhalten hatte, und sah nachts vor dem Schlafen durch das Rund des Ringes den klaren wolkenlosen Himmel an. Aber je länger ich durch den Ring hindurchsah, desto zahlreicher wurden die Sterne, es war, als kämen sie aus einer Wand lautlos und leuchtend hervor. Einen großen grüngoldenen, den ich immer fand, belegte ich mit Beschlag und nannte ihn nach meinem Vater, einen zweiten nach einer anderen Person. Ich selbst war ein ziemlich kleiner, der zwischen beiden war. Ihre Stellung gegeneinander blieb stets die gleiche, worüber ich sehr staunte, und was ich als die Ordnung Gottes bewunderte. Von Amerika gesehen sollte dies anders sein, behauptete meine Mutter. Aber sie hatte unrecht, obgleich sie früher Lehrerin gewesen war. Ich sagte es ihr nicht. Manchmal hatte sie gerötete Augen, so sehr sie sich mit meinem Schwesterchen freute. (Nun hatte meine Mutter von jeher schwache Augen. Aber es war mir noch nie so aufgefallen.) Ich überraschte sie einmal, als sie sehr betrübt in ihren Schoß sah, wo mein Schwesterchen, fast nackt und ebenfalls sehr still, dasaß. (Ich habe es kaum dreimal weinen gehört; wenn es lachte, tat es dies schüchtern, in Absätzen, immer wieder innehaltend, als stottere es beim Lachen.) Nun hatte ich eine naseweise Frage an meine Mutter, ein Warum, für das es kein Darum gab. Aber ich hätte niemals gedacht, daß sie mir deshalb böse sein könne. Ich fragte sie nämlich warum man Finger hut sage und nicht Finger schuh, da man doch von Hand schuh und nicht von Hand hut rede. Sie blickte überrascht auf, aus allen ihren Gedanken gerissen und da sie glaubte, ich mache mich über sie und ihre ›Lehrerinnenweisheit‹, wie sie es nannte, lustig, schlug sie mir fest mit der geballten Hand ins Gesicht. Mein Schwesterchen schrie auf. Ich nicht. Ich fragte von jetzt an viel weniger, und meine Mutter selbst war es, die mir ihre Ungeduld abbat. Ich küßte sie nur, ohne zu antworten.

Meine Jugend war übervoll von Glück. In der Schule kam ich gut vorwärts trotz meiner Lesewut, denn ich brauchte eine Seite nur einmal gut zu lesen, um sie mir zu merken. Ich war sehr erstaunt, daß nicht jeder Mensch dies konnte, selbst meine Eltern konnten es kaum. Ich hatte viele gute Kameraden in der Schule, obgleich ich mich mit unsinnigem Stolz niemals ganz auf gleiche Stufe mit ihnen stellen wollte. Ich sollte ihnen immer der Richter sein, wenn sie Streitigkeiten miteinander hatten. Aber das Richteramt endete meist in einer allgemeinen Prügelei. Dann wollten sie meine ›Trabanten‹ werden. Das heißt, sie wollten mir ihre Dienste widmen, mir zum Beispiel im Turnsaal die Schuhe ausziehen, die Turnschuhe knüpfen, mir den Bleistift spitzen, die Schultasche tragen usw. Ich tat dies aber natürlich viel lieber selbst. Ich brauchte sie nicht. Deshalb hingen sie mir vielleicht so sehr an. – Mit immer stärkerer, aber nur noch stillerer Liebe wollte ich bei meinem Vater sein. Sein Trabant zu sein, war mein Traum. Er aber ahnte nichts davon, und meine Mutter sagte mir damals mit einer Art Triumph, ich müsse als großer Junge endlich lernen, mit mir selbst fertig zu werden. Ich verstand dies schwer, aber endlich verstand ich es, ich beherrschte mich so sehr, daß er einmal, verlegen, die schöne Hand in seinem dichten Bart, zu mir kam, und mich, bei jedem Wort auf meine Schulter klopfend, fragte: »Bist du mir böse?« Wäre er doch immer so neben mir, über mir gestanden.


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