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An der Piazza di San Marco – dem Kloster Savonarolas gegenüber – befand sich das bescheidene einstöckige Häuschen Antonio Martellis, den man den Kleinen Walfisch nannte. Das Erdgeschoß wies nur zwei Räume auf: eine Wohnstube und eine Küche. Im ersten Stockwerk waren zwei Schlafkammern: eine für den Kleinen Walfisch und eine für sein schwachsinniges Töchterchen Cammilla Martelli.
Daß er ein Kind bei sich beherberge, wußte kein Mensch in Florenz. War ihm, dem verlotterten Begründer des Stravaganti-Klubs, dem gutartigen Zyniker und Schwätzer, nichts heilig auf Erden – sein Geheimnis war ihm sakrosankt, hochheilig, mehr als heilig. Kein Gierblick eines seiner Saufkumpane durfte je die Lichtgestalt, die sein Heim erleuchtete, streifen. Sie davor zu bewahren, zu verhüten, daß gewalttätige Wüstlinge ihr Affenwerk mit seinem Idol trieben, hatte viel Mühe, Wachsamkeit und List erfordert. Weil zu befürchten war, das schwachsinnige Mädchen könnte in Gesprächen mit Nachbarsleuten das Geheimnis ausplaudern, hatte er seit Jahren die Straße zu betreten ihr verboten und hielt sie abgeschlossen von der Welt wie ein Tierlein im Käfig.
Doch keine Gitterstäbe hatte ihr Käfig. Wenn sie nie sein Verbot übertrat, so geschah es, weil sie ihn liebte und weil ihre Leichtgläubigkeit sein Lügenmärchen wörtlich hinnahm, alle Menschen – (deren sie ja viele Tag für Tag durchs Fenster erblickte) –, alle Menschen seien Folletti, d. i. Kobolde, böse Geister; und bloß das Paradies sei von guten Wesen bewohnt.
Als an diesem Tage die Abenddämmerung hereinbrach, zog der Kleine Walfisch aus einem ledernen Beutel ein Feuerzeug heraus, zündete eine Öllampe an und gab seiner Cammilla Tanzunterricht. Sie war acht Jahre alt und glich einem der reigenden, goldgebadeten Engel des Beato Angelico in San Marco.
Bei einem Besuch im Kloster hatte ihn die Ähnlichkeit verblüfft und auf den Gedanken gebracht, Cammilla zur Tänzerin auszubilden. Was hätte er sie sonst auch lehren sollen, sie, die schöne Blöde, welcher Rechnen und Sprachen den Kopf ermüdeten, während doch ihre zierlichen Gliedmaßen mühelos zu schweben verstanden, als wäre sie eine kleine Fee. Diabolo plena – eine Besessene – war sie; und besessen tanzte sie, als hätte sie den Teufel im Leibe.
Und er sang zu ihren Tanzschritten das Lied des Jacopone da Todi, welches Fra Angelico die Vision seines Bildes eingegeben hatte:
Una rota si fa in cielo
Di tutti i Santi in quel giardino,
Là ove sta l'amor divino
Che s'infiamma de l'amore ...
Der Türklopfer an der Haustür erdröhnte. Es war ein ungewohntes Geräusch in dieser vereinsamten, nie von Besuchern entweihten Wohnung. Wer konnte es sein, der da Einlaß heischte? Und gar zu so später Stunde ...! Sehr beunruhigt horchte Martelli auf. Als wieder ein Schlag ertönte, schob er Cammilla im flitterhaften Tänzerinnenkleidchen, wie sie war – ein Tanzschleier blieb auf dem Fußboden liegen –, in die dunkle Küche, nahm die Lampe und ging in den Flur, die Tür zu öffnen.
Herein trat eine hochgewachsene rabendunkle Gestalt. Eine Kutte, schwärzer als Teer, deckte sie von den Sohlen bis zum Scheitel und ließ nur die Augen durch zwei runde Löcher blicken. Auf der Brust war ein Bild des Gekreuzigten gestickt, auf der Mundgegend ein kleines Bild der Mater Dolorosa. An der Tracht erkannte Martelli, daß der Gast ein Almosenpfleger, einer der zwölf Prokuratoren der Compagnia di San Martino, sei. Die zwölf Buoni uomini di San Martino hatten sich's zur Pflicht gemacht, in Not geratenen Adeligen, verschämten Armen, zur Seite zu stehn, sie aufzusuchen, Lebensmittel, Kleider und Geld an sie heimlich, ihren Stolz schonend, zu verteilen. Ihre segensreiche Tätigkeit fand so sehr Cosmos Beifall, daß er ihnen – schon vor Jahren – einen namhaften monatlichen Beitrag hatte zur Verfügung stellen lassen und sogar selber einer der zwölf Prokuratoren geworden war. Freilich beschränkte er sich nicht auf Armenpflege, wenn ihn zuweilen die Lust anwandelte, die teerschwarze Kutte umzutun: als einer der »Guten Leute von San Martino« konnte er wie Harun al Raschid umherstreifen, umherhorchen, in Häuser und Herzen seiner Florentiner hineinblicken ...
Der Kleine Walfisch hob, um besser zu sehen, die Lampe empor. Umhüllt war des Eintretenden Antlitz, doch durch die beiden Löcher funkelten zwei helle herrische Augen ihn an. Fast wäre ihm die Lampe aus der Hand gefallen. Wie ein Blitzstrahl durchzuckte ihn die Erkenntnis: der Gast war niemand anders als der furchtbare Duca.
Schlotternd bat der Kleine Walfisch den Unheimlichen in die Wohnstube. Und so verwirrt war er, daß er die Haustür zu schließen vergaß.
Ohne sein schwarzes Visier zu lüften, nahm Cosmo in einem Lehnsessel neben dem Kaminfeuer Platz. Martelli blieb fassungslos vor ihm stehn, ein in Angstschweiß gebadeter armer Sünder. Sein vorhängender Bauch zuckte, sein dreifaches Unterkinn schwappte. Wenn er sonst abbondantissimo di parole war, – in diesem Augenblick hatte ihn das Grausen mit Stummheit und Stumpfheit geschlagen.
Cosmo begann, indem seine behandschuhte Hand auf Martellis Gitarre und den am Boden liegenden Tanzschleier zeigte:
»Kalter Schweiß, Messer Antonio? Vestigia terrent! War ich ein Freudenstörer? Wer hat hier getanzt?«
Kein Humor, keinerlei Gutmütigkeit milderte die gestrenge Frage. Martelli wurde flammenrot vor Verlegenheit und Angst. Sein so sorgsam gehütetes Geheimnis war nahe daran, verraten zu werden. Sollte die Existenz seines Töchterchens verheimlicht bleiben, so mußte er dreist lügen, den Duca belügen. Ihm zeigte sich kein anderer Weg. Und um leichter lügen zu können, suchte er Deckung hinter seinem gewohnten Redeschwall, der nun urplötzlich ihm die eingetrocknete Zunge löste.
»Daß ich es gestehe, Vostra Eccellenza Illustrissima, – auch die Dickleibigen werden von Herrn Amor bedrängt. Auch die ergrauten Feisten. Weiß man denn, wieviel Jahre Adam auf dem Buckel hatte, als er Eva zart, delikat, fein, zärtlich und subtil fand? Weiß man denn, ob er sich nicht ein Bäuchlein angemästet hatte vor lauter Nichtstun unter den schattenspendenden Parkbäumen Edens? ... Die Fässer des Guten und des Bösen haben nebeneinander Platz in jeder Mannesbrust, wäre sie auch silberbehaart ... Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, wie jener indianische Gockelhahn, der sich für ein Murmeltier ausgab. Aber wem schade ich denn außer meiner Geldbörse, wenn ich mich mit einer Venuspriesterin, einer armen Freudenjungfer, einer Rosetta oder Lisetta oder Biancabella delektiere, die tanzend in der Luft schwebt wie Mohammeds Eisengrab? Wen schädige ich, wenn ich meine Dukaten und mein Lumpenleben mit einer Terpsichore oder zweiten Salome vergeude, verjubele, verschwende, verjuckere, verschleudere, vertue und durchbringe – – –«
»Genug, genug, Messer Antonio! Halte den Sturzbach auf! Deinen Insensati magst du solchen Wulst und Schwulst in die Ohren stopfen. Mir fehlen die Ohren und die Zeit für deine Rhetorik ... Meine Frage verlangte keine Antwort; denn daß du ein alter Sündenknecht bist, wußte ich auch ohne dein Geständnis. Absolvo te! ... Jetzt aber will ich auf meine Fragen nichts als ein schlichtes Ja oder Nein hören ... Daß ich deinen Bruder Guglielmo Martelli, den Mitschuldigen Filippo Strozzis, vor dem Henkertod bewahrt habe, das weißt du noch?«
»Ja, Vostra Eccellenza.«
»Auch du warst damals angeklagt. Im Prozeß spieltest du den Possenreißer so gut, daß deine Richter – und sogar ich – über dich lachen mußten. Wir ließen dich laufen. Seither hast du, aus Furcht, ernst genommen zu werden, den erkünstelten Tollhaus-Stil beibehalten. Doch zum Fürsten, zum Dichter und zum Hanswurst muß man geboren sein. Mich hast du nie getäuscht: ich habe deine komische Maske und auch die Gutartigkeit deiner Possen immer durchschaut ... Schon einmal kam ich, mir deinen Dank einzufordern. Das war, als ich meinen Sohn Don Pietro sich selbst und seinem himmlischen Strafer überließ; – denn ich selbst wollte sein Strafer nicht sein ... Du entsinnst dich?«
»Ja, Vostra Eccellenza.«
»Damals bat ich dich, ihm (ohne daß er es gewahr werde) ein Führer am Abgrund zu sein. Mochte er ungestraft buhlen, trinken, fluchen, raufen; – aber von Verbrechen solltest du ihn zurückhalten. Du tatest es?«
»Ja, Vostra Eccellenza.«
»Bis heute war es vielleicht nicht allzuschwer. Doch es könnte geschehen, daß er für diese Nacht ein Verbrechen plant ... Einer unserer Diener fing Worte seiner Trinkgesellen auf ...«
»Ja? ...«
»Die Fürstin von Florenz, Madama Eleonora, begab sich heute eines Gelübdes wegen in die Grabstätte der Medici. Madama Eleonora hat ihre wertvollste Perlenkette der Madonnenstatue dort als Weihgeschenk für die Errettung ihrer Söhne an den Arm gehängt. Einen Wachtposten auf den Kirchhof zu stellen, unterließ ich: es würde eine Kränkung für meine Gemahlin bedeuten, da sie des Glaubens ist, die Gottesmutter sei mächtig genug, sich selber gegen Diebe zu wehren. Auch ich glaube, daß das bronzene Gittertor der Grabstätte von keinem diebischen Rattenzahn zerfeilt werden kann. Jedoch Don Pietro besitzt einen Schlüssel ...«
»O Eccellenza! Ihr denkt zu schlecht von Eurem Sohn! Wollte Gott, ich stäke nicht im Schlamm wie ein Krokodil, dem man die Tränen nicht glaubt; wollte Gott, ich wäre nicht der dickwanstige, mit Tran gefüllte Walfisch – ich würde den hehrsten Eid leisten: Ihr denkt zu schlecht von Don Pietro! Wollte Gott, ich könnte mit flammenden Zungen reden, um Euer Herz zu erweichen, daß es schmilzt und zerrinnt wie Wachs, Butter, Eis oder Siegellack! ... (Ach, mein verdammter Stil – er fließt über, ob ich will oder nicht ... Euer Herz rühren will ich und statt dessen erbose ich Euch gar! ... Doch glaubt mir: mein Stil sitzt in der Zunge, nicht im Herzen ...) Welch ein harter Vater seid Ihr doch, wenn Ihr annehmt, daß Euer Sohn – – –«
Bei diesen Worten sprang Cosmo ergrimmt auf und schrie mit drohender Stimme:
»Schweig still, du Einfaltspinsel! Wagst du, mir Ratschläge zu erteilen? Verboten wurde dir, mehr zu sagen als Ja und Nein! ... Nichts will ich hören! – Nichts, nichts, nichts! ... Dächte ich unväterlich über meinen Sohn, so würde ich dir befehlen, ihn hinabzustoßen in den Abgrund, statt ihn zu halten – – –«
Cosmo unterbrach sich und starrte nach der Küchentür, die eben leise geöffnet wurde. Auf der Schwelle stand ein hübsches kleines Mädchen. Mit einem Ballettröckchen angetan, glich das Kind einer weißen Glocke. Und zwei Schlägel aus vergoldetem Saffian hatte die weiße Glocke.
Es war Cammilla. Die überlaute Stimme des Fürsten hatte sie hereingelockt. Sie wollte ihrem Vater beistehn. Kindhaft böse sprach sie:
»Der schwarze Teufel soll nicht so schreien! Erlaube ihm das nicht, Vater! Schaffe ihn hinaus!«
Der Kleine Walfisch hielt sich für verloren. Belogen hatte er den Duca, – und die Lüge lag zu Tage ...
Voller Hohn fragte Cosmo:
»Ist dies Jüngferchen die kleine Sünderin, von der du rühmtest, sie schwebe in der Luft wie Mohammeds Eisengrab? Ich fürchte, du selbst könntest bald in der Luft schweben, Antonio, wenn das dem Bargello zu Ohren kommt! ... Ist solche Sünde erlaubt unter Christenmenschen?«
Leichenweiß sank Martelli in die Knie.
»Erbarmen, Eccellenza! Ich habe gelogen! Das Kind ist kein Freudenmädchen, – es ist mein Töchterchen Cammilla.«
»Und warum hast du gelogen, Messer Antonio?«
»Weil ich ... Ach, mein Gott, wie soll ich glaubhaft machen, was so unglaubhaft scheint! ... Weil es ein Geheimnis ist, daß ich eine Tochter habe ... Weil es meine Freunde, die Stravaganti, nicht erfahren dürfen ... Oh, ich kenne ja die Sünder, ich bin ja selbst einer! ... Erbarmen, Eccellenza! Vergebt mit! Verratet den Florentinern mein Geheimnis nicht, hetzt die Wölfe nicht auf dieses Lamm!«
»Dazu wäre allerdings dies Kind viel zu schade ... Deine Cammilla ist lieblich, Antonio; nach zehn Jahren wird sie eine Schönheit sein. Bringe sie mir, wenn sie tanzen gelernt hat ... Groß genug ist mein Palast für eine neue Hofdame ...«
»O Eccellenza!! ... Ihr seid übergnädig! Wie soll ich Euch danken! Laßt mich Eure Hand küssen, Eccellenza! ... Aber – das darf ich Euch nicht verhehlen, Cammilla ist einfältig ... Nicht daß sie blöde wäre – nein, nein, denkt das nicht. Doch sie ist sonderbar, weil sie noch nie mit Menschen sprach außer mit mir; – das hat sie seltsam und kindlich gemacht ... Sie ist eine ›Gauklerin der heiligen Engel‹ – wie das Volk das nennt.«
»Gott liebt die Einfältigen, Messer Antonio! Und warum sollte ich nicht lieben können, was Gott liebt? ... Bringe mir Cammilla, wenn sie heranwuchs.«
»Schicke ihn weg, Vater! Er will mir Böses tun! Ich habe Angst vor dem schwarzen Kobold!«
»Nein, Cammilla, du irrst, er ist kein Kobold, er ist nicht einer von den vielen, die da draußen umhergehn und Kinder stehlen. Ganz im Gegenteil, Cammilla, dies ist einer der Paradiesbewohner, der gütigste der Guten, und ist gekommen, dir und mir viel unbeschreibliches Glück zu bringen. Das Haus, das er betritt, ist gesegnet; – der liebe Gott hat ihn uns gesandt ... Nun aber geh, Cammilla, und störe unser Gespräch nicht länger; – geh in die Küche, spiele mit deiner Katze!«
Sanft faßte er sie an der Hand und führte sie zurück in die Küche.