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Aufsatz in den »Hamburger Nachrichten«. 7.5.1921
Bis zum Weltkriege war gerade die deutsche Nation in hohem Maße eine unpolitische. Einen großen Teil ihrer führenden, starken Persönlichkeiten absorbierte das Wirtschaftsleben in vollem Maße. Ihre Jugend wandte sich in den letzten Jahren in ihren Mußestunden dem körperlichen Sport, aber nicht der Politik zu. In der Außenpolitik zumal war die Zahl derer, die sie mit Interesse verfolgten, nur eine sehr geringe. Bismarcks Stellung hatte schwer auf der politischen Entwicklung gelastet. In berechtigtem Vertrauen auf die unübertroffene Staatskunst des großen Kanzlers hielten selbst die Führer der Fraktionen des Reichstages die Beschäftigung mit der auswärtigen Politik nicht für eine ihnen zufallende Aufgabe. Bassermann mußte sich wiederholt Angriffe der Presse gefallen lassen, wenn er als einer der wenigen zu auswärtigen Fragen das Wort ergriff. So war die Kenntnis derjenigen Persönlichkeiten, die an der Spitze unseres politischen Lebens standen, meist eine oberflächliche, auf Schlagworte aufgebaute, keine intensive, das Wesen der Persönlichkeit erfassende.
Der Krieg hat das geändert. Die militärischen und politischen Führer des Weltkrieges standen in ganz anderer Weise vor dem Urteil des Volkes, das den Kampf um Sein oder Nichtsein erleben mußte. Der Ausgang des Weltkrieges hat die politische Intensität noch gestärkt, und eine Flut von Memoirenliteratur ist in Deutschland entstanden und begierig verschlungen worden. Verteidigungs- und Empfehlungsbücher wechselten mit historisch bedeutsamen. Bethmann schrieb seine Erinnerungen, Tirpitz und Czernin folgten. Von den politischen Führern legten Helfferich, Erzberger und Scheidemann ihre Erinnerungen der Öffentlichkeit vor, die großen militärischen Führer fehlten nicht in diesem Bilde.
Ein Mann, in dessen Hand seit Bismarcks Tod ein großer Teil deutscher Geschicke gelegen hatte, Fürst Bülow, ist in diesen Kreis nicht eingetreten und wird es voraussichtlich auch nicht tun. Zum Regierungsjubiläum des Kaisers hat er Ausführungen beigesteuert, die später erweitert unter dem Titel »Deutsche Politik« erschienen. Sie werden nebst den von ihm herausgegebenen Reden wohl das einzige Dokument seines Wirkens bleiben. Um so dankenswerter ist es, daß Dr. Spickernagel es unternommen hat, uns ein Bild dieses Staatsmannes zu geben. Das im Alster-Verlag (Hamburg) erschienene Buch ist in vielen Richtungen geeignet, die Lücke auszufüllen, die bisher vorhanden war.
In politischen Kreisen wird das Erscheinen des Buches vielleicht die spöttische Frage auslösen, ob es in der Tendenz geschrieben sei, die Persönlichkeit des Fürsten Bülow erneut in die Politik einzuführen. Ich bin überzeugt, daß dem Buch eine solche Tendenz nicht beiliegt, aber ich würde sie nicht angreifbar finden. Wenn etwas den unpolitischen Sinn des deutschen Volkes zeigt, so ist es die Nichtbeachtung der Kraft und der Persönlichkeit des Fürsten Bülow, die Deutschland während des Krieges und jetzt zur Verfügung stand und ihn, den einzigen großen Diplomaten der Vergangenheit, zur Leitung der Staatsgeschäfte nicht mit berief.
Wir nörgeln an ihm herum, weil wir ihn für diese oder jene mißlungene Aktion nach außen und innen verantwortlich machen, fragen aber nicht, unter welchen Hemmungen seine Tätigkeit stand. Wir verlangen als deutsche Philister, daß der Mann an der Spitze genau unsere eigenen Anschauungen und Ideen vertritt, und bestrafen ihn sonst mit der Entziehung unseres Vertrauens.
Aber wenn wir von dieser Philisterauffassung absehen, werden wir uns darüber klar sein müssen, daß sein Name in der Weltgeschichte bleiben wird, begreifen, daß allein die Tatsache seines Hervortretens im Weltkriege an der Spitze Deutschlands von eminenter Bedeutung für unser Geschick hätte sein können. Heute, da wir kaum einen Freund in der Welt haben, da wir verzweifelt den Mangel an Köpfen in unserer Diplomatie beklagen, lassen wir einen Fürsten Bülow als geistigen Rentner in Rom leben, als wenn wir ein Recht hätten, einen solchen Kopf feiern zu lassen. Wäre Spickernagels Buch wirklich ein Ruf nach dem Mann, nach dem Fürsten Bülow, so hätte es auch in dieser Beziehung seine Berechtigung.
Ich kann an dieser Stelle nicht auf die Linienführung Dr. Spickernagels eingehen, darf aber als einer derer, die zwei Kapitel dieses Buches, nämlich die Ära der Blockpolitik und das Verhältnis Bülows zu Bassermann, aus eigener Anschauung kennen, sagen, daß diese Politik einer vergangenen Epoche mir kaum jemals wieder so plastisch vor Augen gestanden hat, als in seiner Darlegung. Sie wirkt deshalb vor allem so plastisch, weil der Verfasser sich nicht vorgenommen hat, lediglich den Fürsten zu feiern, sondern weil er seiner Politik als Kritiker gegenübersteht, darum aber um so mehr berechtigt ist, da anzuerkennen, wo er es für notwendig erachtet.
Zu wenig scheint mir allerdings in der Darlegung ein Moment berücksichtigt zu sein, das man heute vielleicht absichtlich nur leise berührt, weil es schmerzliche Empfindungen der Kritik sowohl wie des Mitgefühls erweckt, nämlich das Verhältnis des Fürsten zu seinem kaiserlichen Herrn. Aus Gesprächen, die Bülow einst mit Bassermann in Norderney pflegte, habe ich einen tiefen Einblick in die Schwierigkeiten der Bülowschen Kanzlerschaft gewonnen. Bülow hat einmal davon gesprochen, man werde das, was er für Deutschland hätte leisten können, nur dann richtig beurteilen können, wenn man sich vorstelle, wie seine Politik gelaufen wäre, wenn er als verantwortlicher Ministerpräsident, gestützt von einer Mehrheit des Reichstages, seine Politik nach seinem eigenen Gefühl hätte durchführen können, wie ein englischer Ministerpräsident unter einer englischen Staatsverfassung.
Bismarck scheiterte an Wilhelm II., und mit diesem Bruch setzt die Epoche des Abstieges der politischen deutschen Geschichte ein. Bülow versuchte mit allen Mitteln seiner Persönlichkeit, den Kaiser seine Wege zu führen, und wußte längere Zeit sich im Besitz der Macht zu halten, konnte das aber nur unter Kompromissen und Nachgiebigkeiten, oft auch unter Kompromissen, in denen er eine Politik decken mußte, der er innerlich widerstrebte. Mit vollem Recht weist Spickernagel darauf hin, daß eine Linie von den Novembertagen 1908 zu den Novembertagen 1918 führt. Die Politik Bülows war die Politik der Evolutionen. Die Blockpolitik schuf zunächst den Nationalen Block mit Einschluß des Freisinns, den er aus seiner Negation löste. Am letzten Tage vor dem Abschied des Fürsten aus Berlin hat Herr von Payer ausgesprochen, daß es das unvergängliche Verdienst des Fürsten gewesen sei, zu diesem Ausgleich der Meinungen beigetragen zu haben. Wäre die damalige Konservative Parteiführung bereit gewesen, Opfer nach anderer Seite zu bringen, welche Entwicklung hätten wir dann vor uns gesehen. Angesichts alles dessen, was wir erlebt haben, erscheint uns der Kampf um die damalige Erbschaftssteuer als ein Sturm im Wasserglas, lächerlich und unwürdig für die Auffassung großer politischer Fragen. Und wenn der schließliche Kampf der konservativen Rechten gegen Bülow nicht seiner Steuerpolitik, sondern seiner preußischen Politik, welche die Änderung des Wahlrechts in sich schloß, galt, so zeigte dieser Kampf noch mehr die fehlende politische Einsicht. Wäre mit einem sozialen Ausgleich in der Steuerfrage die Reform des preußischen Wahlrechts und eine starke Beteiligung bürgerlich-liberaler Kreise in der Verwaltung Hand in Hand gegangen, so würden wir uns auf lange Zeit hinaus vor inneren Parteikämpfen bewahrt haben, während gleichzeitig eine Erstarkung der Sozialdemokratie wie 1912 bei einem Zusammenhalten der bürgerlichen Parteien unmöglich gewesen wäre. Wir brauchten dann im Weltkriege nicht mit 110 Sozialdemokraten im Reichstag zu rechnen und ein Dreiklassenwahlrecht hätte nicht zum Gegenstand innerpolitischer Erschütterungen mißbraucht werden können.
In dem Kampf Bülows für die Idee der Blockpolitik lag auch zugleich die Entwicklung zu einem parlamentarischen System, das in einer ganz anderen Weise für uns geeignet gewesen wäre als das uns durch die Revolution aufgezwungene. Das parlamentarische System hat sich da, wo es besteht, immer durch die Entwicklung ergeben, nicht aber durch Paragraphen, die man in eine Verfassung hineinschrieb. Hätte sich unter des Fürsten Führung die Blockmehrheit in dieser oder in wechselnder Form erhalten, so wäre ohne jede Verfassungsänderung die Stellung des Kanzlers eine so starke gewesen, daß persönliche Neigungen des Kaisers eine zielstarke Politik nicht mehr erschüttert hätten. Bülows Politik war geeignet, eine weitgehende Einigung des Bürgertums herbeizuführen. Im Kampfe gegen die Sozialdemokratie hatte er durch seine Redekämpfe gegen Bebel zu einer weitgehenden Erschütterung der Aufwärtsentwicklung der Partei beigetragen. Wenn man diese Entwicklung in Gedanken fortsetzt, so kann man nicht annehmen, daß sie mit dem Zusammenbruch Deutschlands geendet hätte. Denn wer den Fürsten Bülow kennt, wird überzeugt sein, daß der Weltkrieg uns nicht in der trostlosen politischen Lage gefunden hätte, in der wir im August 1914 standen. Entweder hätte er den Weltkrieg vermieden, so wie er in der ganzen Zeit seiner Tätigkeit sich bemüht hat, Deutschlands Rüstung weiterzuführen, ohne die Gefahr eines Krieges herbeizuführen, oder wenn der Krieg nicht zu vermeiden war, so hätte er ihn anders diplomatisch vorbereitet. Die Kriegserklärung an Rußland wäre von ihm nicht ausgegangen, Italiens und Rumäniens hätte er sich versichert oder zum mindesten ihre Neutralität ermöglicht. Im Kriege wäre er in seinen Reden der Bewahrer der Auguststimmung 1914 gewesen, ein Zusammenbruch, wie wir ihn erlebten, wäre unter seiner Führung unmöglich gewesen.
Französische Blätter haben den Fürsten Bülow den letzten deutschen Grandseigneur genannt. Er ist nicht nur Grandseigneur des weltmännischen Auftretens, er ist es auch auf dem Gebiete des Geistes, und er ist es vor allen Dingen in seinem Charakter. Die Ritterlichkeit, mit der er von jeder Kritik des Kaisers sich fernhielt, ist ihm eigen geblieben bis in die Gegenwart. Den vielen Intrigen, die gegen seine Person sich zuspitzten, hat er niemals irgendein aufreizendes Wort entgegengesetzt. Er wäre bereit gewesen, im Juli 1917 an die Spitze des Reiches zu treten und diejenigen Politiker, das darf ich wohl sagen, die sich damals für den Abgang Bethmanns einsetzten, taten dies nur, weil sie glaubten, daß Bülow sein Nachfolger werden würde. Kleinliche Hofintrigen haben das damals verhindert, die Menschen, die es verhindert haben, müssen es mit ihrem Gewissen verantworten, daß sie einen Dr. Michaelis einem Fürsten Bülow vorzogen. Der Fürst selbst hat niemals die geringste Empfindlichkeit über diese Nichtbeachtung seiner Person merken lassen, ebenso wie er es hingenommen hat, daß ihm nie ein Wort des Dankes für seine römische Mission gesagt wurde.
Wenn Fürst Bülow in diesen Tagen an seinem Geburtstage in der Villa Malta zurückblickte auf sein reiches, bewegtes Leben, so werden seine Erinnerungen ihm gesagt haben, daß er das ausgeschöpft hat, was das Leben einem auf hoher Warte der politischen Entwicklung stehenden Manne zu bieten vermag. Nicht er, sondern wir haben es zu beklagen, daß die großen Fähigkeiten des Geistes und der Erfahrung, die ihm gegeben waren, von seinem Volke nicht mehr benutzt wurden. Möge die Zahl derer, die sich in die Beschreibung seines Lebens versenken, groß sein. Die Geschichte ist dazu da, um aus ihr zu lernen, und Fürst Bülow ist uns ein Lehrmeister in vielem gewesen. Im Kriege waren es vielfach die alten Männer, die sich ihrem Vaterlande in schwerer Stunde zur Verfügung stellten. Wir grüßen ihn in dem Gedenken an das, was er Deutschland war, und in der Hoffnung, daß ihm Gelegenheit gegeben werden möge, seinem Volke und seinem Vaterlande noch einmal in jenem vaterländischen Geiste zu dienen, der das Ziel seines ganzen Wesens und Lebens gewesen ist.