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12.

Ab und zu leuchteten an geschützten Stellen noch kleine Grasflecken aus dem Geröll und dem Schnee. Beim Näherkommen prangten sie so bunt wie Blumenbeete, sie enthielten neben dem noch in Blüte stehenden Berghafer und dem bescheidenen Thymian jenen Enzian, dessen himmlisches Blau mein armer Vater so sehr geliebt hatte, und dann, in hoch aufgeschossenen Strünken bei noch geschlossenen Knospen, die Stämmchen des Alpenfingerhutes, während sich die himbeerfarben blühende Alpenrose und die purpurrote Pechnelke sogar noch einige hundert Meter höher auf dem fast blanken Felsen hielten. Der Wind wehte hier schon stark, wir mußten über 2600 Meter sein, die Luft war nicht mehr von so balsamischem Duft getränkt, sie wehte eisig und ein wenig metallisch von den nahen breiten Gletschern her.

Der Schweiß an meiner Wäsche trocknete schnell, ich konnte mich in meinem Hemd trotz der Last des Rucksacks viel freier bewegen als vorher. Ich blickte nach einer sicheren Stelle aus, die auch vor dem Wind geschützt sein sollte, und wo wir uns die fünfzackigen neuen Steigeisen anschnallen und uns eine letzte Rast vor der Gipfelbesteigung gönnen wollten. Das heißt, ich wollte diese Rast. Ich hielt sie für nötig. Die anderen aber waren dagegen, sie waren ungeduldig, und ich fürchtete, diese Ungeduld sei nicht so sehr ein Zeichen überschäumender Stärke als vielmehr das einer beginnenden Übermüdung. Endlich setzte ich meinen Willen durch. Jetzt legten wir die Steigeisen an, die Riemen über dem Rist fest anziehend, Wharf nahm Karl das zusammengerollte Seil aus der Hand, rollte es auf, indem er es wie ein Lasso um sich schwang. Ich ließ mich als erster unter den Achseln anseilen, denn ich mußte vorangehen. Wie gern hätte ich diese kleine Ehre – und die große Verantwortung, die stets dem ersten zukommt, meinen Kameraden überlassen! Besonders war es Karl, der, wie ich fürchtete, außer seiner Schwindelfreiheit wenig Talent für den Bergsport mitbrachte, und der der erste sein wollte. Keine Rede davon.

Er war nicht einmal der letzte, sondern wir nahmen ihn in die Mitte. An jedem von uns war das Seil mit einem solchen Knoten um die Brust festgemacht, daß es sich von selbst nicht lösen konnte. Das Seil selbst erwies sich als viel kürzer und als viel schwächer, als ich erwartet hatte. Meine Beobachtung im Eisenbahnwagen war also richtig gewesen, – aber was nützte sie nun? War das ein frommer Betrug? Wer betrog wen? Ich schwieg.

Nun sollte es langsam und methodisch aufwärts gehen. Ich hatte Wharf noch einmal gebeten, das Photographieren auf diesem Teil der Partie zu lassen. Man konnte sie nicht gefährlich nennen, Anfänger machten, wenn sie zuverlässig schwindelfrei waren, mit und sogar ohne Führer die Tour, aber jeder mußte dann mit seiner ganzen Kraft, Besonnenheit und Energie dabei sein. Wharf ließ sich nicht warnen. Ich durfte mich nicht umwenden. Ich hatte ihn nicht zu kontrollieren. Ich war der Führer, ich hatte nach vorne, nach oben zu sehen. Ich mußte die Markierungen beachten, ab und zu einen Blick auf die schwer zu lesende Karte werfen, mußte mit meinen Schritten das Tempo angeben. Nicht zu langsam, denn auch zu sehr verlangsamtes Schrittmaß kann auf die Dauer ermüden und unsicher machen! Aber auch nicht zu gehetzt.

Ich hatte keine Gewalt über die beiden. Ab und zu hörte ich den Verschluß des Apparates schnurren, ich hörte, überdeutlich in der kristallischen dünnen Luft das Abreißen der Blätter aus dem Filmpack so laut, als wenn Wharf ein dickes Stück Seide zerrisse. Wut und sogar etwas Unruhe regten sich aber doch in mir. Ich überlegte: Umkehren? Oder nur mit der Umkehr drohen? Weitergehen? Ich entschloß mich zu dem letzten. Wir hatten nur noch jene kleine schwierige Traverse, ein unübersichtliches, ungedecktes und ungesichertes Felsenband zu nehmen, dann standen wir vor dem aus dem Gletscherfelde aufragenden, nur durch Klimmen mit Füßen und Händen zu ersteigenden Riff. Diese Spitze konnte ich allein nehmen, die anderen konnten es sich an dem bisherigen genug sein lassen oder über das Gletscherplateau ohne Gefahr zur Simonyhütte weitersteigen, womit Wharf, dem scheinbar besonders an den Aufnahmen lag, vielleicht einverstanden war.

Ich zwang mich also zur Geduld. Meine Steigeisen faßten gut. Mir war wohlbekannt, daß man schon vorher wissen mußte, wohin die Füße mit den scharfen Eisen setzen, dann hieß es auf dem Tritt beharren, nicht locker lassen. Karl atmete schnell, vielleicht litt er bereits ein ganz klein wenig an Atemnot, dem ersten Zeichen der Bergkrankheit. Ich wandte mich um, ich fragte ihn. Er lief, ungeschickt mit seinen dünnen Beinen auf dem Eis balancierend, statt mir von seiner Distanz aus zu antworten, überschnell zu mir, und fast wäre er gestrauchelt. Er sagte, keuchend vor Atemlosigkeit, er fühle sich himmlisch, die Brust geweitet, ›wie im Himmel‹. Er und Himmel! Ich legte noch eine Rast ein. Wir waren an einer gedeckten schattigen Stelle mitten im Gestein. Ich nahm die Schneebrille ab.

Jetzt sah ich die herrliche Landschaft in ihrer natürlichen Farbe. Wharf war froh über diese Pause. Er setzte seiner Photolinse einen Filter von der gleichen graugrünen Farbe der Schneebrille auf, die uns den Ausblick so häßlich trocken und unnatürlich gemacht hatte.

Wharf, der sein Handwerk oder seine Kunst verstand, – sie ging ihm leicht von den Händen, – hielt uns wenigstens nicht auf. Etwas empörte sich in mir gegen den Schwächling Karl, der jetzt wieder viel zu schnell stieg, weil er nicht stark genug war, regelmäßig, gleichmäßig, langsam und überlegen mit einer guten Kraftreserve zu steigen. Nach der Rast trieb er es ärger als je. Bald blieb er zurück, natürlich, bald kam er mir so nahe, daß ich ihn in Verdacht hatte, er wolle neben mir statt hinter mir steigen. Ich warf ihm einen Blick zu, den er, obgleich meine Augen wieder durch die Schneebrille verdeckt waren, verstand. Er blieb zurück, aber doch nicht genug. Er konnte nun einmal die Distanz nicht halten, vielleicht hing dies mit dem unzureichenden Funken Genie zusammen, den ihm die Natur zu seinem Unheil verliehen hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls war ich gezwungen, das Seil etwas zu verkürzen, indem ich es um meinen linken Vorderarm schlang, während die rechte den Bergstock führte.

Wir stiegen jetzt noch eine von frischem Schnee bedeckte Mulde empor, der große Gletscher lag, einem bewegten aber in der Bewegung erstarrten Meere nicht unähnlich, sehr nahe vor uns, es trennten uns von diesem Eismeer eigentlich nur noch die kleine vielleicht 180 Meter lange Traverse, die sich als meterbreites Felsband, von Schnee frei, hart unter einer sehr hohen, von zahllosen Schrunden durchfurchten, überhängenden und unbesteigbaren Gesteinswand hinzog, die auch die Traverse vor dem Verschneien bewahrt hatte. Nach der anderen Seite fiel der Felsen nach einer steilen Böschung allerdings ungeheuer tief ab.

Hier lag viel Neuschnee; oder war es alter Schnee? Man wußte nicht, wie weit, man wußte nicht, wie tief. Man wußte nicht, was er verbarg. Wir mußten auf dem Felsbande bleiben, und da man sich dort immer im Schutze der Wand fühlen mochte, konnte das Stück nicht so überaus ›delikat‹ sein, wie es uns der Wirt im Gasthof von Hallstadt geschildert hatte.


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