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3

Den Weg durch das nachtdunkle Florenz hat nunmehr Gracia ohne Zwischenfall zurückgelegt, – kohlschwarz ragt vor ihm die zyklopische Fassade des Palazzo Fiordespini empor. Nicht schwer fällt es dem turngeübten Knaben, an den Rustica-Quadern hinaufzuklimmen bis zu dem im ersten Stockwerk gelegenen Zimmer Tollas. Während er den blühenden Akazienzweig am Fensterkreuz befestigt, öffnet sich das Fenster, und nur mit einem Nachthemd bekleidet, lehnt sich die kranke Tolla zu ihm heraus, schlingt die nackten Arme um ihn und bittet ihn flüsternd, zu ihr hereinzusteigen. An ihren glühenden Wangen und fiebrigen Worten merkt er, daß sie kränker ist, als er dachte. Wie gern auch er der Aufforderung folgen möchte, er versagt es sich aus Rücksicht auf sie und ihren fast lunatischen Zustand; mit vielen Koseworten lehnt er es ab. Doch sie hört nicht auf zu drängen: die Gelegenheit sei so günstig, da ihre alte Wärterin, die im Nebenzimmer wachen sollte, eingeschlafen sei.

Er steigt zu ihr hinein. Erfröstelnd legt sie sich in ihr Bett. In einer Tasse auf dem Tisch schwimmt ein kleines Nachtlicht auf Öl, dessen gespenstischer Schatten über alle Dinge im Raum einen gelblichen Schleier breitet, sie kaum, kaum sichtbar und zugleich unwirklich macht, – so unwirklich wie sonst nur Mondschein die Welt verzaubert. Gracia hat sich auf den Bettrand gesetzt. Und plötzlich ist ihm, als sähe er Tolla zum erstenmal, als sähe er zum erstenmal, wie namenlos traurig, wie schmerzensbleich sie ist. Als ob sie seine Gedanken erriete, zwingt sie sich zu lächeln. Ihre Zähne sind weiß wie Schnee, ihre Lippen, eben noch fieberrot, sind elfenbeingelb geworden, – müde ist ihr Lächeln, hoffnungslos, eine Todesahnung.

Und zu scherzen versucht sie: getreuer als er sei ein Traum von ihm, der Nacht für Nacht sie besuchen kam anstelle seiner. Schmollend klagt sie, daß sie ihn so lange nicht sah, daß er erkaltet sei gegen sie.

Vor ihren Händen, die sich demütig nach ihm ausstrecken, vor ihren lechzenden Lippen weicht er zurück, obgleich ihm bewußt ist, daß in Paradies und Hölle nichts diesem herrlichen Munde gleichkommt. Da wirft sie ihm Feigheit vor: er fürchte die Ansteckung des Sumpffiebers, er fürchte, krank zu werden durch ihre Küsse! ...

Das bricht seinen Widerstand. Er verbringt die Nacht bei ihr.

Allzuspät, fast schon bei Tageshelle verläßt er sie.

Auf der Gasse begegnen ihm mehrere Maskierte; schnell will auch er sich unkenntlich machen, merkt aber zu seinem Schrecken, daß er seine Gesichtsmaske bei Tolla liegen gelassen hat. Daher wird er von jenen erkannt, während er nicht weiß, wer sie sind, die hinter ihm her höhnend seinen Namen rufen.

4

Wie die meisten Friseure seit den Zeiten Simsons, des tragischen Verächters ihrer Kunst, war auch der barbitonsore Messer Aliprando ein Berichterstatter, ein Reporter, durch dessen redseligen Mund die Tagesneuigkeiten – in Ermangelung von Zeitungen – den Weg ins Publikum fanden. Seine Geschwätzigkeit und Zungengeläufigkeit hielten der Antonio Martellis die Waage, nur daß ihm der Bilderreichtum des Kleinen Walfisches abging.

Er gehörte zum Dienertroß des Palazzo Pitti. Einzig und allein für die Mitglieder des Herzogshauses war er da, – niemals hätte er seine geheiligte Schere an anderen Haaren profaniert. Und selbst die geringe Zahl der von ihm täglich Verschönten war neuerdings zusammengeschrumpft – denn Don Francesco, der älteste Sohn des Duca, weilte am Madrider Hof (wo er die arte de prudencia: die Kunst, eleganten Hochmut zu zeigen und Gedanken zu verbergen, erlernte), und Don Pietro ließ hinter Kerkermauern Bart und Locken ins Kraut schießen. Daher beschränkte sich Messer Aliprandos Tagesarbeit darauf, Cosmo, Don Gracia und dem vierzehnjährigen Don Ernando die Haare zu stutzen, zu waschen und zu bürsten.

An diesem Maitag war er früher als sonst zum Duca und zu Don Ernando gerufen worden. Als dann, parfümiert, gestutzt, geschniegelt der älteste und der jüngste Medici den Festtrubel zu betrachten sich in die Stadt begeben hatten, stand Messer Aliprando im Vestibül herum, gewärtig, zu Don Gracia beschieden zu werden. Da erfuhr er von einem Pagen: Don Gracia sei spät von einem Ball heimgekehrt, wünsche auszuschlafen und habe angeordnet, daß man ihn nicht vor neun Uhr wecke.

Das ließ sich der Haarkräusler nicht zweimal sagen, – beglückt eilte er auf die Straße. Ihm blieben ja drei Stunden, sich im Festgewühl umherzutreiben, sich das Aufrichten und Erklettern der Maibäume, das Umherziehen der Maikönigin und ihrer blumengeschmückten Gefährtinnen anzuschaun und im Vorbeigehn wie ein geschickter Taschendieb Neuigkeiten einzuheimsen.

Pünktlich um neun Uhr betrat er das Ankleidezimmer Don Gracias, bewaffnet mit Haarbürste, Kamm und Schere. Zu echauffiert und mitteilungsbedürftig war er, als daß ihm das übernächtige Aussehn des Prinzen auffiel. Während er, die Schere geräuschvoll auf- und zuklappend, zu schneiden begann, erwähnte er wie beiläufig, es habe sich etwas ganz Unerhörtes zugetragen, – begab sich jedoch sofort auf ein anderes Gleis, indem er sich mit großem Wortschwall in Lobpreisungen über den guten Geschmack der Frauen von Florenz erging, die zur diesjährigen Maikönigin Donna Faustina erwählt hatten. Und unvermittelt sprang seine Rede über auf Cosmos angekündigten Kopfsprung in den Arno, – den ersten in diesem Jahr.

Es war ein Kunstgriff des Friseurs, daß er mit nichtssagendem Geschwätz begann, um dann unversehens eine Sensation wie eine Bombe ins Gespräch zu werfen.

»Weiß Euer Gnaden, was es bedeutet, wenn man einer Jungfrau statt einer blühenden Maie eine scheußliche Strohpuppe ans Fensterkreuz hängt?«

»Nein. Was bedeutet es denn?«

»Daß die Jungfrau schwanger ist. Zu Hohn und Schimpf wird die Vogelscheuche angebracht, damit die am Hause Vorbeigehenden erfahren, daß es dort stinkt. In meiner Jugend habe ich zuweilen – doch immer nur in den ärmeren Stadtvierteln – so einen Popanz zwischen Mond und Erde baumeln gesehn. So lange aber Florenz steht, ist es gewiß nie vorgekommen, daß man einer adligen Damigella eine Strohpuppe ans Palastfenster gehängt hat, – wie es heute früh geschah.«

»Wo ...?«

»Am Palazzo Fiordespini. Nicht wahr, man möchte es gar nicht für möglich halten! Welch eine Schmach für die stolze Familie! Aber Leute, die es wissen können, haben mir versichert, daß tatsächlich Donna Tolla de'Fiordespini schwanger ist.«

Don Gracia erstarrte. Von einem Spartanerknaben wird berichtet, daß er, um einer Strafe zu entgehn, sich die Brust und die Eingeweide zernagen ließ durch einen Fuchs, den er gefangen hatte und versteckt unter seinem Mantel trug; – daß er Leber, Lunge und Herz von Fuchszähnen zerfleischen und zerfressen ließ, ohne mit einem Laut, einer Bewegung oder dem Ausdruck seines Gesichtes die tödlichen Qualen zu verraten. So stoisch vermochte auch Gracia zu sein. Seine Seelenqual war ein gespenstischer Fuchs, der ihm die Brust zerriß; – doch von seinem Vater hatte er die Fähigkeit geerbt, mit einem unenträtselbaren Monalisa-Lächeln auf den bewegungslosen Lippen Unmenschliches zu ertragen. Sein Instinkt dachte geschwinder und weiter, als in diesem Moment sein Verstand hätte denken und überlegen können: um sein und der Geliebten Leben ging es; – verriet er sich, so verriet er sie ...

»Saht Ihr mit eignen Augen die Strohpuppe, Messer Aliprando?«

»Freilich – so leibhaftig wie ich Euer Gnaden sehe. Und mit eignen Ohren habe ich gehört, was man sich vom Vater des schwangeren Fräuleins erzählt: erdolchen wollte der Wüterich die Ärmste.«

Grausam beißen die Zähne des Fuchses ins Herz des Knaben – doch in gleichgültigstem Tone fragt er:

»Von wem hörtet Ihr das, Messer Aliprando?«

»Von einem Reitknecht, der vor dem Haustor stand. Töten wollte der Alte die Donna Tolla. Doch ihre Mutter hat es verhindert: er dürfe dem Tod nicht in den Arm fallen, dem die Tochter vielleicht sowieso verfallen sei – (sie ist nämlich an Sumpffieber erkrankt). Nun will der Alte erst die Genesung des Fräuleins abwarten und will sie dann in ein Frauenkloster schaffen ... Was sagen Euer Gnaden zu solchem Skandal? Eine Dame aus so vornehmem Hause! – Ist es menschendenkbar? Der Reitknecht erzählte mir auch, wer sie ins Unglück gebracht hat.«

Noch immer lächeln die schönen Lippen des Knaben.

»Wer hat die Dame ins Unglück gebracht?«

»Der Karneval –: der sucht sich alljährlich ein Opfer unter den Schönsten – sagte mir der Reitknecht ... Wie es mit ihr bestellt war, sei längst zu sehn gewesen, meinte er; nur die sahn es nicht, die es am meisten anging ...«

5

An diesem Maimorgen trat ein ärmlich gekleideter alter Mann aus einem Hause, das zu ebner Erde eine Goldschmiedewerkstatt und einen Laden hatte, in die Borgo de'Greci genannte Gasse hinaus. Vom Juwelierladen waren es nur wenige Schritte bis zur Piazza di Santa Croce, wo der nächste Maibaum stand. Der alte Mann humpelte gebückt, auf einen Stock sich stützend, Santa Croce zu. Seinen hungrigen Augen wollte er einen Schmaus gönnen, mußten schon seine Hände heute ruhen. Des Maifestes wegen hatte ja der junge reiche Goldschmied, bei welchem der alte Mann arbeitete und wohnte, für den heutigen Tag die Werkstatt sowohl wie den Laden geschlossen. Auf Käufer und Besteller war ohnedies an einem Festtag nicht zu hoffen, – weniger noch als sonst.

Der Alte im zerschlissenen Rock war Benvenuto Cellini. Einst hatten Könige, Kardinäle und Päpste mit ihm wie mit ihresgleichen verkehrt; und – mehr als das, – der König der Könige, il gran Michelangelo divinissimo, hatte ihn in sein düsteres Herz geschlossen. Erst acht Jahre war es her, daß Cellini der Welt seinen Perseus geschenkt hatte, – der Welt und seiner Vaterstadt Florenz. In die Wolken war er gehoben worden von den Florentinern, von seinem Gönner Cosmo und sogar von seiner schönen Widersacherin, der damals noch gesunden Duchessa Eleonora. Es gab damals in der Stadt kein Kind, das den berühmten Meister nicht kannte, keine Jungfrau, die nicht mit strahlenden Augen ihn anblickte, keinen Nobile, der nicht ehrfurchtsvoll den Hut vor ihm zog.

Ein Absturz aus solcher Höhe wäre ein Ikarus-Schicksal gewesen, tragisch und schmerzvoll – aber nicht trostlos wie der allmähliche, unaufhaltsame Abstieg in schmutzige Dürftigkeit. Für den in zehnjähriger Arbeit entstandenen Perseus hatte Cellini zehntausend Scudi gefordert. Cosmo jedoch feilschte – er, dem kurz zuvor ein Smaragd aus Java 200 000 Scudi d'oro wert gewesen war. Nur der dritte Teil der Forderung wurde Cellini bewilligt, d.h. versprochen – denn auf den Tisch gezahlt erhielt er den Betrag nicht und mußte sich mit kleinen Ratenzahlungen zufrieden geben. Und da diese nicht immer pünktlich erfolgten, nahm er sich heraus – hitzig und maßlos wie er sein Lebtag gewesen –, nicht den Säckelmeister, sondern den hohen Gönner, Sua Eccellenza Illustrissima, zu mahnen. Darüber kam es zu Verstimmungen und schließlich zum Bruch.

Ein Landstreicher und Messerheld, genialer Stilist und gottbegnadeter Erzgießer, der die Gastfreundschaft von Königen genossen und an königlichen Prunk gewöhnt war, hatte Cellini niemals zu rechnen verstanden. Die spärlichen Zahlungen des Duca sickerten ihm wie Sand durch die Finger. Aufträge blieben aus. Das Haus, das ihm Cosmo geschenkt hatte, mußte verkauft werden. Die auf herrlichen Irrfahrten gesammelten Kunstschätze und Köstlichkeiten wanderten zum Geldverleiher. Um nicht zu verhungern, wurde der große Bildhauer ein kleiner Goldarbeiter und kehrte in den Morast zurück, aus welchem er – vor mehr als vier Jahrzehnten – wie ein meteorhelles Irrlicht aufgestiegen war. Er endete, wo er als Knabe begonnen hatte, Goldblech und Golddraht mit dem Grabstichel punzend und stanzend. Aber eine eigene Werkstatt sich einzurichten erlaubte ihm seine Armut nicht. Es war schon Glücks genug, daß ihm der junge Juwelier im Borgo de'Greci ein Hundeloch zum Schlafen und einen Amboß zum Hämmern vermietete.


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