Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Während der Nacht schlich ich in die Rüstkammer und wählte mir eine Muskete nebst Kugeln und Pulver. Mit einem Jagdmesser, das ich dort gleichfalls an mich nahm, gelang es meinen gehemmten Händen (wenn auch erst nach langem Mühen), das scheußliche Maskenkostüm aufzuschlitzen, so daß ich mich aus dem Balg herausschälen konnte.
Mein Entschluß stand fest: ich wollte Violetta töten.
Doch unmöglich war es gewesen, Violetta im Palaste zu erschießen. Ich hätte unter den sie bewachenden Mädchen ein Blutbad anrichten müssen ... – und selbst dann hätte ich keine Gewähr dafür gehabt, daß die verschlossene Kammer sich mir öffnen würde.
Ich sah ein, daß ich die Tat außerhalb des Bergpalastes ausführen und in dieser Nacht noch – (je eher desto besser) – hinausfliehen müsse, um in einem Hinterhalt an der Straße lauernd den Moment abzuwarten, daß Violetta zu den Aussätzigen fortgeschafft werde.
Dreifach verriegelt waren für mich die Tore in dieser Nacht, kein Torwächter hätte gewagt, mich hinauszulassen. Zum Glück kannte ich ein Gewölbe, von wo aus ich in den zerstörten Teil des Palastes gelangen konnte und von da ins Freie.
Viele Tränen des heiligen Laurentius fielen aufglühend am mondloser Himmel, den Karlswagen sah ich um den Polarstern kreisen und im Morgenlicht verbleichen. Bald nach Sonnenaufgang trabte auf einem mächtigen Rappen ein Reiter an mir vorüber dem Gebirgsschloß zu. Hinter der hochragenden Kaktushecke am Wegrande, wo ich versteckt saß, konnte er mich nicht erblicken, – ich aber betrachtete ihn mir genau, seinen grauen Spitzbart, seine Stülpnase, seinen fetten Nacken. Kein Zweifel, daß dies der von der Marchesa bestellte Regierungsarzt war. Kein Zweifel, daß er, bestochen von ihr, den Aussatz Violettas bestätigen werde ... Trotzdem kam mir der Gedanke gar nicht, die Muskete auf ihn zu richten. Was hätte es auch genützt, ihn unschädlich zu machen, – genug andere bestechliche Beamte standen ja der Marchesa und ihrem Golde zur Verfügung.
Doch das wurde mir erst nachträglich klar; – nicht hieran dachte ich, während er an mir vorbeiritt. Träume, die ich von mir gescheucht, die ich an mich nicht herangelassen hatte in dieser furchtbaren Morgendämmerung, umlungerten mich wie hungernde Wölfe; – und eben hatte ein Hauch von Ermattung mich ihnen ausgeliefert. Ich befand mich – wenn auch nur eine Sekunde lang – im Banne einer Vision. Früher als den Reiter hatte ich das schwarze Pferd erblickt. Kannte ich nicht diese wütenden, funkenstiebenden Hufschläge? War das nicht der tote, dem Meer entstiegene König Pfauhahn, der schwarze Teufel, der dort schnaubend und schneeig schäumend auf mich zu trabte? Er wuchs gigantisch zu einem apokalyptischen Roß, schrumpfte dann näher kommend zusammen, und ich wurde des Gaukelspiels meiner Müdigkeit inne.
Roß und Reiter waren ins Schloß eingeritten, das konnte ich von meinem Versteck aus sehn. Mehr als eine Stunde verging. Da öffnete sich das Palasttor. Der Arzt auf seinem Rappen und die Contessa Violetta auf einem Falben verließen das Schloß. Die Zügel des falben Pferdes hielt der Venezianer fest um die Hand gewickelt; das war, wie wenn er eine Sklavenkette hielte ... An Fenstern und auf Altanen schauten verweinte Mädchen der Scheidenden nach; die Hände ringend, aufwimmernd, schluchzend riefen sie ihrer verlorenen Freundin Abschiedsworte hinab.
Näher und näher kamen die beiden Reitenden heran. Meine Hand zitterte nicht; – ich entsinne mich, daß ich mich darüber wunderte, wie ruhig meine Hand die Muskete hob, wie sicher mein Auge auf Violettas Brust zielte. Nie und nimmer wäre der Schuß fehlgegangen, hätte nicht plötzlich der Rappe des Arztes einen Seitensprung gemacht. Wahrscheinlich war von ihm das Blinken des Flintenlaufes bemerkt worden, und das hatte ihn geschreckt. Und da die Zügel des Falben in der Hand des Venezianers waren, wurde auch der Falbe zur Seite gerissen. Verwirrt zielte ich noch einmal auf Violettas Brust. Und jetzt schoß ich. Doch statt sie zu treffen, verletzte ich den Arzt an der Schulter.
Sie wandte sich nach mir um. Sie hatte mich erblickt, hatte begriffen – – doch schon setzten die beiden Pferde den Weg fort in wildem Galopp. Von Selbstvorwürfen zermalmt, war ich überzeugt, es sei keine Rettung mehr für Violetta möglich. Da aber geschah etwas, was ich und wohl niemand hätte voraussehn können. Etwa fünfhundert Schritte von mir entfernt machten die Pferde an einem Bache halt, und ich sah, daß der Venezianer abstieg, seine Schulterwunde zu waschen und zu kühlen. Dabei hielt er noch immer die Zügel beider Pferde. Plötzlich steigt der Rappe kerzengerade empor, reißt sich los, und zugleich mit seinen Zügeln entgleiten auch die Zügel des Falben der Faust des Arztes. Geistesgegenwärtig reißt im Nu Violetta ihr Pferd herum und saust windschnell die Straße zurück auf mich zu. Mit leerem Sattel galoppiert der Rappe neben ihr her.
Dicht vor mir hält sie an und es glückt ihr, die Zügel des Rappen zu haschen.
»Steige auf den Rappen, Giuliano! Schnell! Begleite mich, beschütze mich! Hilf mir, noch eine kurze Frist zu leben – ich bin ja so jung, Giuliano!«
Ich schwang mich in den Sattel, und wir galoppierten am verwundeten Venezianer vorbei; – er konnte unsere Flucht ins Leben nicht verhindern.
Der höchste Berg der Insel, der Troodos, hat eine nach Westen steil abfallende Felswand, die durchlöchert ist von Todeswohnungen. In Reihen nebeneinander und in Reihen übereinander bis hinauf zum Gipfel sind ins weißgelbe Felsgestein Totentore gemeißelt, schlichte und pomphafte, verfallene und noch gut erhaltene, kleine und große. Durch solch eine mit Ornamenten, Karyatiden und Fabelwesen verzierte Seitentür tritt man in eine Kammer, die, in einem Sarkophage liegend, einst ein Toter bewohnte. Doch schon vor zwei Jahrtausenden wurden die Sarkophage frevelhaft entweiht, wurden leergeplündert, und heute hausen nur noch Füchse, Schlangen und Uhus in den Felskammern. Die Cyprioten aber – noch immer des Glaubens, es müßten, wo Heiden begraben liegen, Gespenster umgehn – meiden diesen schwer zugänglichen öden Teil des Gebirges.
Und gerade deshalb suchten Violetta und ich Schutz in einer dieser Todeswohnungen. Wir gehörten ja beide bereits dem Tode an. Der Unerbittliche, dem wir verknechtet waren, hatte uns eine kurze Schonfrist von wenigen Tagen gewährt, damit wir ein letztesmal – und wären es auch hundert letzte Male noch – mit lebenstrunkenen Augen die Herrlichkeit der Welt genössen, die Farbengluten genössen des Himmels und der Wolken, der anemonenroten Bergkuppen und Täler, des smaragdenen Grases, der Blumen, der Prachtkäfer, der Schmetterlinge und der Süße unserer ineinanderschmelzenden Leiber. Ein mit Blättern gefüllter moosgrüner Sarkophag war unser Ehebett – oh! wir hätten es für kein seidnes Purpurbett eintauschen mögen! Zu selig waren wir, unsere Seligkeit unselig zu nennen; zu sehr einverstanden mit unserem todgeweihten Glück, die Unentrinnbarkeit – die unsere Ehe geschlossen und gesegnet hatte – zu beklagen. Wohin auch hätten wir entrinnen sollen? Eine hohe Belohnung hatte die Behörde für unsere Festnahme ausgesetzt; und selbst wenn der Tod Mitleid mit unserer Jugend gehabt hätte, – Venedig hätte kein Erbarmen gekannt ...
Es kommt nicht darauf an, hundert Jahre miteinander zu leben. Jahre schwinden, aber Sekunden bleiben. Mehr wert als hundert Erdenjahre sind die seltenen Himmelssekunden, die man zu den Sternen empor jubiliert und jauchzt, den Tod im Herzen! ...
So sprach Violetta oft zu mir. Und auch das sagte sie mir oft mit strahlenden frohen Augen:
»Meine Tante, die Schlangenfrau, hat mich dir verkuppelt, gegen ihren Willen, mein Lieb. Die Haare würde sie sich raufen, könnte sie sehn, wie selig wir dem Tode dienen! ... Ein letztes höchstes Glück schuldest du mir noch, Giuliano ... Das muß mir deine böse liebe Hand geben, sobald sie kommen! ...«
Und eines Tages kamen sie ... Erstarrend sahn wir die venezianischen Soldaten die Felswand emporklimmen, unsere hochgelegene Totenwohnung umstellen. Violettas dünne Arme umklammerten mich, sie hauchte:
»Wir haben es ausgekostet, Geliebter! Mehr Freuden hätte uns ein langes Leben nicht schenken können! Habe Dank!«
Tränenlos blickte sie mir in die Augen. Und während unsere Münder verloren sich küßten, gab ihr meine Hand das letzte höchste Glück, um das sie mich gebeten hatte: mein Jagdmesser stieß ich ihr durch die Kehle ins Herz hinein. Noch ehe ich aber auch mein Herz durchbohren konnte, sprangen die eben eintretenden Soldaten auf mich zu, entrissen mir die Waffe, fesselten mir die Hände. Über den Sarkophag hingestreckt lag Violettas Leiche unsäglich schön und rührend da ... Meiner Hände Werk! Und plötzlich wurde mir bewußt, daß mein Schicksal sich gleichblieb trotz verschiedener Gestalt: das Pferd, den Häuptlingssohn und nun dieses unglückliche Mädchen hatte ich aus Mitleid umgebracht ...«
Giuliano verstummte. Er hätte noch mancherlei von seinen weiteren Erlebnissen auf Cypern zu erzählen gehabt, doch an diesem Abend kam er nicht mehr dazu. Durch ergriffenes Schweigen hatten ihm seine Zuhörer gedankt; so tief war die Stille, daß man die Nachtfalterflügel an die Glaslilien der Windlichte schlagen hörte. Sich die trocken gewordenen Lippen zu netzen, griff Giuliano nach dem vor ihm stehenden Weinglas, – da, in diesem Moment geschah es, daß Don Gracia die Besinnung verlor und wie leblos vom Stuhl herabglitt; schon seit einer Weile hatte er mit halbgeschlossenen, nach oben gedrehten Augen dagesessen. Sforza Almeni, Traiano Bobba und Agostino Selmi stürzten sofort hinzu, knöpften sein Wams auf, befühlten seinen fliegenden Puls, sahn, daß ihm auf Stirn und Wangen Schweißtropfen perlten. Es war Sforza Almeni, der als erster die Vermutung äußerte: Don Gracia sei an Sumpffieber erkrankt. Und Agostino Selmi widersprach ihm nicht, obgleich er eine weniger harmlose Erklärung für die Ohnmacht zu haben gewiß war ... Von den drei Höflingen wurde der Bewußtlose aufgehoben und weggetragen, um zu Bett gebracht zu werden. In großer Sorge um seinen Liebling begab sich auch Cosmo in den Palast.
Allein am Tisch zurückgeblieben waren Giuliano und Faustina. Nicht des jungen Prinzen wegen flammten Faustinas Augen so irrlichthaft; mochte er Fieber haben, so gab es ja Ärzte, ihn zu heilen. Wie eine Traumbilderreihe war an ihrem Geist vorbeigeglitten, was eben geschah; daß der Knabe zu Boden fiel, daß ein Wirrwarr um ihn entstand, daß man ihn aufhob und wegtrug, – sie hatte es gesehn und doch kaum gesehn. Allzusehr war sie erfüllt von Giulianos Erzählung, sie konnte sich von Cypern und Violettas Leiche so schnell nicht trennen, konnte zur Wirklichkeit so schnell nicht zurückfinden.
Eine ganze Weile saß sie stumm Giuliano gegenüber und starrte gebannt ihn an. Doch dann kam ihr zum Bewußtsein, daß sich das für sie nicht schicke. Sie erhob sich, um zu enteilen. An ihm vorbeigehend, nickte sie ihm einen Gruß zu, kühl und steif, wie die spanische Hofetikette es vorschrieb.
Er erwiderte den Gruß und sagte:
»Ich bin morgen nicht mehr in Florenz. Gott sei mit Euch, Signorina!«
Sie hatte schon einige Schritte dem Palast zu getan. Jetzt blieb sie verwirrt, mit sich kämpfend, stehn, kehrte um und setzte sich auf einen Stuhl neben ihn.
»Ihr wollt fort? ... Weiß es der Duca?« fragte sie leise und hastig.
»Nein, Signorina ... Wenn Ihr mich nicht verratet ...«
»Er behandelt Euch wie einen Prinzen. Er selbst war es, der die kleine Albizzi als Verleumderin entlarvt hat, er selbst holte Euch aus dem Kerker ... Seid Ihr so undankbar? ... Oder seid Ihr einer seiner vielen Todfeinde?«
»Denkt das nicht von mir, Signorina! Ich werde ihm immer dankbar sein! Glaubt mir: ich liebe ihn, als wäre er mein Vater! ... Und eben deshalb will ich verhindern, daß er einen Justizmord begeht.«
»An wem?« (Faustinas Stimme klang unsicher.)
»Am Mörder der La Delfina ...«
»Das ist Don Pietro! ... Alle Welt weiß, daß er es war!« rief sie erregt, und ihre Wangen färbten sich purpurn.
»Wißt auch Ihr es, Signorina, daß Don Pietro den Mord beging?«
Jählings erblaßte sie und schwieg. In ihren Blicken flackerte Angst und Feindschaft ... Er erfuhr also vom blauen Schmetterling? Sie wäre fähig gewesen, ihn zu vergiften in diesem Moment, – aber auch fähig, ihm schluchzend in die Arme zu sinken; ihm, dem heiligen Menschen, ihr sündiges Herz zu zeigen, Trost und Hilfe von ihm zu erflehn.
»Ich wollte Euch nicht erschrecken, Signorina. Niemand – außer Gott – weiß, wer La Delfina umgebracht hat. Vielleicht war es ein anderer als Don Pietro. Diesem andern will ich nachgehn, und ich glaube zu wissen, wo ich ihn finden werde!«
»Hat man Euch zum Verteidiger Pietros bestellt? Seid Ihr sein Freund?«
»Nein, Signorina. Er haßt niemand so sehr wie mich und – Euch ... Nicht seinetwegen werde ich handeln – sondern um Schmach und Schuld vom Pittipalast abzuwenden; denn ich liebe Cosmo und ...«
Er vollendete den Satz nicht. Doch sie verstand, was er unausgesprochen gelassen hatte.
Sie erhob sich, nahm sich eine Rose aus dem Haar, küßte die Rose und reichte sie ihm. Und dann eilte sie in den Palast.