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Die Stimmung ist umgeschlagen zu Gunsten von Don Pietro. Nicht nur bei der lauschenden Menge, auch bei seinen Richtern hat er Sympathien gewonnen durch die chevalereske Art, wie er Faustina das unendlich peinliche Geständnis erspart hat. Einen der Anwesenden besonders erschüttert die unerwartete Wendung, die der Prozeß genommen, – das ist des Prinzen einstiger Fechtlehrer und Erzieher: Messer Agostino Selmi. Sein Verstand, sein Wissen um verborgene Zusammenhänge sagt ihm, daß das Verdikt auf Tod lauten muß, da Don Pietros Unschuld nachzuweisen – einerlei ob mit, ob ohne Faustinas Aussage – unmöglich ist; sein Gefühl aber sagt ihm, daß Pietro nunmehr gerettet ist, nachdem er sich die Neigung – oder doch Achtung – sogar seiner Feinde erwarb ...
Das gleiche fürchten und hoffen viele in diesem Stadium des Prozesses. Und Don Pietro wäre wahrscheinlich freigesprochen worden, hätte nicht das beeidete Zeugnis Agostino Selmis ihn vernichtet.
Ein Schuhmacher aus der Via San Gallo wird als Belastungszeuge aufgerufen. Am Mordtage, obgleich alle Welt des Stiergefechtes wegen sich ins Stadtinnere begeben hatte, war er daheim geblieben, um seine gelähmte Frau nicht allein zu lassen. Wie ausgestorben sei das Stadtviertel der Porta San Gallo gewesen – bekundet der Schuhmacher –; und da die Gassen menschenleer waren, seien die zwei einzigen Menschen, die er nach der dritten Fanfare (d. h. also während der vierzehnten Stunde) an seinem Hause habe vorbeigehn sehn, ihm besonders aufgefallen, – um so mehr als sie nicht auf dem Wege zur Piazza di Santa Maria Novella waren, wo der Stierkampf stattfand, sondern in entgegengesetzter Richtung gingen. Der zuerst kam, hatte das Gebaren und die Kleidung eines mediceischen Prinzen. Offenbar ohne sein Wissen, wurde er vom zweiten, der ungefähr fünfzig Schritt hinter ihm herschlich, verfolgt und beobachtet. Als jener das Haus La Delfinas betreten hatte, blieb dieser unschlüssig stehn, kehrte um und entfernte sich geschwind.
»Woran meint Ihr erkannt zu haben, Messer Sennuccio, daß der Voranschreitende ein mediceischer Prinz war?« fragt der Giudice processante den Schuster. Der entgegnet:
»Am Tressenhut, am Taffetwams, an den Strümpfen, an den Schuhen, Euer Gnaden. Solche spanische Tracht – schwarze Steppseide, die Strümpfe olivengrün – das gibt es nur im Palazzo Pitti. Kein Florentiner würde wagen, sich zu kleiden wie Seine Eccellenza Illustrissima und seine illustren Söhne. Vor allem fielen mir die mit dunkelroten Granaten verzierten Schnallenschuhe auf.«
»Waren es die gleichen Schnallenschuhe, wie Ihr sie da an den Füßen des Angeklagten seht?« fragt der Vorsitzende.
»Genau die gleichen, Euer Gnaden! Auch dieselben Strümpfe.«
»War sein Antlitz durch eine Maske verdeckt?«
»Nein, Euer Gnaden.«
»Glich der Mann dem Angeklagten? Betrachtet ihn Euch! Gebt keine übereilte Antwort!«
Lange Zeit blickte der Schuster den Prinzen an. Die Geräusche im Saal verstummen; alle harren gespannt.
Nervös und höhnisch grinsend erträgt Don Pietro eine Weile die Besichtigung. Doch der Teufel in ihm hat schon allzulange sich als Seraph verstellt und lechzt danach, sein wahres Gesicht zu zeigen. Er knirscht:
»Bist du bald fertig? Habe ich Hühneraugen auf der Nase, Schuster?«
Und plötzlich streckt er ihm die Zunge heraus.
In schallendes Gelächter bricht ein Teil der Zuhörer aus. Es sind meist Floridi – die Gegner der Stravaganti –, die lachend ihre Freude darüber kund tun, daß Don Pietro sich soeben Sympathien verscherzt hat. Seine Freunde blicken beklommen drein, auch Donna Faustina. Der Vorsitzende erteilt den Lachern eine Rüge, straft den Prinzen mit einem gestrengen Blick und schüttelt unwillig den silberweißen Greisenkopf.
Endlich sagt Messer Sennuccio:
»Ja, – jener Mann hatte ein ähnliches Gesicht und genau solch einen Spitzbart. Auch seine Gestalt war ebenso groß.«
Der Vorsitzende nickt:
»Es ist gut, Messer Sennuccio ... Doch bleibt noch. Ihr sollt gleich einem andern Zeugen gegenübergestellt werden, der das Gegenteil aussagen wird.«
Viele Hälse recken sich neugierig, als der Wirt Semprebene vorgerufen wird. Er ist als Entlastungszeuge geladen. Die Frage des Vorsitzenden an ihn lautet:
»Ihr saht während des Stierkampfes den Angeklagten an Eurer Taverne vorbeigehn? Und Ihr saht, daß ihm ein Mensch in einiger Entfernung folgte?«
»Letzteres ist richtig, Euer Gnaden. Richtig ist auch die Beschreibung, die Messer Sennuccio von den beiden Männern gemacht hat. Der Vorausschreitende war gekleidet wie ein junger Medici. Es war aber nicht Don Pietro.«
Eine starke Bewegung geht durch die Reihen der Zuhörer. Der Vorsitzende fragt:
»Woraus schließt Ihr das, Messer Semprebene?«
»Daraus, Euer Gnaden, daß jener Prinz – (falls er kein Karnevalsprinz war) – bedeutend kleiner und schmächtiger war als Don Pietro. Ich kann wohl behaupten: er war einen Kopf kleiner.«
»Das Gericht wird mich um einen Kopf kleiner machen, damit ich jenem gleiche!« höhnt Don Pietro. Und wieder ertönt Gelächter. Er hat diesmal die Lacher auf seiner Seite.
Das aber – wie gleichfalls die Aussage des Wirtes – läßt den Procuratore generale befürchten, das edle Wild könnte den Tatzen der Anklage entschlüpfen. Darum fährt er mit auffallender Schärfe den Tavernenwirt an:
»«Wollt Ihr etwa damit andeuten, daß der Doppelgänger des Angeklagten dessen jüngerer Bruder Signore Don Gracia gewesen sei? Bedenkt, welche ungeheuerliche Verleumdung über Eure Lippen kam, und überlegt Euch, welche unausdenklichen Folgen es für Euch haben kann, wenn Ihr aus Freundschaft für den Angeklagten – (er war ja erweislichermaßen ein ständiger Gast Eurer Weinstube!) – falsches Zeugnis ablegt und auf einen Schuldlosen den Mordverdacht lenkt, um den Schuldigen zu entlasten!«
Doch Semprebene läßt sich nicht einschüchtern. Ruhig und fest erklärt er:
»Ich sprach die Wahrheit. Jener Mann trug sich wie ein Prinz – doch er war kleiner und schmächtiger als Don Pietro! Der Signore, der heimlich hinter ihm herging, kann bezeugen, was ich bekunde; und ich hoffe, er wird es sogleich tun.«
Bei diesen Worten richtete Semprebene den Blick auf Agostino Selmi, der in der vordersten Reihe der Zuhörer steht. Selmi wird dunkelrot, rührt sich aber nicht von der Stelle und macht keine Anstalten, die Bekundung des Wirtes zu bestätigen.
»Seid Ihr imstande, Messer Semprebene, uns seinen Namen zu nennen?« fragt der Vorsitzende.
»Es wäre mir lieber, Euer Gnaden, er würde sich freiwillig melden. Da er dazu den Mut nicht aufbringt – – –«
»Ihr lügt, Semprebene!« schreit Agostino Selmi. Er eilt aus der Zuhörermenge an den Zeugentisch heran. Zitternd und bleich vor Erregung – nicht vor Furcht – steht er dem Wirt funkeläugig gegenüber und ruft:
»Ihr lügt, Semprebene! und Ihr habt gelogen!«
Die Spannung im Gerichtssaal wird unerträglich. Rätsel über Rätsel! Wie konnte ein Höfling vom Rang eines Selmi sich dazu hergeben, als Beobachter hinter dem Prinzen herzuschleichen? Warum hat er bis jetzt geheimgehalten, daß er über die Vorgänge in jener Stunde Bescheid weiß, – besser Bescheid weiß als andere? ...
Keiner der Anwesenden freilich vermag zu ahnen, was in Selmis Seele vorgegangen ist, während mit Blicken und Worten der Wirt sein Zeugnis heischte. Dem einstigen Priester und Buschklepper Selmi ist Mutlosigkeit fremd: gezaudert hat er, an den Zeugentisch zu treten, weil widerstreitende Gefühle in seinem Innern einen erbitterten Kampf ausfochten. Er liebt Don Pietro, doch er liebt Don Gracia noch mehr. Denn tatsächlich ist er es, der vom Schuster und vom Tavernenwirt erblickt wurde, als er dem jungen Sohn des Duca bis zur Wohnung der Kurtisane nachschlich. Wenn er anfangs an Gracias Schuld noch gezweifelt hat, so ist ihm jegliche Möglichkeit zu zweifeln geschwunden, seitdem er in der Klosterkirche San Felice vernommen hat, was Don Gracia zum Kruzifix sprach, und seitdem er im Boboligarten mitangesehn hat, daß der von Reue zerquälte Knabe, der Sinne beraubt, zu Boden fiel, als Giuliano die Erdolchung Violettas beschrieben hatte. Ebenso wie Faustina hat auch Selmi Don Pietros erlittene Kerkerpein auf dem Gewissen. Ebenso wie Faustina hat er seit Februar sein furchtbares Geheimnis verschwiegen. »Es ist der grausamste Fluch, zum Schweigen verurteilt zu sein!« hatte er am Morgen des Maifestes zu Benvenuto Cellini gesprochen ...
Jetzt reicht das Geschick ihm hilfreich die Hand, seine Seele vom Fluch zu reinigen, sein Gewissen zu entlasten. Doch im Augenblick, da er es tun will, wird ihm klar, daß es ihm unmöglich ist. Er kann den schönen, liebreizenden, vergötterten Knaben nicht ans Henkerschwert liefern; – ehe er das tut, will er lieber seinem Gewissen eine neue, größere Schuld aufladen, den älteren Prinzen (obgleich der ihm gleichfalls ans Herz gewachsen ist) opfern und sich selbst dazu, die ewige Seligkeit durch einen Meineid verscherzend.
Er wendet sich an den Giudice processante:
»Ich – Agostino Selmi – bin es, den die beiden Zeugen beobachtet haben.«
»So ist es wahr, Messer Selmi, daß Ihr dem Prinzen gefolgt seid?«
»Ja, Euer Gnaden.«
»Und warum folgtet Ihr ihm?«
»Weil mir Gerüchte zu Ohren gekommen waren, Don Pietro sei nachts auf dem Kirchhof von den Negern der Fürstin Lodovica Malaspina angeschossen worden, sei aus der Stadt verschwunden, sei unauffindbar. Edle Herren, Ihr werdet verstehn, daß ich mich um ihn sorgte, – er war ja einst mein Zögling gewesen. Nun erblickte ich von weitem einen Mann, der – so viel die große Entfernung mir festzustellen erlaubte – ihm auffallend ähnlich sah. Ich eilte ihm nach. Bevor ich mich aber vergewissern und ihn anreden konnte, war er ins Haus der Dichterin La Delfina hineingegangen. Da kehrte ich um.«
»Messer Agostino! es geht um meinen Kopf!« ruft Pietro beklommen. »Wollt Ihr behaupten, daß Ihr mich saht?«
»Der, den ich sah, war Euch vollkommen ähnlich, Don Pietro! Gott strafe mich, wenn ich Falsches sage!«
»Doch vorhin hat Messer Semprebene uns mitgeteilt,« – bemerkt der Vorsitzende – »daß jener Unbekannte klein und schmächtig war, – beträchtlich kleiner als der Angeklagte. Wie erschien er Euch?«
»Muß ich die Frage beantworten?«
»Ihr müßt, Messer Selmi!«
»Nun, dann werde ich, so schwer es mir wird, die volle Wahrheit sagen. Er war groß und stattlich.«
Unheimlich still ist es im Gerichtssaal. Triumphierend strahlt das Gesicht des Procuratore generale, während er ein goldenes Kruzifix hinhält:
»Beeidet Eure Aussage, Messer Selmi! Legt die Hand auf das Herz des Erlösers!«
»Messer Agostino! vernichtet Eure Seele nicht!« ruft Pietro.
Doch Selmi leistet den Eid.
»Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, daß ich die reine Wahrheit sprach!«
Da heult Don Pietro auf vor Wut; und dann schreit er:
»Wieviel zahlt Euch mein Vater für diesen Meineid, Messer Agostino? ...«
Wie fließendes Wasser kann auch die fließende Zeit vereisen und kristallhaft erstarren. Im Dornröschenschloß ist jegliches der Macht des Werdens und Vergehns – (und folglich auch des Verfalls) – entrückt und von den Rosenranken überwuchert. Auf dem Domplatz zu Pisa blühn zwar keine Rosenranken, dafür ist er überwuchert von Grasbüscheln, die zwischen den Pflastersteinen hervorlugen und vom Winde bewegt werden. Ein wenig traurig im Winde wenn sie wie alles Gras, das über Gräbern wächst. Denn das Grab einer versunkenen Kultur ist dieser heilige Ort, wenn auch die eingesargte Schönheit unversehrt und wie lebend zu schlummern scheint. Wer dort zwischen dem Campo santo, dem Baptisterium, dem Dom und dem schiefen Turm steht, gewahrt eine Versteinerung der Zeit, kristallisiertes Mittelalter, mit Fingern greifbare Vergangenheit.
Engelteufel oder Teufelengel müssen die Erbauer gewesen sein, die jahrhundertelang durch Blut wateten, jahrhundertelang diesen einzigartigen, mädchenhaft graziösen und madonnenhaft innigen Marmortraum emporführten; die den Campo santo mit dem Triumph des Todes schmückten; und den schiefen Turm – (obgleich er, als kaum erst die zweite Säulengalerie erbaut war, sich zu senken begann) – weiterführten sieben Stockwerk hoch bis zu seiner Vollendung: ein mißratenes, berückendes Weltwunder.
Nie aufgehört hat der Turm, sich zu senken; kein Zweifel, daß er eines Tages wird stürzen müssen. Mag sein, daß deshalb – um unter den niederfallenden Marmorblöcken nicht begraben zu werden – der benachbarte Palazzo Arcivescovale nicht unmittelbar neben dem ihm zugeneigten Campanile steht.
Im 16. Jahrhundert hatte der erzbischöfliche Palast einen von hoher Mauer umgebenen, bis zur Via S. Eufrasia reichenden Park. Hätte am Tage nach der Verurteilung Don Pietros der Glöckner den schiefen Turm zur Mittagszeit erstiegen, so hätte er, über die Parkmauer blickend, eine merkwürdige und gar nicht bischöfliche Schaustellung bewundern können.
Dem achtzehnjährigen Erzbischof von Pisa, Kardinal Don Giovanni de'Medici, hatte vor ungefähr einer Woche der in Rom lebende Kardinal Odescalchi die briefliche Mitteilung gemacht: er werde Anfang Juni sein Gast in Pisa sein. Für den Aufenthalt des römischen Gastes waren prunkvolle Festlichkeiten vorgesehn. Unter anderem hatte der junge Erzbischof beschlossen, den einflußreichen Kardinal – (dessen Fürsprache bei der Kurie und beim Wiener Kaiser Cosmos Königstraum fördern konnte) – durch Schaugepränge zu erfreuen, ihm lebende Bilder mit dürftig bekleideten Mädchen vorzuführen. Dem senilen Kirchenfürsten wurde nämlich eine Vorliebe für kleine Mädchen nachgesagt, – eine Leidenschaft, der er in Rom unter den Augen des rigorosen Papstes Pius IV. nicht frönen konnte.
Das Motiv zu einem der lebenden Bilder war dem Triumph des Todes entnommen und wurde an diesem Vormittage im Garten des erzbischöflichen Palastes geprobt. Die Anregung stammte von Pietro Lorenzettis Bild im Campo santo her, doch war eine getreue Wiedergabe nicht beabsichtigt, vielmehr sollte die von der Sense des Todes bedrohte Gruppe der Lebensfreudigen eine zügellose Orgie darstellen.
Zwischen zwei hohen Pinien und vor der schwarzgrünen Blätterwand einer Lorbeerhecke saßen auf einer langen vergoldeten Holzbank Ritter und Edeldamen, andere lagerten zu ihren Füßen auf dem Rasen, hockten, knieten oder blickten, flach am Boden ausgestreckt, zum Himmel empor. Die Brokatgewänder enthüllten die anmutigen Körper, die sie hätten verhüllen müssen. Jünglinge, auf deren Schöße Mädchen saßen, schlürften Wein mit ihnen, aßen Früchte mit ihnen; und sei es musizierend, sei es Geigen und Harfe lauschend, umarmten sie die Schönen, küßten sie, drückten sie zärtlich an sich. Über ihnen aber war zwischen den beiden Pinienstämmen ein daumendicker Kupferdraht gespannt, über den ein Rad von einem Baum zum andern rollen konnte. Die am Rand befestigte Maschinerie – (die erdacht war, einen deus ex machina zu tragen!) – hatte man mit Laub verdeckt; – sichtbar nur war ein darunter horizontal schwebender, den Tod darstellender Mensch. Während er über den nichtsahnenden Lebensgenießern dahinflog, zielte seine Sense nach der Schönsten der Schönen.