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Nicht alle Menschen haben ein Schicksal. Denn großes Leid ist wählerisch, sucht sich Auserwählte. Wer aber leidvoll sich rühmen darf, ein Gezeichneter zu sein, wird über die rätselhafte Erscheinung staunen, daß sein Schicksal, mag es auch viele Gestalten haben, das gleiche bleibt und sich ständig wiederholt ...
An eine berüchtigte Bucht hatte das Meer mich getragen. Ahnungslos schlief ich dort, dicht bei den Ruinen der Stadt Paphos, deren sündige Pracht durch ein Erdbeben zertrümmert ward. Mit Blumen im Haar kamen einst die cyprischen Mädchen hinab an den Strand, die dort landenden Fremden – phönikische, griechische, ägyptische Seefahrer –, Lieder singend, zu begrüßen und schamlos sich ihnen preiszugeben. Kythere war die Insel der Liebe. In Amathus und Paphos standen Astartes reichste Tempel. Paphos war der Mittelpunkt einer purpurnen Welt; einer Welt, die erst bei Glockengeläut für immer versank.
Das Kreuz scheuchte die jungen Sirenen vom Gestade; aus den Trümmern der Sündentempel wuchsen Kirchen, Kapellen und Ritterburgen empor. Veit von Lusignan tauschte den Thron Jerusalems für den Thron Cyperns ein. Als der Letzte seines Geschlechts gestorben war, wurde dessen Witwe, die ›Tochter Venedigs‹, Catarina Cornaro, nach Hause gerufen und abgefunden – und seitdem prangt an allen Staatsgebäuden der geflügelte Markuslöwe. Doch nicht erst mit den venezianischen Garnisonen hatten sich aus allen Gauen Italiens herstammende Ansiedler in Cypern zusammengefunden, um mit Kupfererz, Baumwolle, Zedernholz, Hanf oder Wein Handel zu treiben. Auch italienische Rittergeschlechter lebten auf der Insel; – mancher Burgherren Ahnen waren schon zur Zeit der Kreuzzüge hier seßhaft geworden; andere kamen als politische Flüchtlinge, Emigranten, und suchten sich eine neue Heimat.
Eine anmutigere Heimat hätten sie sich kaum wählen können. Zauberhaft sind die zerklüfteten Felsküsten, an denen das Meer mit saphirblauen Zungen leckt, sind die Zedernhaine, die Cypergras-Wiesen, das mit Weinrebengirlanden übersponnene fruchtbare Land. Man könnte denken: ein Paradies! ... – gäbe es nicht einen düstern Wald auf der Insel, einen Ort des Grauens: das Gehege der Aussätzigen ...
Wie lange ich schlafend auf dem Ufersand gelegen habe, weiß ich nicht. Ich erwachte, weil ich ein silbernes Lachen hörte. Die Steinstufen einer Felstreppe herabspringend, kam eine Schar junger Mädchen zum Meergestade, begleitet von einer alten maurischen Sklavin. Mich bemerkten sie nicht, Binsen verhehlten mich ihren Blicken. Schuhe und Strümpfe zogen einige aus, kühlten sich watend die Füße, bückten sich nach Muscheln; andere warfen ihre Kleider ab und badeten nackt; andere setzten sich auf niedrige Strandklippen, die Hände um die Knie geschlungen, die Augen voll unbewußter Sehnsucht auf ein ockergelbes Segel am pfauenblauen Horizont gerichtet. Auf der untersten Stufe der Felstreppe zupfte ein musikalisches Kind eine Mandoline und sang eine schwermütige Melodie, zu deren Takten drei der Mädchen einen Reigen aufführten.
Das alles geschah ganz schemenhaft. Mit offenen Augen meinte ich Traumbilder zu schauen und – der eignen Not noch nicht recht bewußt – ersehnte ich nichts so sehr, als daß dieses zarte Luftgespinst meines Schlafes niemals zerreißen möge. Allzubald geschah das dennoch. Schrille Schreie erschollen und verdüsterten das traumhafte Gemälde. Auf schaumweißen Wogenzungen stapfend und nach Muscheln sich bückend, hatten sich zwei der Mädchen ziemlich weit von ihren Gefährtinnen entfernt und waren jetzt jähling stehngeblieben. Ihre Schreie und ihre Angstgebärden verrieten, daß sie eine grausige Entdeckung gemacht hatten. Das eine Mädchen kam eilends dahergelaufen, während das andere die Fundstelle nicht verließ und einen gespenstischen Angreifer abzuwehren schien. Die Badenden stiegen aus dem Wasser, die Mandoline verstummte, der Reigen brach ab, – alle umringten die Atemlose, die, herangekommen, sich an die vornehmste der Tänzerinnen wandte und, wie eine Untergebene, ihr Meldung erstattete.
»Signorina Violetta! dort liegt ein Toter, ein Schiffbrüchiger! ... Und denkt doch, wie schauerlich: als Nella und ich ihn entdeckten, nagte ein Schakal an seiner Hand ... wir mußten das Tier mit Steinwürfen verjagen.«
»Weißt du bestimmt, daß er nicht mehr lebt?«
»Bestimmt, Contessina! Der Schmerz an der zerbissenen Hand hätte ihn ja wecken müssen ...«
»Wir dürfen ihn dort nicht lassen, Marietta ... Wir müssen ihn hinauftragen.«
»Wohin, Signorina?«
»Wo Menschen wohnen und wo nicht Schakale wohnen!«
Eine, die gebadet hatte und noch immer nackt neben der Contessa Violetta stand, sagte, scharlachrot bis an die Brüste vor Zorn:
»Wir sind nicht Eure Mägde, Contessina! Das dürft Ihr von Euren Freundinnen nicht verlangen! Keine von uns will eine Leiche anfassen!«
»Verlange ich es denn, Raffaela? ... Aber will keine von euch mir helfen, wenn ich ihn trage?«
»Wir alle!« rief eine große Schwarzlockige. »Wer von uns würde zulassen, daß du ihn trägst, Violetta!«
»Ich würde es zulassen!« lachte Raffaela, »denn die Contessina denkt gar nicht daran, sich die Finger zu verunreinigen. Mich will sie mit ihrer Güte strafen!«
»Das ist nicht Güte, Raffaela, wenn ich ihn den Schakalen nicht preisgeben will ...«
»Du hättest das Herz, es zu tun, Violetta! Nur hast du nicht Totengräberfinger, – wir alle haben keine ... Doch ist denn das nötig? Laß uns alle lieber hinaufgehn, es der Marchesa erzählen, damit sie Leute schickt, die ihn bestatten!«
So wurde es beschlossen. Während die Nackten in ihre Kleider schlüpften, eilten die andern ihnen voraus der Felstreppe zu. Als Contessina Violetta mehrere Stufen hinaufgestiegen war, wandte sie sich um – und jetzt bemerkte sie mich. Im selben Augenblick nämlich hatte ich mich auf dem Ufersande bäuchlings, wie eine Schlange gleitend, etwas vorgeschoben, vom brennenden Wunsche getrieben, über die Binsengräser hinweg meinen toten Leidensgefährten zu sehn.
Violetta stieß einen Schrei der Verwunderung und der Freude aus:
»Seht doch – dort! ein zweiter! ... Und dieser lebt!«
Die Mädchen umringten mich. Violetta kam auf mich zu, tränenlächelnd wie eine Heilige.
Zu schwach war ich, mich zu erheben; der Versuch mißlang, ich brach zusammen und lag vor ihr da, ein hilfloses, kraftloses Bündel Fleisch und Knochen. Zerfetzt war meine Kleidung, Tang und Sand klebten an mir. Meine Schwäche, meine Bettlerhaftigkeit, meine Unsauberkeit wurde mir zur Pein angesichts der blumenhaften Reinheit der Contessa.
»Womit können wir Euch helfen, Signor?« fragte sie teilnahmsvoll mit leiser Stimme. »Ihr seid gewiß sehr hungrig.«
Sie winkte der alten maurischen Dienerin, die einen Eßkorb trug. Sie bot mir ein Glas Wein an. Gierig trank ich es aus. Das Brot, das sie mir reichen wollte, verweigerte ich.
»Mir ist der Hunger vergangen, Signorina, seitdem ich weiß, daß dort einer liegt ... einer, den die Engel des Himmels nicht heil über das Meer getragen haben wie mich! ... Wenn Euch der Himmel gesandt hat, mir zu helfen, so helft mir, zu ihm zu gehn!«
Vergebens suchte sie es mir auszureden: zu schwach und krank sei ich noch, der Anblick des Todes werde mir schädlich sein ... Ich aber bestand auf meinem Begehren. Mühselig richtete ich mich auf. Zur Rechten Violetta, zur Linken eine ihrer Freundinnen, meine Arme auf ihre Schultern gestützt, schleppte ich mich am Strand entlang bis zur Stelle hin, wo der Ertrunkene lag. Angst schnürte mir die Kehle zu, je näher wir herankamen. Als ich vor dem Toten stand, erkannte ich Norfolk, meinen gütigen Pflegevater ...
Mir schwanden die Sinne.
Das Schloß, worin ich, ein Genesender, – nach zwei Monaten Fiebernot und Lethargie – die Augen aufschlug, war im dreizehnten Jahrhundert ein kleiner Königspalast gewesen. Freudenglanz, Stürme und Tränen hatten die alten Steine gesehn, gar manche Prunkgewänder hatte die Motte Zeit zerfressen. Die eine Hälfte des kleinen Palastes war Ruine, war durch einen Brand zerstört worden. Um so seltsamer wirkte der unversehrte, noch bewohnte Teil, überschattet – doch nicht in Schatten gestellt – von den ragenden Ruinenmauern, ein altertümliches Juwel aus Kreuzfahrerzeit, melancholisch wie ein an eine Leiche geschmiedetes Lebewesen.
Als nach Catarina Cornaros, der letzten Königin, Abdankung die Venezianer die meisten Krongüter verkauften, erwarb ein Markgraf Pasolini aus Castignola bei Faenza den Bergpalast mitsamt der Ruine. Das war vor drei Menschenaltern gewesen. Da aber der Markgraf wie seine Söhne als Condottieri zeitlebens in Feldlagern der Lombardei, Tunesiens, Flanderns hausten, verödete und verfiel ihr cyprisches Schloß. Erst die jetzige Besitzerin, die Marchesa Isotta Pasolini, ließ den bewohnbaren Teil wohnlich einrichten, so daß auch die Innenräume schmuck wurden, wahre Schmuckkästchen.
Die Marchesa Isotta war eine stattliche Frau von über vierzig Jahren, groß, knochig, hager. Man sah ihr an, daß sie aus einem Geschlecht von Feldherren stammte: etwas Herrisches hatte sie an sich – (doch ich will nicht ungerecht sein) –: auch etwas Königliches. Weder schön noch hübsch konnte man sie nennen – zu scharf sprang die fleischige Nase vor, zu dünn preßten sich ihre Lippen aufeinander. Herrlich erschien mir nur ihr rostfarbenes Haar, das, wenn sie es löste, ihr bis an die Knie hinabreichte. Sie war eine nach Menschen Hungernde, und nie ist ihr Wolfshunger gesättigt worden. Verheiratet war sie gewesen mit einem zwanzig Jahre älteren Hauptmann, dem Conte di Bragadino; doch schon gleich nach einem schwärmerischen Honigmond hatte sie ihren Mann davongejagt und den Namen ihres Vaters wieder angenommen. Zerfressen von Leidenschaften, litt ihre Seele, das spiegelte sich in ihrem Gesicht und in ihren Blicken, und nicht einmal die Mühe gab sie sich, es zu verbergen. Ihren schmalen Hals hielt sie stets vorgestreckt wie einen Geierhals, – ja oft erinnerte sie mich an einen nach Leichen lechzenden düsteren Geier.
Vor Jahren, bald nach ihrer mißglückten Heirat, hatte sie sich mit Jünglingen umgeben, hatte Liebhaber gehabt. Denen war es nicht anders ergangen als ihrem Gatten, enttäuscht wies sie allen die Tür. Neuerdings hielt sie sich einen Hofstaat von adligen jungen Mädchen. Sie bezahlte sie nicht, sie beschenkte sie überreichlich; nicht als Dienerinnen, als ihre Gäste wohnten die Mädchen bei ihr. Kindliches Lachen, Reigen und Musik sollten – so hoffte sie – ihr alterndes Herz erhellen. Auch das erwies sich als Illusion. Einige der Anmutreichsten verließen sie; die einen wegen der Stille des abgelegenen Bergpalastes; die andern flohn erschrocken, weil die Marchesa ihre Schönheit andichtete, wie einst Sappho die Schönheit der Mädchen Mytilenes ... Bloß eine hielt bereits das vierte Jahr bei ihr aus, das war die Contessa Violetta da Gambara, eine verarmte Waise und Nichte Isottas, von dieser aus Mitleid an Tochterstelle angenommen.
Sofort, nachdem die Leiche Norfolks und mein zwar atmender, doch für lange fieberumnachteter Leichnam in den Bergpalast gebracht worden waren, hatte sich die Marchesa Isotta meiner wie einer Beute bemächtigt. Ihre Seele, der hungernde Geier, glaubte nun endlich, sich ersättigen zu können. Sie pflegte mich während meiner langwierigen Krankheit, sie wich nicht von meinem Bett und eifersüchtig wachte sie darüber, daß keines der jungen Mädchen das Zimmer des Kranken – ihres Kranken – betrat. Für alle enttäuschten Sehnsüchte ihres Lebens erwartete sie von mir die Erfüllung. Meine Jugend, meine Hilflosigkeit, mein Gesicht hatte es ihr angetan; auch wußte sie, wer ich war, wußte mehr über mich, als ich selbst über mich wußte und weiß ... Erst später erfuhr ich, auf welche Weise das Rätsel, das ich mir selber bin, von ihr gelöst wurde: sie hatte nämlich die Kleider Norfolks durchsuchen lassen; eine Ledertasche und darin einige Dokumente waren in ihren Besitz gelangt. Eines davon, obgleich vom Meerwasser durchnäßt und schwer lesbar, sagte aus über meine Geburt ...«
Zum erstenmal wieder nach langem, aufmerksamem Lauschen unterbrach der Duca den Erzähler:
»Was verriet das Schriftstück über dich, Giuliano? Spanne unsere Neugier nicht länger auf die Folter!«
»Ich habe es nie erfahren, Eccellenza. Und selbst die Tatsache, daß ein solches Dokument vorhanden und von der Marchesa gelesen worden sei, erfuhr ich nicht früher als wenige Tage vor meiner Flucht aus Cypern und nachdem sich längst die Tragödie abgespielt hatte, von der ich jetzt berichten muß. Damals, nach meiner Genesung, teilte mir Marchesa Isotta bloß mit, daß sich im Wams des Ertrunkenen ein Ferman des Sultans vorgefunden und außerdem ein Brief, aus welchem man die Namen der Neffen Norfolks habe feststellen können; daraufhin habe Bragadino – der Generalissimus der cyprischen Truppen – den englischen Gesandten in Venedig benachrichtigt, damit dieser den Verwandten des Lords es nahelege, den Sarg nach England überführen zu lassen.
Mit meiner Genesung begann ein neues Leben – sowohl für mich wie für Isotta. Nicht mehr an meinem Krankenbett konnte sie wachen und bewachen; doch nur der Schauplatz hatte gewechselt, und – wo ich ging und stand – sie wich nicht von meiner Seite. Ihr Eigentum war ich, ihre Spielpuppe, ein Ding, über das sie allein verfügen durfte, – ebensosehr ihrer Mütterlichkeit unentbehrlich wie ihrer Mannstollheit. Nicht genug konnte sie sich von fremden Völkern und Ländern erzählen lassen; denn in den Landschaften, den Menschen, den Geschehnissen, die ich beschrieb, sah sie ausschließlich mich, ihren Helden: ich war für sie der weiße Elefant, ich war die Trauer von Persepolis, ich war der vergiftete Knabe, ich war das Pferd König Pfauhahn. Sie verhätschelte mich, als wäre ich ein kleines Kind, beschenkte mich, kleidete mich wie einen Edelmann, und sie duldete es nicht, daß ich mit einem der jungen Mädchen sprach. Einmal beim gemeinsamen Mittagsmahl schweiften meine Augen hinüber zu Violetta. Unsere Blicke begegneten sich, hatten Mitleid miteinander und schlossen Freundschaft. Es war wie ein Kuß, ein verstohlener Kuß ...