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Ich sagte schon, daß die Türken – in gewissen Zeitabständen – die Dörfer der Teufelsanbeter überfielen. Mit Wissen der Behörden geschah es, meist sogar auf höheren Befehl, daß die albanesischen Soldaten, die prachtvollen Janitscharen des Sultans, ins Gebirge drangen und – je nach Laune und Bedarf –, sei es einen Vertilgungskrieg, sei es einen Sklavenkrieg führten. War das erstere eine Raserei im Blutrausch, ein Gemetzel ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, so war fast noch grausiger das zweite, ein unblutiger Krieg zwar, doch herzbrechend wie das Schreiten der Pest durch menschenreiche Gassen. Um nämlich für schuldiggebliebenen Sold die Janitscharen schadlos zu halten, gestattete ihnen der Padischah, in den Dörfern der Teufelsanbeter einen Kinder-Tribut zu erheben. Sie wanderten scheinbar ganz friedlich von Dorf zu Dorf, ließen sich sämtliche Kinder zeigen, wählten die gesündesten und schönsten aus, trieben die kleinen Knaben und Mädchen wie eine blökende Schafherde vor sich her, brachten sie nach Mosul und verkauften sie auf dem Sklavenmarkt.
Unser Dorf hing wie ein Schwalbennest an steilem Felsschroffen oberhalb einer schmalen Schlucht, in die sich das Geklüft fast senkrecht hinabsenkte, um jenseits als ebenso nackte und jähe Felswand emporzusteigen. Nicht ganz in gleicher Höhe mit uns, etwas tiefer gelegen, war drüben an einer muschelförmig eingebuchteten Stelle der Felswand ein Dorf; und ein anderes linker Hand im Tal, wo die Schlucht sich erweiterte.
Eines Nachmittags saß ich vor unserem Hause und sog mit Lunge, Auge und Ohr den stillen Frieden der Berglandschaft in mich ein. Schon längten sich die Gipfelschatten, Frauengesang erscholl, Zikaden schrillten, ein Hund bellte. Ohne Warnung stand plötzlich das Schicksal inmitten der Felsschlucht, unentrinnbar, grauenhaft. Einer der ersten war ich, der die Albanesen drunten gewahrte; sie beratschlagten, sie teilten sich in drei Trupps; – die einen schritten auf das Dorf im Tale zu, die anderen erstiegen den Felspfad drüben, und ein dritter Trupp begann, den weit beschwerlicheren Weg zu uns heraufzuklimmen. Noch immer zirpten die Grillen, noch immer bellte der Hund, noch immer senkten sich die Abendschatten friedlich hernieder ... Ich stürzte ins Haus zu Scheich Awad. Als er mit mir vor die Tür trat, schallte uns ein Geheul aus der Tiefe entgegen, wie wenn im Tal der Feuerpfuhl der Hölle lodere, und nicht lange danach antwortete ein Echo von der Felswand drüben.
Scheich Awad hatte einen Enkel. Ein engelhaft schöner, halbwüchsiger Knabe war das, der letzte Sproß des viele Jahrhunderte alten Häuptlingsgeschlechts. Den Vater des Knaben, den einzigen Sohn des Scheich Awad, hatten im letzten Vertilgungskriege die Türken hingemetzelt. Seitdem stand alle Hoffnung des Volksstammes – nicht minder als die des Scheichs – auf den zwei Augen des Kindes. Die Liebe des Scheichs zum Knaben grenzte an Besessenheit.
Verteidigung war unmöglich gegen die bewaffnete Übermacht. Flucht wäre zwecklos gewesen. Zwar gab es Felsenhöhlen im Gebirge; doch schon gellten ferne Wehrufe auch aus anderen benachbarten Tälern.
Bis jetzt hatte der zu uns heraufklimmende Trupp eine kleine Strecke erst des Weges zurückgelegt, noch blieb uns eine halbe Stunde, das Unheil – wenn der Himmel nicht ein Wunder tat – zu erwarten. So viel Zeit zur Rettung, – und dennoch keine Rettung möglich!
Ich hielt mir die Hände vors Gesicht, – so unerträglich wurde mir der Anblick des schluchzenden Greises, der sein Enkelkind auf seinen Armen umhertrug und ihm Koseworte zuflüsterte wie ein Wahnsinniger. Ich zermarterte mir mein Gehirn, nach einem Ausweg suchend ... Und Gott half mir, einen zu finden ( – wenn es nicht Satan war, der ihn mir finden half!)
Ich entsann mich plötzlich, daß sich unter den Arzneien, die Norfolk mir zurückgelassen hatte, ein betäubendes Gift befand, das einen todähnlichen Schlaf bewirkt ...
Beglückt über den Einfall, bebend vor Aufregung, trat ich an Scheich Awad heran und sagte:
»Scheich! Wenn du es erlaubst und Gott mir hilft, werde ich den Knaben retten!«
Er blickte mich verständnislos an.
»Laß uns keine Zeit verlieren!« drängte ich. »Ich werde ihm einen Betäubungstrank geben, daß er einschläft und wie ein Toter erstarrt. Wir bahren ihn auf, hüllen ihn in Leichentücher. Die Kinderräuber werden ihn für tot halten. Wenn sie das Dorf verlassen, wird – so Gott will – die Wirkung des Giftes nachlassen, er wird zum Leben erwachen. Erlaubst du, daß ich ihn durch den Tod zum Leben führe? Ich frage dich, weil es ein Wagnis ist, weil es geschehn könnte, daß seine Seele nicht in den Körper zurückfindet.«
»Führe es aus!« rief der Scheich. »Und wenn er nicht erwacht, so hat der Allerbarmer ihn doch gerettet! Besser, er schläft und erwacht nie, als daß er als Sklave erwacht!«
Ich holte die Medizin, ich gab sie dem Knaben zu trinken. Eilends wurden Leichentücher und ein Sarg herbeigeschafft. Wir bahrten in aller Hast den bewußtlosen Knaben auf, stellten je zwei brennende Öllämpchen ihm zu Häupten und zu Füßen ... Kaum war das geschehn, langten die Soldaten bereits in unserem Dorfe an, begrüßt von herzzerreißendem Jammergeheul. Kalt, henkermäßig sammelten sie den Kindertribut ein. Noch gellt mir zuweilen in schlaflosen Nächten das Gekreisch der Mütter in den Ohren, und ich sehe ihre Verzweiflungsgebärden. Kein Tropfen Blut wurde vergossen, und doch war es gräßlich wie der Kindermord zu Bethlehem ... Als die Schar der kleinen Sklaven vollzählig war, fragten die Albanesen nach dem Sohn des Häuptlings. Man erwiderte, der Knabe sei tot. Sie lachten ungläubig und drangen, eine tobende Rotte, in unser Haus ein. Da freilich mußten sie es glauben, und ihre hohnvolle Roheit verstummte angesichts der eingesargten wunderschönen Knabenleiche. Mürrisch entfernten sie sich, verließen mit ihrer schreienden Kinderherde das Dorf.
Ich hatte angekündigt, daß nach sechs Stunden der Häuptlingssohn erwachen werde. Um Mitternacht, als die Frist um war, versammelten sich Scheich Awad und seine Angehörigen in dem helldunklen, von den vier flackernden Totenlämpchen schlecht erleuchteten Raum. Und viele Dorfbewohner, geweißt von Mondlicht, standen vor der offenen Tür draußen, blickten mit glühenden Augen zu uns herein. Sie alle erwarteten das Wunder von mir; – ich selbst erwartete es von mir ... Nein, von Gott. Ich zweifelte keinen Augenblick an der Allmacht des Allmächtigen. Voll Vertrauen auf Seine Hilfe kniete ich neben der Kindesleiche nieder und betete so inbrünstig, wie ich nie in meinem Leben gebetet habe. Wohl zehn Minuten lang kniete ich da in stummem Gebet; dann erhob ich mich, beugte mich über den offenen Sarg, faßte die Kinderhand. Sie war starr und eisig. Eine wahnsinnige Angst packte mich ... Das konnte Gott doch nicht wollen?! ... Von neuem sank ich in die Knie, betete länger als zuvor. Ich haderte mit Gott, daß er mich im Stich gelassen, ich winselte wie ein Hund vor ihm, ich bot ihm mein Leben für das Leben des Kindes an; dann wieder zürnte ich ihm und widerrief mein Zürnen und überredete ihn, den Teufel vor den Teufelsdienern zu beschämen ... Und schließlich schloß ich mein wirres Angstgebet, weil jählings die Zuversicht in mein Herz einzog, Gott werde nunmehr mir beistehn.
Und zum zweitenmal griff ich nach der Kinderhand ... Eis, starrendes Eis! Nicht erhört hatte mich Gott, hatte mir das Wunder versagt! Tot das Kind – und ich sein Mörder!!
Da brach ich schreiend zusammen. Wäre mir das Giftglas in dem Augenblick zur Hand gewesen, ich hätte es ausgetrunken.
In der Mondnacht draußen stimmten Klagefrauen die Totenklage an, schlugen sich die Brüste, rauften sich die Haare.
Der alte Scheich hob mich auf, küßte mich auf beide Wangen und legte seine Hand segnend auf meinen Kopf.
»Auch so bist du sein Retter, und dafür sei gesegnet! ... Einst war den Menschen das Leben ein Glück und der Tod ein Grauen; die Welt hat sich gewandelt, und für uns Heutige ist der Tod ein Glück und das Leben ein Grauen ... Wohl ihm! Er wird nicht als Eunuch in Mosul leben – er lebt jetzt im Paradiese!«