Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Auf der Gasse draußen, der Via dei Ginori, sind die beiden erst wenige Schritte gegangen, als ihnen einer der drei Trabanten Lodovicas entgegenkommt. Er hat Auftrag von seiner Herrin, Messer Giuliano in deren Absteigequartier, den Palazzo Ginori, zu führen; – noch nicht abgereist ist die Prinzessin und wünscht ihn sofort zu sprechen.
Giuliano verabschiedet sich von Martelli und folgt dem Neger, der ihm mit einer weißen Wachsfackel vorausleuchtet. Im Palazzo wird er von einem stattlichen galonierten Haushofmeister empfangen und in den ersten Stock hinaufgeleitet. Vom Haushofmeister erfährt er, daß der Besitzer des reich ausgestatteten Palazzo, der Conte Andrea Ginori, mit Frau und Kind in Rom weilt und die leerstehende Wohnung für die Zeit seiner Abwesenheit der Prinzessin zur Verfügung gestellt hat.
Sie durchschreiten prachtvolle, erleuchtete Räume. Gemälde Mantegnas, Filippino Lippis, Borgognones, und andere Köstlichkeiten strahlen von den Wänden herab. Und dann gelangen sie in das Camerino, wo Lodovica wartet.
Sie trägt heute Frauenkleidung. Zwar ist ihr hellgrünes Taffetgewand kein Staatskleid, Juwelen zieren sie nicht; und dennoch wird Giuliano zumute, als sähe er ihr langobardisches Schmalgesicht und den Ockerglanz ihrer Bernsteinhaut zum erstenmal – an ein Simonetta-Porträt Botticellis, das er soeben bewunderte, erinnert sie ihn (obgleich ihr Haar schwarz ist) –; zum erstenmal wird ihm bewußt, daß Lodovica verführerisch schön ist ...
Sie entläßt den Haushofmeister mit dem Befehl, ihr es unverzüglich zu melden, sollte die erwartete Nachricht eintreffen ... Auf einem Intarsienstuhl am Kamin heißt sie Giuliano Platz nehmen vor einem Tisch, auf welchem Erfrischungen, Obst, Konfekt und Weingläser bereitstehn. Sie selbst setzt sich nicht; aufrecht vor ihm, lehnt sie den Arm auf den Kaminsims.
»Wie du siehst, ich bin noch in Florenz. Und das ist ein Glück, – denn so kann ich vielleicht doch ein wenig den Schleier heben ...«
»Wovon, Signora Principessa?«
»Von dir, du verschleiertes Bild zu Saïs! ... Heute nachmittag wurde die Kurtisane La Delfina ermordet. Weißt du es schon?«
»Ja, Principessa.«
»Ihr wurde ein Dolch in die Kehle gestoßen, – genau wie es gestern von Don Pietro angedroht worden war ... Ganz gewiß wird Don Pietro versuchen, den Verdacht auf einen andern abzulenken ... Warst du beim Stiergefecht? ... Nein? ... Wo warst du um die Zeit?«
»Als die ersten Fanfaren ertönten, war ich bei La Delfina und dann war ich im Palazzo Albizzi.«
»Du kanntest La Delfina?!! ... War sie deine Geliebte?«
»Nie, Principessa. Eine Nachbarin war sie, den Morgenimbiß pflegte sie beim cyprischen Koch einzunehmen ... Das arme Ding tat mir namenlos leid.«
»Wenn sie deine Geliebte nicht war, wozu besuchtest du sie?«
»Ich schulde Euch so viel Dank, Principessa, daß ich auch diese Frage beantworten will. Ich besuchte sie, um ihr ins Gewissen zu reden, damit sie ihr Sündenleben aufgäbe.«
»Rex Seraphicus! Wolkensohn! ... Wie lange warst du bei ihr?«
»Kaum eine Viertelstunde. Sie verbat sich jedwede Bußpredigt und wies mich schroff aus dem Hause.«
»Das hätte ich auch getan, du guter Tor ... Ich möchte den Richter sehn, der das für möglich halten wird ... Und dann warst du im Palazzo Albizzi? Sah dich jemand dort?«
»Ihr stellt unheimliche Fragen ... Muß ich dies beantworten?«
»Du mußt, wenn dir an meiner Freundschaft gelegen ist, Giuliano.«
»Die Signorina Semiramide sah mich, als ich eben von La Delfina kam.«
»Was! ... Hat Semiramide beim Stierkampf gefehlt? Ist das denkbar? ... Hatte sie ein Stelldichein?«
»Sie kam unerwartet zurück, weil sie im Gedränge ihren Vater verloren hatte.«
»Eine Lügnerin, der niemand Glauben schenken wird.«
»Glaubt Ihr mir nicht mehr? ... Eure Fragen, Principessa, sind verletzend.«
»Ich glaube dir und ich glaube an dich, Giuliano. Nicht verletzen wollte ich dich, sondern dir zeigen, in welcher Gefahr du schwebst, wenn du in Florenz bleibst ... Ja, ich glaube an dich – mehr als du ahnst. Den ersten besten würde ich nicht auf Schritt und Tritt begleitet und geschützt haben ... Hast du dir nicht Gedanken darüber gemacht, daß eine Fürstin – – – «
»Doch, doch ... – aber keine Erklärung habe ich gefunden.«
»Andeuten will ich es dir. Vor zwei Jahrzehnten verschwand ein Fürstenkind; und käme es wieder, so hätte es mehr Anrecht auf den Thron von Florenz als Cosmo.«
»Und weil Euch Cosmo verhaßt ist, Principessa, sucht Ihr das Fürstenkind? Was aus Haß gesucht wird, wird gefunden, auch wenn es das Falsche ist ... Sagt mir, – ist Cosmo so hassenswert? Mir erzählte Semiramide von Malatesta und Cosmos Tochter. Ist er so?«
»Nein, so ist er nicht. Die Schandgerüchte, aus denen Semiramide ihre Novellen webt, sind mir unbekannt, –: es sind Lügengespinste. Ich bin Cosmos Feindin, – aber ein Scheusal ist er nicht. Anderes werfe ich ihm vor: er ist ein Fürst, wie Macchiavelli ihn gewollt hat, er ist der Tyrann von Florenz und war einst – das ist freilich ein Vierteljahrhundert her – ein blutiger Usurpator. Ich weiß, er zittert vor jenem toten Kinde.«
»Und welchen Anhalt habt Ihr, Principessa, mich für das tote Kind zu halten? Weil Florentiner Gesindel mir den Spitznamen ›König von Cypern‹ angehängt hat? Warum sollte ich nicht der Sohn eines Lastträgers oder Steinklopfers sein?«
»Weil ... Doch nein, noch ist es verfrüht, davon zu sprechen, – erst muß ich noch mehr Beweise haben ... Und heute gilt es, jeden Schatten eines Verdachtes von dir zu nehmen. Denn, daß ich es dir ehrlich gestehe, sogar ich war – einen Augenblick lang – irre an dir; sprachst du doch gestern davon, daß du in Cypern zum Tode verurteilt warst, weil du eine Verwandte von mir, ein junges Mädchen, ermordetest.«
»Nicht ermordet habe ich das Mädchen, Principessa, – ich habe es getötet und würde es heute wieder tun.«
»Um sie wovor zu bewahren?«
»Vor dem Leben.«
»Dem Leben – wo?«
»Im Walde der Aussätzigen bei Famagosta.«
»Komm, erzähle mir das ... Doch nein, hole weiter aus. Beginn mit deiner Kindheit. Sagtest du nicht, du seist, bevor du nach Cypern kamst, in England gewesen? Wie kamst du dahin?«
»In einem Korbe – einem Blumenkorbe – wurde ich, ein fünfjähriges Kind damals, heimlich an Bord eines Schiffes gebracht.«
»In einem Korbe? ... Weißt du das bestimmt? ... In einer Kiste wurde das tote Kind Cosmo zugeschickt. Doch das tote Kind war älter ... Wer nahm sich deiner auf dem Schiffe an?«
»Ein Lord Norfolk. Er ließ mich dann in England erziehn.«
»Norfolk? Der durch Asien gereist ist?«
»Das geschah zwanzig Jahre später.«
»Und du wurdest sein Reisebegleiter?«
»Ja, Signora Principessa, – – – «
Es klopft, und an der Türschwelle erscheint der Haushofmeister. Seine Eccellenza, der Duca, sei soeben aus Volterra heimgekehrt, meldet er. Hastig erteilt ihm Lodovica einige letzte Anweisungen und befiehlt, die Reitpferde vors Tor führen zu lassen ... Und dann faßt sie Giulianos Hand.
»Sei mein Reisebegleiter, totes Kind!«
Er küßt ihr die Hände.
»Ich bin ein lebender Mann, Principessa. Und weil ich das bin – (und schwerlich jenes) –, kann ich heute – so wenig wie gestern – Euer Reisebegleiter sein. Noch gab ich den Schlüssel nicht zurück.«
»Du bist ein Starrkopf; es ist zwecklos, dich zu überreden. Gut, tu, was der Starrsinn dich heißt, aber geh behutsam deinen Weg, wie ein Seiltänzer über das Seil geht: unter dir sind Abgründe, – ich zeigte sie dir ... Gott beschütze dich, Giuliano! Allerbaldest mußt du im ›Schloß der hundert Kammern‹ mir dein Leben erzählen. Ich brauche dein Leben mehr als du!«
Bei starkem Schneegestöber wartet Giuliano vor dem Palazzo Ginori auf das Abreiten der Fürstin und ihres kleinen Gefolges.
Keine zehn Minuten vergehn, und sie eilt federnden Schrittes aus dem Portal zu ihm auf die Gasse hinaus, reisemäßig gekleidet – denn sie hat noch Zeit gefunden, sich in aller Hast umzuziehn –, mit einer Bibermütze auf der schwarzen Haarwolke, im Reitpelz, die Beine in Stulpenstiefeln und Pluderhosen. Als sie, überschlank wie ein junger Knappe, sich in den Sattel schwingt, muß er an den Namen denken, den Semiramide ihr gab: »die Amazone«. In rauhen skythischen Gegenden – rauh wie der skythische Winter dieser toscanischen Nacht – hatten die Amazonen ihren Weiberstaat, in welchem die grausame Sitte herrschte, Amazonensöhne zu blenden, zu verkrüppeln und als Sklaven dienen zu lassen ... Ist er schon geblendet? Ist sein Wille schon verkrüppelt? Ist er schon Sklave? ... So sehr er sich dagegen wappnet und, an Faustina denkend, sich gepanzert hält, so sehr freut es ihn doch, der Fürstin letzten Gruß zu sehn, während sie, eine verschneite Reiterin, in den silbrig flimmernden Flockennebel hineingleitet und den Blicken entschwindet.
Am nächsten Abend gegen neunzehn Uhr wird der Kleine Walfisch durch einen fremden Boten in den Borgo San Frediano gerufen, wo ein Vetter von ihm wohnt. Dieser Vetter – (teilt der Bote mit) – bitte Messer Antonio, recht schnell herüberzukommen, da die Frau Base soeben ein schwächliches Kind zur Welt gebracht habe, das schleunigst getauft werden müsse, damit es als totes Heidenkind nicht ewig zwischen Himmel und Erde schwebe. Sogleich macht sich Martelli auf den Weg, ungeachtet der eisigen Böen, die ihm wie Messer durch Pelzmantel, Fleisch und Mark schneiden. Jenseits des Ponte alla Carraia verliert er den Boten aus den Augen. Er setzt den Weg allein fort, gelangt vors Haus des Vetters und bemüht sich, recht leise zu pochen aus Rücksicht auf die gedrückte Stimmung im Hause. Ihm öffnet die angebliche Wöchnerin und bricht in ein sardonisches Gelächter aus, als er sich nach dem Befinden des sterbenden Säuglings erkundigt. Es stellt sich heraus, daß sie nicht einmal in anderen Umständen ist. Der überaus belustigte Vetter hänselt ihn ob seiner Leichtgläubigkeit.
Von bösen Ahnungen gehetzt, eilt Martelli heim. Als er auf die Piazza di San Marco kommt, wird er wie vom Blitz gerührt durch einen phantastischen Anblick. Eine Menschenmenge hat sich auf der Piazza angesammelt, sogar die Dominikanermönche recken neugierig vor ihrem Klosterportal die tonsurierten Köpfe, um ein nacktes Mädchen zu sehn. Denn auf dem Dache der Casa Martelli, auf dem mit Eiszapfen und Schnee bedeckten Dache, tanzt von Mondschein belichtet und kleiderlos die kleine Cammilla.
Schreien will Martelli, doch die Stimme versagt sich ihm. Er ist am Ersticken vor Schmerz und Zorn. Einen Augenblick schwinden ihm die Sinne. Da legt sich ein Arm unter seinen Arm. Es ist Giuliano, der den Wankenden auffangt und ihm ins Ohr flüstert:
»Als ich herkam, war sie schon auf dem Dache, – sonst hätte ich's nicht zugelassen. So aber mußte ich mich still verhalten, damit sie nicht erschrickt und abstürzt ... Ihr auch müßt Euch still verhalten, Messer Antonio! Ich bitte Euch, beherrscht Euch – um Eures Kindes willen!«
»Wer ...?! Wer hat das angestiftet?!!« stammelt Martelli, blau im Gesicht.
»Don Pietro, der Euch das gestrige Bad eintränken will ... Ich erfuhr es von einem aus der Menge hier, der es mit ansah, wie des Prinzen Teufelsgilde in Euer Haus eindringen wollte, es jedoch verschlossen fand. Durchs Fenster haben diese Überteufel mit Cammilla gesprochen und ihr weisgemacht: Euch habe der Mond geraubt, und um Euch zu befreien, müsse sie auf dem Dache nackt vor dem Monde tanzen.«
Nicht länger vermag Martelli seine Stummheit zu ertragen; er stöhnt auf wie ein röhrender Hirsch. Da plötzlich gellt über den Platz Don Pietros Stimme:
»Dort steht ja unser Walfisch, der verstohlene Vater! Wahrgemacht hast du gestern, Martelli, daß Wale dicke Fontänen spritzen; – heute aber mache ich wahr, was ich dir gestern prophezeite: deine Cammilla tanzt vor mir!«
»Bei allem, was heilig ist, gebt keine Antwort, beherrscht Euch, daß sie Eure Stimme nicht hört!« raunt Giuliano Martelli zu.
Doch die übermenschliche Anstrengung, die dem Kleinen Walfisch die Stummheit kostet, ist umsonst vertan. Sei es, daß die kleine Schwachsinnige aus der Rede des Prinzen das Wort »Vater« herausgehört, sei es, daß sie ihren Vater erblickt hat, – sie tanzt näher an den Dachrand heran, sie blickt hinab ... ihr Fuß strauchelt über Eisscherben, sie gleitet ...
Ein hundertstimmiger Entsetzensschrei schrillt zum Mond empor. Mit blutendem Kopfe liegt das Kind auf dem Schnee der Piazza.
Die Menschen weichen scheu auseinander vor dem Vater, der lautlos heranwankt. Stumm schluchzend hebt er sein Töchterchen auf und trägt es ins Haus.