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Zweiter Teil

1.

Mein Vater hatte uns in einer etwas bedrängten Lage zurückgelassen. Wer uns schuldete, zuckte die Achseln. Wem wir schuldeten, drängte und drohte. Unsere Gläubiger waren in der Überzahl. Zu spät sah ich ein, daß er damals recht gehabt hatte, als er von mir verlangt hatte, ich sollte den alten Peters, unseren Buchhalter überwachen. Dieser erschien nämlich nicht mehr im Büro und sandte uns durch den Schreiber die Schlüssel. Wir durchsuchten die Schreibtische und Register auf der Suche nach wichtigen Quittungen, vergebens.

Ich suchte Peters auf, der Krankheit vorgeschützt hatte. Er schien aber tatsächlich sehr leidend zu sein, er lag zu Bett, das Weiße seiner kleinen Augen war gelb. Auch seine Haut war grünlichgelb, fahl, wie tot, abgesehen von den geröteten Stellen. Seine Gelbsucht mußte ihn sehr quälen. Und doch hatte ich das Gefühl, daß es nicht nur körperliche Qualen waren, an denen er litt. Kaum war ich bei ihm, da hätte er mich gerne fortgehabt, ich merkte es. Aber ich mußte versuchen, ihn zu überreden, nach seiner Genesung in das Büro zurückzukehren. Er allein konnte wissen, wo die Belege waren. Wenn diese durch Zufall abhanden gekommen sein sollten, konnte er sie durch eidesstattliche Angaben ersetzen. Ich versuchte, an seine Dankbarkeit, an sein Ehrgefühl, an das Andenken, das mein Vater hinterlassen hatte, zu appellieren. Er zuckte die hohen Achseln, meinte, er habe nie Dank geerntet, man habe alles hinter seinem Rücken abgemacht. Aber je länger wir sprachen, desto vernünftiger wurde er.

Er gab sich sogar Mühe, mich zu verstehen, denn ich drückte mich ungeschickt aus. Wir einigten uns, oder wir waren eben gerade daran, als es an der Tür pochte. Ich öffnete für ihn. Ein prachtvolles, etwas auffällig gekleidetes, schlankes und doch üppiges Geschöpf stand vor der Tür und nestelte ungeduldig an dem hohen Pelzkragen eines marineblauen Jäckchens, aus dem das ovale Gesicht hell auftauchte. Sie erschrak, als sie mich sah. Sie hatte ja auf das Erscheinen eines ziemlich alten Mannes gerechnet. Ich erschrak nicht bei ihrem Anblick, der mich unter anderen Umständen vielleicht verwirrt hätte. Ich glaubte sie zu kennen. Vielleicht war sie es, die ich im letzten Frühjahr im Stadtpark in der breiten Platanenallee mit meinem Vater im Gespräch gesehen hatte. Als ich sie jetzt zu dem Bett des Kranken treten sah, wußte ich es sicher, denn sie hatte damals eine merkwürdige Anmut gehabt, wenn sie den Kopf mit einem zögernden Lächeln nach der Seite zu ihrem Partner hinneigte und dabei die etwas zu starken Schultern hochzog. Genau so beugte sie sich jetzt zu dem Buchhalter, dessen kranke Gesichtsfarbe durch ein plötzliches Erröten noch häßlicher und mitleidswürdiger wurde. Ich begriff, wie peinlich es ihm war, daß ich die Schöne bei ihm getroffen hatte.

Ich verabschiedete mich schnell und hörte noch auf der Treppe einen erregten Wortwechsel zwischen beiden. Bald dachte ich nicht mehr an sie. Was war sie mir? Aber ob wir den Konkurs vermeiden konnten? Ob uns ein Ausgleich (eine mildere Form des Konkurses bei zusammengebrochenen Kaufmannsfirmen) gelingen würde? Mir war, als müßte ich ihn um Rat fragen, und wieder wallte ein Schmerz von pressender, würgender Bitterkeit in mir auf. Ohne es zu merken, war ich in den Mittelpunkt der Stadt gekommen, einen dreieckigen Platz, in dessen Mitte eine alte, aber nicht besonders schöne Kirche steht. Plötzlich rauschte eine Dame so eng an mir vorbei, daß mich ihr seidener Rock, der ihre Füße raschelnd umschmeichelte, beinahe streifte. Es war die junge Schönheit von vorhin. Sie hielt sich sehr gerade. Die Schultern waren breit, die Brust betont und frei, die Hüften aber schmal. Sie hielt die Augen halb geschlossen, ihre Augenlider waren dunkler als das cremefarbene Gesicht. Ihre Stirne verschwand unter dem hochgezogenen Schleier. Sie tat, als habe sie mich nicht gesehen, aber sie blieb, mit einer brüsken Bewegung, bei den bereits im Abenddunkel liegenden Kirchenstufen stehen, wo einige alte Frauen kleine Kerzen und magere Büschelchen geweihten Buchs verkauften.

Kurz vor Weihnachten kam es zu der im Gesetz vorgesehenen Gläubigerversammlung. Meine Mutter wollte nicht erscheinen (sie konnte es nicht, da ihr das werdende Kind zu tragen schwer fiel). Aber auch unser Vormund, der Vertreter der Waisen nach dem Gesetze, entschuldigte sich unter mehr oder weniger glaubwürdigen Vorwänden. Es würde einen guten Eindruck machen und sich lohnen, wenn ich käme, riet der Anwalt, obwohl ich unmündig und nicht geschäftskundig war. Ich kam also, allerdings voll Zittern und Zagen.

Der Anwalt schlug eine Ausgleichszahlung von 48 Prozent vor, wogegen sich die Gläubiger mit Murren und Geschrei empörten. Was für fürchterliche Worte sind an diesem Nachmittag gefallen über meinen Vater, meine Mutter, (die das kostbare Friedhofgrundstück nicht hergeben wollte), und sogar gegen mich, der ich stumm vor Scham und bebend vor Wut in einem Winkel des Büros dastand. Es war so überheizt, daß mir der Schweiß unter den zu engen Achseln des schwarzen Traueranzuges auszubrechen begann. Ich habe stets schwer geweint. So verließ ich schweigend und mit trockenen Augen das Büro, im Vorzimmer tuschelten die Schreiber, ich wußte nicht, ob aus Verachtung oder aus Mitleid, und öffneten vor mir die Tür wie vor einem Grafen – oder vor einem Bettler. Ich eilte zu Peters, aber er öffnete mir nicht. Die Dame war wieder bei ihm, ich hörte, wie er sie mit Lily anredete, mit einer unnatürlich weichen und süßen Stimme, worauf sie nur mit unverständlichen knurrenden Lauten antwortete. Als ich geklopft hatte, waren sie beide wie mit einem Schlage verstummt. Ich kehrte heim.

Abends kam der Anwalt und sagte, strahlend vor guter Laune, er hätte die Quote noch tiefer gedrückt, auf 42 Prozent. Ich hätte einen ›fürtrefflichen Eindruck‹ gemacht, sein Rat, zu erscheinen, hätte sich also auch als ›fürtrefflich‹ erwiesen. Er hätte natürlich unsere Lage noch eine Spur schwärzer geschildert, als sie war. Von meinem Vater schwieg er. Meine Mutter freute sich so, daß sie Marthy hereinrief, die ihren Abgang und ihre Heirat von Woche zu Woche verschob. Die drei Personen sprachen gleichzeitig. Ich begriff nichts und konnte nichts reden. Ich suchte einige meiner Schulkameraden, die früheren Trabanten, auf. Aber sie sagten mir jetzt noch weniger als früher, sie waren nicht von meiner Welt.


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