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Der Sonnenball hat längst wieder den Meridian erklommen und überschritten. Ein Adler umkreist das bronzene, von milchgrünem Edelrost überzogene Turmdach der Rocca und trägt eine soeben erhaschte Taube – (seinen Jungen zur Atz) – ins astknorrige Nest, das er sich unterhalb des Turmes in einem Felsspalt erbaute. Senkrecht stürzt der Burgfelsen abwärts in die dunkle Schluchttiefe –: ein von den Turmzinnen heruntergelassenes Bleilot würde durch keinen Vorsprung gehindert werden, den schwindelnden Abgrund zu erreichen.
In einer Schlafkammer unter dem Turmdach schimmert ein prachtvolles Bett, geschnitzt aus Ebenholz und von einem Baldachin aus lachsfarbenem Seidendamast überdeckt. Die eine Langseite des Bettes ist an die Wand gerückt, welche der auf einen geländerlosen Altan hinausgehenden Tür gegenüberliegt. Eine zweite zu einer Wendeltreppe führende Tür befindet sich neben dem Fußende des Bettes. Vom Altan aus gelangt man in ein marmorblankes Waschzimmer und von dort in einen kleinen Salon, dessen Tür gleichfalls auf die Wendeltreppe hinausmündet. Von ausgesuchtem Geschmack ist die Ausstattung dieser drei Turmzimmer. Auf dem Fensterbrett stehn Töpfe mit blühenden Tuberosen und Orchideen. In einem Käfig schluchzt eine Nachtigall.
Sei es von ängstigenden, sei es von beglückenden Träumen heimgesucht, ruht ruhelos Giuliano im Prunkbett. Erst ganz allmählich beginnt er eben zu erwachen. Die Benommenheit (infolge des eingeatmeten Kerzenqualmes) verläßt ihn auch im Halbschlaf nicht. Er liegt mit dem Rücken zur Wand, das Gesicht dem Altan zugewandt, er läßt seine schlafsüchtigen Augen gleichgültig zu den drei Fenstern hinausschweifen und nimmt es als unerforschliche Gegebenheit hin, daß nichts als Himmelsbläue und Gewölk das Vorhandensein einer Außenwelt bekunden. Auch die reiche Ausstattung des Schlafraumes nimmt er als gegeben hin –: so luxuriös geht es ja oft in Träumen zu. Kahler allerdings war die Szenerie, worin er vor wenigen Minuten noch mit Violetta lebte: ein Felsengrab in dem von Totenkammern durchlöcherten Troodos-Berge auf Cypern war es, und das Ehebett ein mit Blättern gefüllter moosübergrünter Sarkophag ...
Beim Versuch, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, merkt Giuliano, daß er mit einer dünnen Silberkette gefesselt ist. Ein silbernes Armband umschließt sein Handgelenk; und vom Armband, daran sie geschmiedet ist, streckt sich die Kette, über seine Brust gestrafft, zur Wand hinter ihm. Er wendet sich um ... Da wird er gewahr, daß im Bett neben ihm ein kindlich junges Mädchen schläft. Im Nu durchzuckt ihn die Ahnung, wer sie ist, auf deren Haarmähne, Nacken und Rücken seine Augen, sich selbst mißtrauend, ruhen. (So pflegt es ja in Träumen zuzugehn: man schläft mit toten Geliebten ...) Ihr linker Arm liegt auf der gesteppten Seidendecke und am Handgelenk trägt auch sie ein Armband, dem seinen ähnlich, – und daran ist das andere Ende seiner Kette geschmiedet. Unlösbar gebunden ist der Lebende an die Verstorbene. Jetzt entsinnt er sich der Gespenstererscheinung im Säulensaal – und er entsinnt sich, daß anfangs das Wunder ihn gelähmt, schließlich aber doch ihn überzeugt und niedergeworfen hatte ...
Noch hat er die Gewißheit nicht, ob die Schlafende tatsächlich Violetta und nicht etwa eine andere ist. Ihr Gesicht ist von ihm abgekehrt, ist der Wand zugekehrt. Er muß sich im Bett aufrichten und sich über sie beugen, um ihr Antlitz sehn zu können ... Ja, seine Ahnung hat ihn nicht getrogen: die tote Violetta schlummert da neben ihm! Eine Nacht lang – (oder war es mehr als eine Nacht?) hat Violetta bei ihm geschlafen, angekettet an ihn!! ...
Kann das Wirklichkeit sein? Erwachte er noch immer nicht? Wird er noch immer zum Narren gehalten von den Gaukelbildern einer herzlosen Magierin? ...
Er beißt sich in die Hand und stellt fest, daß sein Biß ihn schmerzt. Folglich ist er wach. Er faßt an Violettas Arm; – nein, sie ist kein Luftgebilde: ihr Totengebein hat sich mit blühendem, warmem, pulsierendem Fleisch umkleidet! ... Er vermag ihrer unirdischen Schönheit und seiner Grabessehnsucht nicht zu widerstehn: er haucht einen Kuß auf ihre geschlossenen Augen und auf ihre Stirn. Da greift sie, ohne zu erwachen (obgleich die Silberkette klirrt) mit beiden Händen an seine Wangen, zieht seinen Kopf zu sich herab, preßt ihre offenen Lippen an seinen Mund, trinkt ihm die Seele vom Munde ... Er widerstrebt nicht, – sie ist ja sein verlorenes, wiedergefundenes Weib.
Niemals noch empfand er eine Glückseligkeit wie bei dieser makaberen Umschlingung. In ein leuchtendes Land entführt ihn ihr Küssen, – mag es Paradies sein oder Hölle, er fragt nicht danach. Mag Violetta eine lebendige Leiche, ein Vampir sein, der ihm das Lebensblut vom Munde schlürft, – er würde ihr auch das qualvollste Verbluten freudig danken. Er liebt sie mit der gleichen totenheiligen Glut, mit der er sie im Lusignan-Palast und in der Felsenkammer, den Tod erwartend, liebte ...
Doch jetzt erwacht sie, schlägt die Augen auf, erschrickt, sucht sich aus der Umarmung zu lösen. Die Kette und Giuliano geben sie nicht frei. Mit eisernem Griff hält er sie fest und ruft:
»Ich lasse dich nicht, Violetta! Und wenn du zurück mußt in dein Grab, so nimm mich mit!«
Sie starrt ihn an, gespensterbleich. Und dann sagt sie voll heimlicher Eifersucht und unendlich traurig:
»Die Tote hast du geküßt – nicht mich! ... Siehst du denn nicht, daß ich lebe?«
»Du starbst, arme Violetta! Ich selbst war es ja, der dir das Leben nahm! ... Ach, wenn du noch lebtest, Violetta! ... Doch wie könnte das sein!«
»Ich bin nicht Violetta! Ich bin Gualdrada da Gambara, Violettas Schwester!«
Der eiserne Griff seiner Hände, mit dem er sie an beiden Ellbogen festhält, lockert sich nicht. Sein Blick, kaum eine Sekunde lang verwirrt, gewinnt sogleich Ruhe und Stetigkeit zurück. Hatten böse Mächte beabsichtigt, durch einen Blitz ihn niederzuschmettern, so ist es den Unholden mißlungen: ein unschädlicher kalter Blitz streifte ihn und ließ ihn unversehrt ...
Er ruft (beinahe freudig bebt seine Stimme):
»Ich lasse dich nicht, Violetta! Selbst wenn du lebst, selbst wenn du Gualdrada bist, bleibst du für mich doch meine Violetta!«
Vertraut ist ihm der Name der Contessa Gualdrada da Gambara; – oft hatte er in Cypern, als er im Felsengrab mit Violetta lebte, sie von ihrer Zwillingsschwester Gualdrada reden hören. Töchter aus verarmter altadeliger Familie, früh des Vaters beraubt, von einer kränklichen Mutter erzogen, waren die beiden Zwillinge bis zu ihrem vierzehnten Jahre unzertrennlich gewesen, als der Tod ihrer Mutter sie auf die grausamste Weise trennte: eine Schwester des Vaters nahm sich Gualdradas an, gewährte ihr ein Asyl in ihrer bescheidenen Wohnung zu Faenza; Violetta wurde von der Marchesa Isotta Pasolini, die eine Base ihrer Mutter war, aus Mitleid nach Paphos eingeladen und als verwaiste bettelarme Nichte den übrigen im Bergpalaste Jugendzeit und Jugendanmut vertrauernden Mädchen zugesellt.
Und oft hatte Violetta, von der so innig geliebten, wohl für immer ihr entrissenen Zwillingsschwester sprechend, ihm erzählt, wie erstaunlich ähnlich Gualdrada ihr sei, – so ähnlich, daß sie als Kinder sich bunte Bänder ins Haar flechten mußten, damit ihre Mutter sie unterscheiden konnte.
Die Erinnerung an diese Gespräche erleuchtet seine Gesichtszüge wie ein Sonnenstrahl. Plötzlich aber umwölkt sich seine Stirn und er fragt düster und streng:
»Wer hat uns zusammengekettet? Wer brachte uns hierher?«
»Die Neger der Fürstin Malaspina ... Du warst betäubt von vergifteten Kerzen.«
»Und du, Gualdrada? ... Du hast mitgeholfen bei der Kuppelei?«
»Sie zwang mich ...«
»Auf welche Weise?«
»Sie drohte mir das Los der nackten Mädchen an!«
»Was ist deren Los?«
»Ach, Giuliano, du weißt nicht, welch ein Teufel die tolle Fürstin ist! ... Hast du vom ›Alten vom Berge‹ gehört?«
»Der die Assassinen aussandte?«
»Ja, der. Auch Lodovica Malaspina hat ein Mädchenschloß und läßt – wie jener es tat – Jünglinge verführen, um sie als Meuchelmörder in die Welt hinauszuschicken ... Auf dich, Giuliano, hatte sie große Hoffnungen gesetzt. Raffaela, Nella, Marietta und die anderen konnten dir freilich den Verstand nicht rauben. Das sah die Fürstin voraus und darum ließ sie mich kommen.«
»Von wo?«
»Aus Faenza, wo ich bei meiner Tante bis dahin gelebt hatte. Meine Wohltäterin starb vor zwei Monaten; mittellos stand ich allein da in der Welt und mußte dankbar sein, daß die Fürstin mir ein Obdach anbot ... Ich ahnte ja nicht, was sie mit mir vorhatte ...«
»Woher wußte sie von dir?«
»Durch die Marchesa Isotta erfuhr sie, wo ich wohnte; und auch, daß ich das Ebenbild Violettas sei.«
»Durch die Marchesa Isotta? Die war doch gelähmt und stumm, – bis zum Tage, da sie sterbend die Sprache wiederfand! ...«
»Sie war nicht gelähmt; daß sie starb, ist zwar wahr; – doch nicht sie war's, die du aus dem Katafalk hast sprechen hören. Ein schändliches Spiel hat man mit dir getrieben, Giuliano; und ich arme Närrin half dabei, mußte dabei helfen, – sonst hätte sie mich zur nackten Hure gemacht wie die andern und hätte mich fremden Männern preisgegeben.«
»Sie hat dich mir preisgegeben, du Ärmste! ... Vergib mir! Vergib mir! ...«
Er hält sie nicht mehr an den Ellbogen fest. Seine beiden Hände legt er zart an ihre Schläfen, blickt ihr lange reuevoll in die Augen und drückt, »Violetta, liebe Violetta!« murmelnd, seinen Mund auf ihren Mund. Da bricht sie in Tränen aus, streichelt sein Haar und sagt, traurig und selig lächelnd:
»Ich will dich nicht belügen, Giuliano! Seit Jahren wußte ich, was du für Violetta gewesen bist; und obgleich ich dich nie gesehn hatte, liebte ich dich seit Jahren und sehnte mich nach dir! Wohl hat mich die Fürstin gezwungen, – doch mehr noch zwang mich das Blut in meinen Adern, das auch Violettas Blut ist ...«
»Ich vergoß das heilige Blut deiner Schwester, Gualdrada!«
»Und eben deshalb gehöre ich dir an, mein Giuliano! – Schicksalhaft gehören wir uns an! ... Das ist ein so unendliches Glück, daß es mit meinem Tode nicht zu teuer erkauft sein wird!«
»Wird? ... Was willst du damit sagen?«
»Daß alles bezahlt werden muß hienieden ... Im Käfig dort die Nachtigall wird länger leben als du und ich in unserm wolkenhohen Marmorkäfig! ... Du siehst mich verwundert an? – Geh, versuche die verschlossene Tür aufzubrechen! ... Bloß einen Ausweg gibt es –: vom Altan aus ...«
»In den Abgrund hinab? ...«
Drei Tage sind vergangen und noch immer hat das Schicksal nicht an die Tür geklopft. Der lichte, von Adlern umschwebte Kerker ist in drei Tagen den Liebenden ein Paradies geworden; ein verlorenes Paradies – sie wissen es –, obgleich ihnen noch vergönnt ist, darin zu weilen. Hunger und Durst haben sie nicht zu leiden: auf einem Tische stehn Speisen, Wein, Leckereien und Früchte, – genügend viel, um eine Woche lang mehr als zwei Menschen zu ernähren. Dennoch lechzen freudehungrig ihre Körper und ihre Seelen, wollen unersättlich auskosten, was das Unglück ihnen beschert an unerhörtem Glück, das wie das Schluchzen der gefangenen Nachtigall so traurig und süß ist seiner Vergänglichkeit, seiner Kurzlebigkeit wegen: graue Haare wachsen ja dem Glücke nie ... Sie wissen es: das Schicksal schlich die Wendeltreppe herauf und lauert vor der Tür ...
Daß es sich stets gleich bleibt, das Schicksal, hat Giuliano bitter erfahren: bei den Teufelsanbetern, wo er den schönen Knaben, auf dem Schiff, wo er das Pferd König Pfauhahn, auf dem Troodos-Berg, wo er sein Weib aus Mitleid und Liebe vor Schlimmstem bewahrte ... Periodisch wie das Schwellen und Schwinden der Mondphasen, wie der Umlauf des Himmels, wie die Wiederkehr von Sommerglut und Winterkälte, wiederholen sich die Erschütterungen seiner Seele: der Marmorturm, worin er jetzt haust, ist ja jenes cyprische Felsengrab, und wieder wie einstmals hält er sein angebetetes Weib in den Armen, pochenden Herzens das Herannahen des unerbittlichen Geschickes jede Stunde, jede Minute erwartend.
Am rosigen Frühabend des dritten Tages stehn – umfunkelt von der untergehenden Sonne – Giuliano und Gualdrada auf dem Altan und blicken hinab zum Adlernest in der Felsspalte tief unter ihnen. Es ist nicht ungefährlich, so sich hinabzubeugen; denn kein Geländer umgibt den Altan, und statt einer Brustwehr hat er hohe Zinnen. Man muß, um zum Nest niederzuschaun, sich zwischen zwei der Zinnen stellen. Das tut Gualdrada. Giuliano, dem sie die Adlerjungen gezeigt hat, zieht sie besorgt vom Altanrand weg.
»Grausig ist die Tiefe, Gualdrada! Sie lockt ...«
»Mich nicht. Ich bin zu glücklich!«
»Sie lockt unversehens. Nimm dich in acht!«
»Ist die Tiefe eine Fee, daß sie lockt?«
»Eine berückende Hexe ist sie, sagt man. Wie eine Spinne klimmt sie am Gestein und will einen hinabziehn.«
»Das möchte ich sehn, wie sie klettert, die Menschenspinne!«
»Komm weg von da, Gualdrada! Blicke lieber geradeaus auf die blaue Kimmung!«
»Nach Sardinien?«
»Nein, viel, viel weiter, wo die Sonne jetzt hinzieht ... Dort im Weltmeer, im fernen Westen, sind die Seligen Inseln, die Hesperiden.«
»Sehnst du dich dahin, mein Lieb?«
»Wenn ich mit dir dort leben könnte, Gualdrada ...«
»Wir könnten nicht glücklicher sein, als wir hier sind, Giuliano! Unser Gefängnis hier ist ja eine Insel der Seligen! ... Seliger als die Seligen sind wir, mein Lieb!«
Sie stürzen sich in die Arme, sie umhalsen und küssen sich so wild, so weltvergessen, daß sie den knarrenden Schlüssel in der Schlafkammertür nicht hören. Plötzlich steht Lodovica auf dem Altan. Ihr Lachen weckt die Liebenden aus der Verzückung.