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1921.
Reichstagsrede zu Simons Londoner Verhandlungen. 5.3.1921
Der Herr Vorredner hat scharfe Angriffe gegen das Kabinett und insbesondere gegen den gegenwärtig in London verhandelnden Herrn Außenminister Dr. Simons gerichtet. Er hat zunächst ausgeführt, daß die Erklärung, die der Herr Reichskanzler heute hier namens des Kabinetts abgegeben hat, eine nichtssagende wäre. Ich glaube, jeder, der diplomatische Verhandlungen kennt – und der Herr Vorredner bezog sich ja gerade darauf, daß man doch solche Verhandlungen kennen müsse, um über die Form, in der sie geführt werden, sich ein Urteil zu bilden –, jeder, der solche diplomatischen Verhandlungen kennt, wird ein volles Verständnis dafür haben, daß der Kanzler des Reichs heute nicht eine eingehende Rede über Verhandlungen hier halten kann, die der Herr Außenminister im Namen des Kabinetts am Montag gegenüber den Gegnern zu führen hat. Im übrigen glaube ich, daß das, was der Herr Vorredner nichtssagend nannte, in Wirklichkeit das A und O der gesamten Stellung Deutschlands gegenüber der Frage der Entschädigung ist. Dieses A und O ist die Frage der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ich sehe auch nichts psychologisch Angreifbares darin, wenn der Herr Außenminister in seiner Rede darauf hingewiesen hat, daß unter den Sachverständigen Deutschlands Differenzen über diese Grenze der Leistungsfähigkeit bestanden. Ich bitte Sie einmal, sich zu vergegenwärtigen, wie die Situation ist. Wenn Sie jemand auffordern, ein Urteil über das abzugeben, was im Laufe eines Menschenalters ein Volk leisten kann, wie wollen Sie angesichts der gärenden Zeit, in der wir leben, in der überhaupt keine wirtschaftlichen Grundtatsachen feststehen, verlangen, daß ein solches Urteil so abgegeben wird, daß es gewissermaßen eine Garantie in den Ziffern oder in den angebotenen Leistungen gibt, von denen es spricht? Es zeugt gerade für den Ernst und die Gewissenhaftigkeit derjenigen, die zu einem Urteil aufgerufen worden sind, wenn sie nicht schnell fertig waren mit diesem Urteil.
Von einer ganzen Reihe von Sachverständigen ist – nachdem der Herr Abgeordnete Breitscheid das angeführt hat, darf ich das wohl auch sagen – zum Ausdruck gebracht worden, sie glaubten es kaum vor ihrem Gewissen verantworten zu können, zu sagen, daß Deutschland überhaupt nur in der Lage sei, das zu leisten, was in diesen Gegenvorschlägen zum Ausdruck gekommen ist.
Man kann, glaube ich, auch die Form, in der die Verhandlungen geführt worden sind, doch nicht so abtun, wie Herr Dr. Breitscheid das tut, indem er von der Vorbereitung im Eisenbahncoupé spricht. Herr Dr. Breitscheid hat in seinen ersten Sätzen Wert darauf gelegt, zu verlangen, daß das Parlament bei derartig entscheidenden Situationen nicht ausgeschaltet werde. Wohlan, nach der Darstellung, die er selbst gegeben hat, lagen die Verhältnisse so: Erst wurden die Sachverständigen gefragt, dann wurden die Parteiführer gefragt, und nach dieser Befragung erfolgte die endgültige Formulierung, Ich glaube, daß das ein logischer Aufbau ist. Erst haben diejenigen das Wort, die auf Grund ihrer Sachkunde in der Lage sind, die Vorschläge der Regierung zu beurteilen; dann kommt die Sache an das Kabinett, dann versichert das Kabinett sich der Zustimmung der Parteien, und dann wird die letzte Feile an die Form gelegt, in der diese Vorschläge übermittelt werden. In der modernen Zeit, die nach einem früher oft zitierten Wort im Zeichen des Verkehrs steht, sollte ein moderner Mensch nicht daran Anstoß nehmen, wenn im Salonwagen gearbeitet wird, wenn man auch diese Zeit benutzt, um eine solche Formulierung von Vorschlägen zu finden.
Weiterhin möchte ich zu den Ausführungen des Herrn Dr. Breitscheid zwei sachliche Richtigstellungen hinzufügen. Herr Dr. Breitscheid hat es als eine Eigenmächtigkeit bezeichnet, daß der Anteil der Gegner an einer wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung Deutschlands in den Vorschlägen der deutschen Delegation nicht zum Ausdruck gekommen sei. Ich verweise den Herrn Kollegen Dr. Breitscheid auf die während der heutigen Sitzung verteilten Drucksachen, in denen unter IV die deutschen Gegenvorschläge uns mitgeteilt worden sind. Er wird daraus ersehen können, daß der Grundgedanke einer Beteiligung der Alliierten an einer wirtschaftlichen Besserung Deutschlands anerkannt wird. Wenn auch zum Ausdruck gebracht wird, daß dieser Gedanke in den Vorschlägen, die überreicht sind, mit inbegriffen sei, so ist es jedenfalls nicht richtig, wenn gesagt wird, daß dieser Gedanke nicht erwähnt worden sei. Er ist hier ausdrücklich in die Debatte geworfen, und er gibt dem Gegner, wenn er daraufhin den Faden weiterspinnen will, durchaus Gelegenheit, auf dieser Grundlage mit unserer Delegation weiter zu verhandeln. Wenn mir auch im Augenblick der Wortlaut der gesamten Rede des Herrn Außenministers Dr. Simons nicht gegenwärtig ist, so müßte mich meine Erinnerung doch sehr täuschen, wenn der Herr Außenminister nicht ausdrücklich von der Bereitwilligkeit Deutschlands, den Wiederaufbau in Frankreich zu fördern, gesprochen hätte.
Wer immer gefordert hat, daß an Stelle diplomatischer Künste, die oft mit der Diplomatie des Pferdehandels verglichen werden, an Stelle dieser abgebrauchten Taktik eine ehrliche, offene Diplomatie tritt, der kann schließlich nicht daran eine Kritik üben, daß in dieser offenen Weise von Seiten der deutschen Delegation vorgegangen ist.
Im übrigen gilt auch für die Vertreter der Parteien, die in dieser Situation sprechen, doch einigermaßen derselbe Grundsatz der Zurückhaltung, die sich auch der Herr Reichskanzler bei den schwebenden Verhandlungen in bezug auf Einzelheiten unserer Vorschläge auferlegt hat. Es würde deshalb auch wohl kaum Veranlassung vorliegen, zu der gegenwärtigen Situation eingehender zu sprechen, wenn nicht der Herr englische Erste Minister, Herr Lloyd George, in einer in ihrer Art meisterhaften Rede auch diese Gelegenheit zu einer Weltpropaganda benutzt hätte, die sehr gut auf die Psychologie anderer Völker eingestellt ist und die er sicher auch auf die Psychologie des deutschen Volkes eingestellt zu haben glaubt. Ich darf das um so eher betonen, als die französische Presse beispielsweise sich gar nicht zurückhält, auf den Umstand hinzuweisen, daß das erste bedeutsame Weltdokument, das in die Hände Mister Hardings käme, diese Rede von Lloyd George sein würde.
Ich darf mich zunächst denjenigen Ausführungen zuwenden, mit denen der englische Ministerpräsident an Deutschland appelliert. Er verlangt eine Änderung der deutschen Sinnesart, und zwar verlangt er sie unter dem Gesichtspunkt der deutschen alleinigen Verantwortlichkeit für den Weltkrieg. An vier Stellen seiner Rede betont er diese deutsche Schuld. Er spricht einmal von den Folgen der Handlungen der kaiserlichen Regierung von 1914, von den Folgen des durch die kaiserlich-deutsche Regierung provozierten Krieges, er spricht von Dr. Simons als dem Vertreter eines Landes, das für den verheerendsten Krieg verantwortlich sei, und er erwähnt schließlich, was der Herr Kollege Hergt bemerkte, daß diese Verantwortlichkeit die grundlegende Basis für das Gebäude des Friedens von Versailles sei.
Es ist interessant, daß der englische Herr Ministerpräsident sich in dieser Auffassung vollkommen mit einem Vertreter der französischen Politik trifft, dem früheren Präsidenten Poincaré. Herr Poincaré hält jetzt Vorlesungen in Paris über die Entstehung des Weltkrieges, und er hat in diesen Vorlesungen an die Spitze seiner ganzen Ausführungen den Satz gestellt: »Ihr, ihr Franzosen, müßt immer bedenken, daß der Friede von Versailles seine sittliche Grundlage nicht in dem Ausgang des Krieges, sondern in der Entstehung des Krieges hat!« Wir sehen da dieselben Gedankengänge, die auch zum Appell von Lloyd George an das deutsche Volk führen: »Anerkennt doch, daß beinahe die ganze zivilisierte Welt mit uns der Meinung von eurer alleinigen Verantwortlichkeit ist, und zieht daraus die sittliche Folgerung, daß ihr die Pflicht habt, soweit es irgendwie in euren Kräften steht, die ganzen Verwüstungen der Welt wieder gutzumachen, die durch den Krieg hervorgebracht worden sind.«
Wenn das jetzt von den Führern des ehemaligen Feindbundes derartig in den Vordergrund einer Weltpropaganda gestellt wird, dann ist es nicht unser Recht, sondern unsere Pflicht, darauf zu antworten. Da muß auf eins zunächst hingewiesen werden: Dem Vertrag von Versailles fehlt die sittliche Rechtsgrundlage. Der Vertrag von Versailles ist in seinen großen Grundzügen abgeschlossen gewesen, ehe man in Versailles zusammenkam und verhandelte, abgeschlossen durch den Notenwechsel zwischen der ehemaligen deutschen Regierung und den Vereinigten Staaten als den Vertretern der Alliierten in jenem Telegrammwechsel zwischen Minister Lansing einerseits und der deutschen Regierung anderseits. Die Waffenstreckung Deutschlands, die allein der Entente ermöglichte, einen Frieden festzusetzen, erfolgte nicht bedingungslos, sondern sie erfolgte auf Grund heiliger internationaler Abmachungen.
Gewiß waren nicht nur die vierzehn Punkte Wilsons diese Grundlage, sondern ausdrücklich war verlangt worden, daß über die in diesen vierzehn Punkten verlangten Forderungen hinaus der Ersatz Deutschlands festzustellen sei für alle Schäden der Zivilbevölkerung durch die Führung des Krieges unter See, durch Luftangriffe und anderes. Auch das hat die deutsche Regierung anerkannt. Niemals aber hat sie eine Verpflichtung anerkannt, die Pensionen aller Armeen der Kriegführenden zu übernehmen, jene »gigantischen Pensionen«, von denen Lloyd George in seiner Rede spricht. Ich glaube nicht, daß es irgendeine deutsche Regierung gegeben hätte, gleichgültig, aus welchen Parteien sie bestünde, die so wahnwitzig gewesen wäre, anzunehmen, daß das deutsche Volk jemals in der Lage sein würde, derartige Ausgaben eines Weltkrieges, an dem ein Viertelhundert Nationen teilgenommen haben, zu tragen. Es ist unmöglich, diese Lasten auf die Schultern eines einzigen Volkes zu legen.
An dieser Betrachtung der Rechtsgrundlage kann die erzwungene Unterzeichnung des Vertrages nach der erfolgten Entwaffnung nichts ändern.
Nun hat der englische Ministerpräsident über den Friedensvertrag von Versailles ein großes weltgeschichtliches Exposé gegeben, er hat gewissermaßen von dem geschriebenen und ungeschriebenen Recht der Völker gesprochen, das für seine Auffassung und gegen uns spräche. Wenn der englische Ministerpräsident von den vierzehn Punkten Wilsons, von denen man doch einst eine neue Entwicklung der Menschheitsgeschichte erwartete, kein Wort in seiner wohlüberlegten Rede gesprochen hat, so doch wohl aus dem Grunde, weil er sich innerlich selbst bewußt ist, daß die Endausführung des Friedensvertrages von Versailles mit dieser Grundlage nicht vereinbar ist. Ich glaube, daß deshalb auch der Appell, den er an das deutsche Volk richtet, nicht das Echo finden kann, das er erwartet, und auch nicht dann finden wird, wenn er wiederholt und prononziert von der kaiserlich deutschen Regierung spricht, so wie er vordem glaubte, an das deutsche Volk die Frage stellen zu müssen, ob hinter Dr. Simons das neue Deutschland oder die Männer von 1914 ständen. Er würde vielleicht einen Erfolg für eine solche Gegenüberstellung in Anspruch nehmen können, wenn die Männer des neuen Deutschland, falls ich diese Terminologie akzeptiere, irgendwann erfahren hätten, daß die Gegner das neue Deutschland irgendwie anders zu behandeln geneigt wären, als sie das alte Deutschland behandelt haben. Man wird bei seinen Ausführungen doch zu sehr an den Brief erinnert, den an dem historischen Tage des 10. November 1918 nach erfolgtem »Sieg« Lloyd George an Northcliffe sandte, in dem er ihm dafür dankte, daß er durch seine Propaganda den seelischen Zusammenbruch des deutschen und österreichischen Volkes herbeigeführt hat.
Und nun die Frage, die letzten Endes Ursache all dieser Auseinandersetzungen ist, die Frage der Verantwortlichkeit am Weltkrieg. Wir machen einen großen Fehler, uns auf ein Terrain drängen zu lassen, bei dem wir nicht auseinanderhalten Ursache der Weltkatastrophe und äußeren Anlaß. Daß im Juli 1914 von Seiten der österreichischen und deutschen Diplomatie grobe Fehler begangen worden sind, kann niemand leugnen, der objektiv die Geschichte jener Zeit gelesen hat. Daß aber die Gesamtpolitik Deutschlands auf den Frieden eingestellt war, kann ebensowenig irgendein objektiver Betrachter der Weltgeschichte leugnen. (Lachen und Zurufe bei den Vereinigten Kommunisten.) – Und wenn man von Ihrer (zu den Vereinigten Kommunisten) Seite glaubt, darüber lachen zu können, weil es ein Deutscher sagt, dann hören Sie doch vielleicht einmal, wie Männer des neutralen Auslandes darüber gesprochen haben.
Wir haben die Berichte der Gesandten Belgiens, die doch nicht verpflichtet waren, unter deutschem Gesichtspunkt Weltereignisse anzusehen. In einem Bericht vom 14. November 1908 spricht der belgische Gesandte Baron Greindl von den »im tiefsten Grunde friedliebenden Absichten des deutschen Kaisers«. In dem Bericht vom 6. Februar 1911 schreibt derselbe Gesandte: »Die entente cordiale ist nicht aufgebaut auf der positiven Grundlage gemeinsamer Interessen, sondern auf der negativen Grundlage des Hasses gegen das Deutsche Reich. Baron Guillaume, der belgische Gesandte, betont am 12. Juni 1913, als wir uns mehr und mehr der Weltkatastrophe näherten, daß Frankreich angesichts der Einführung der dreijährigen Dienstzeit entweder resignieren oder Krieg führen müsse; derselbe Gesandte schreibt am 23. Januar 1914 die prophetischen Worte, daß die Politik der Poincaré, Delcassé und Millerand die größte Gefahr wäre, die den Frieden Europas bedrohe. Ich glaube nicht, daß diese Vertreter des belgischen neutralen Staates irgendwie in dem Verdacht stehen, etwa die bezahlten Agenten des alten kaiserlichen Deutschland gewesen zu sein.
Lassen Sie mich auf ein weiteres hinweisen. Auch in England selbst bricht sich ja die Anschauung Bahn, daß man nicht mehr festhalten könne an der Legende von der Alleinverantwortung Deutschlands für den Krieg. Es war ein englischer Historiker Gooch, der in der Historical Association in Cambridge erklärte: »Wenn ich sage, daß es ein absoluter Unsinn ist, zu behaupten, Deutschland habe eine friedliche und nichtsahnende Welt mit Krieg überfallen, so spreche ich nicht als Prodeutscher, sondern als ein Mann, der die Tatsachen studiert.«
Wenn solche Sätze heute in der Universität von Cambridge gesprochen werden, dann zeigt das, daß die Wahrheit auf dem Marsch ist und nicht aufzuhalten ist.
Gerade diejenigen Kreise, die eine ganz enge Verbindung zwischen den großen wirtschaftlichen Tatsachen der Welt und den geschichtlichen Ereignissen annehmen, sollten sich aber vor allem vor Augen führen, daß es gar keinen größeren Unsinn gibt, als einem Deutschland kriegerische Absichten zu unterstellen, dem ja die Möglichkeit einer ungeahnten Entwicklung, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte, dann gegeben war, wenn der Frieden erhalten werden konnte. Möchte man doch einmal nachlesen, was angesichts des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. über die Entwicklung in Deutschland in allen damaligen Aufsätzen gesagt worden ist. Ich will nicht behaupten, daß der materielle Aufstieg eines Volkes irgendwie gleichbedeutend sei mit seinem Aufstieg an sich. Manche geistigen Kräfte haben unter dem Überwuchern des Materialismus gelitten. Aber daß dieses Deutschland in seiner ungeheuren Entwicklung vom Frieden alles und vom Kriege wenig zu erhoffen hatte und infolgedessen am wenigsten irgendeinen sittlich vernünftigen Grund hatte, um diesen Friedenszustand mit dem Krieg vertauschen zu wollen, das muß jedermann anerkennen, und niemand kann behaupten, daß eine mit Bewußtsein anders gerichtete Politik in Deutschland getrieben worden wäre.
Diese großen Grundtatsachen sind das Entscheidende, und nicht die vier Wochen vom 1. bis 31. Juli. Aber selbst wenn man lediglich diese zweite Periode ins Auge faßt, wollen wir denn da vorbeigehen an allen den Erklärungen, die doch mehr und mehr über demokratisch – pazifistische Kreise hinaus bis in die Reihe der äußersten Linken dieses Hauses sich dagegen wenden, daß die Alleinschuld bei Deutschland läge? Graf Montgelas ist gewiß eine Persönlichkeit, die man wohl nicht unter die »Nationalisten« einreihen kann. Ich darf auf die sehr interessante Zusammenstellung in seinem Aufsatz in der »Deutschen Politik« hinweisen, in dem er über das letzte Stadium vor der allgemeinen Mobilmachung spricht und darauf hinweist, daß in Deutschland der Zustand der drohenden Kriegsgefahr zu allerletzt erklärt worden ist, nachdem Rußland, England, Frankreich und Österreich-Ungarn mit ihrem Beginn der Kriegsvorbereitungsperiode, ihren Warnungstelegrammen, ihren Befehlen zur Aufstellung des Grenzschutzes und ihren Vorbereitungen, die unserem Zustand der Kriegsgefahr entsprechen, vorangegangen waren, und daß dasselbe für die allgemeine Mobilmachung gilt, wo Rußland Österreich-Ungarn und Frankreich Deutschland voranging und der England dann folgte, das bekanntlich wenige Tage später in den Krieg eintrat.
Schließlich war es aber Lloyd George selbst, der am 22. Dezember 1920 vom Weltkrieg sagte: »It was something in which they glided or rather staggered or stambled«. Über diesen Satz, wonach die Staatsmänner in den Weltkrieg hineingeglitscht seien, wird Lloyd George nicht hinwegkommen. Er hat zwar einmal gesagt: »Meine Reden und Bücher sind meine größten Feinde«, und hat damit vielleicht den Wunsch ausdrücken wollen, nicht auf Ausführungen festgelegt zu werden, die man zu einer gegebenen Zeit macht. Aber bei einem Frühstück der Empire's Parliamentary Association, kurz vor der Pariser Konferenz, kann man doch annehmen, daß in einem After-Dinner-Speech der Erste Minister nicht lediglich Worte spricht, die der Augenblick eingibt, namentlich, wenn er sich auf das Studium von Dokumenten bezieht, sondern da kann man wohl sagen: Vielleicht hat sich dort weit mehr seine wirkliche Meinung Ausdruck verschafft als in den offiziellen Reden, die zu halten er als Haupt einer feindlichen Koalition verpflichtet ist.
Ich darf auf eine seltsame Übereinstimmung dieser Rede in Birmingham mit einer Äußerung hinweisen, die Woodrow Wilson, den doch heute wohl niemand der Deutschfreundlichkeit zeihen will, im Women-City-Club in Cincinnati am 26. Oktober 1916 tat. Damals war es der Präsident der Vereinigten Staaten, der die Frage stellte: »Hat jemand jemals gehört, woraus der gegenwärtige Weltkrieg entstanden ist? Wenn ja, so wünschte ich, er möchte es bekanntgeben; denn, soweit ich sehe, weiß es niemand; keine einzelne Tatsache hat den Krieg hervorgerufen, sondern alle Dinge im allgemeinen.«
Sehen Sie hier die Worte in Cincinnati: Keine Einzeltatsache, sondern die Dinge im allgemeinen –, sehen Sie dort die Dinge in Birmingham: Kein einzelner Staatsmann, sondern die ganze Welt, die ins Schliddern kam – und Sie sehen eine Übereinstimmung der Gedanken, die letzten Endes die Grundlage künftiger historischer Betrachtung in höherem Maße sein wird als die Rede, die Lloyd George jetzt in London geglaubt hat halten zu müssen.
Wenn es mir gestattet ist, nach den Äußerungen von Staatsmännern ehemals feindlicher Staaten auch einen Deutschen zu zitieren, und zwar einen, der nicht mit »nationalistischer« Vergangenheit »belastet« ist, so darf ich auf die Worte hinweisen, die Kautsky in seiner letzten Auseinandersetzung über »Wilhelm II. und Delbrück« gesagt hat, und die im Wortlaut heißen: »Ich war sehr überrascht, als ich Einsicht in die Akten bekam. Meine ursprüngliche Auffassung erwies sich mir als unhaltbar. Deutschland hat auf den Weltkrieg nicht planmäßig hingearbeitet, es hat ihn schließlich zu vermeiden gesucht.« (Abgeordneter Berstein: Er hat noch anderes gesagt!) – Herr Kollege Bernstein, ich habe seine Auffassung sehr gut gelesen. Er spricht davon, daß die deutsche Regierung gegenüber dem deutschen Volke verantwortlich gewesen wäre wegen ihres Regierungssystems, er lehnt aber ab – und darum handelt es sich hier –, daß sie gegenüber den Feinden oder gegenüber der Welt verantwortlich wäre, daß sie die alleinige Verantwortung aller Welt gegenüber trüge. Wörtlich sagt er weiter: »Ich werde zum Verteidiger der deutschen Regierung der Entente gegenüber, die sie als großen Verbrecher behandeln will.« Ich bin gern bereit, Herr Kollege Bernstein, mich mit Ihnen an Hand der Gesamtausführungen Kautskys weiter darüber zu unterhalten. Sie werden mir zugeben, daß ich diese Stelle im Wortlaut zitiert habe. Ich meine, sie können gar nicht anders aufgefaßt werden, als es dieser Wortlaut sagt.
Weiter darf ich darauf hinweisen, daß es doch eigenartig ist, wenn der englische Herr Ministerpräsident das Jahr 1871 mit dem Jahr 1919 vergleicht. Ich glaube, wir können diesen Vergleich ruhig hinnehmen. Zunächst einmal scheint mir aus der Rede von Lloyd George auch die Auffassung hervorzugehen, daß er Frankreich damals als im Unrecht befindlich ansieht. Das würde mit dem Urteil übereinstimmen, das die »Times« ausgesprochen hat, als sie nach dem letzten großen militärischen Ereignis vor der Annexion von Elsaß-Lothringen die Auseinandersetzung von 1871 in den Satz brachte: »Das große Ereignis der Gegenwart ist, daß das edle, friedliebende, aufgeklärte und ernste deutsche Volk sich eint, daß Deutschland die Vormacht des Festlandes wird an Stelle des leichtfertigen, ehrgeizigen, streitsüchtigen und allzu empfindlichen Frankreich. Jeder muß wünschen, daß es so werde.« Das war eine englische Stimme aus der damaligen Zeit, die ich Herrn Lloyd George zur Beachtung empfehle, wenn er über den Krieg von 1871 mitspricht.
Aber ich darf doch weiter vor allem auf eines hinweisen. Wie ganz anders wirkt bei diesem Frieden auch die äußerliche Form der Verhandlungen, die ganze kavaliermäßige Art der gegenseitigen Achtung der Nationen, in der damals ein Bismarck deutsche Politik führte, gegenüber der auf Nichtachtung, Demütigung und Herabwürdigung gerichteten Art, in der man Deutschland heute behandelt. Damals blieb Frankreich vollkommen eine selbständige große Macht. Die deutsche Besetzung wurde bald zurückgezogen. Deutschland sorgte für die Ernährung von Paris vom ersten Tage ab, wo die ausgehungerte Hauptstadt sich ergeben mußte. Das französische Staatseigentum in Elsaß-Lothringen ist von uns nicht geraubt, sondern den Franzosen auf Heller und Pfennig bezahlt worden. So war wohl das richtig, was der der Psychologie angeblich unkundige Außenminister Dr. Simons schon in Spaa Herrn Lloyd George erwiderte, als dieser ihm sagte: »Nehmen Sie sich ein Beispiel an jenem Frankreich, das auch nach der Niederlage von 1871 die Kraft hatte, die Kommune niederzuwerfen«, und Dr. Simons ihm darauf antwortete: »Ich zweifle keinen Augenblick, daß die deutsche Regierung dieselbe Autorität haben würde, wenn die Sieger von heute uns diejenige Freiheit und Selbständigkeit lassen würden, die das siegreiche Deutschland damals dem besiegten Frankreich gelassen hat.«
Nun wolle man doch auch nicht Unmögliches vergleichen, einen Krieg zwischen zwei Ländern, dessen Aktionen kaum ein Jahr umfaßten, und einen Weltkrieg von der Bedeutung, wie ihn die Welt nie gesehen hat! Wenn mit irgend etwas, so ist er nur mit der napoleonischen Epoche vergleichbar, und wenn man deshalb Friedensschlüsse vergleicht, könnte man höchstens den Wiener Kongreß mit dem Frieden von Versailles vergleichen. Auch da möchte ich den Siegern von heute empfehlen, diejenigen Formen anzuwenden, in der die damals mit Preußen, der deutschen Vormacht, koalierten Mächte die einfache Unmöglichkeit erkannten, daß ein einzelnes Land den Schaden eines europäischen Krieges bezahlen könne. Damals hat Frankreich sein Wiederaufblühen im neunzehnten Jahrhundert dieser großen Einsicht der Verbündeten zu danken gehabt, einer Einsicht, die ich denen wünsche, die übersehen, daß die Welt und die Weltwirtschaft ein Ganzes ist und daß Deutschlands Untergang letzten Endes ihr eigenes Verderben mit sein wird.
Wir haben deshalb keine Veranlassung, uns irgendeinem unparteiischen Weltschiedsgericht nicht zu unterwerfen, das entscheiden würde über Schuld und Unschuld an diesem Kriege. Gibt es eine Schuld an einer solchen Weltkatastrophe, so liegt sie zunächst, wenn man die Ursache in Betracht zieht, niemals an Persönlichkeiten. Dazu war die Katastrophe zu groß, dazu waren die Ereignisse zu gewaltig. Und gerade Sozialisten sollten von ihrer materialistischen Geschichtsauffassung aus nicht zu der Überzeugung kommen, daß die größten Welttatsachen sich nicht auf materialistischen Ursachen, sondern auf Verfehlungen einzelner aufbauen können. Soweit aber Persönlichkeiten in Betracht kommen, glaube ich, daß die vielfach fehlbaren Staatsmänner Deutschlands in bezug auf ihren Willen, den Frieden zu erhalten, den Vergleich mit Iswolski und anderen jederzeit bestehen werden, wenn sie auch nicht die Geschicklichkeit besaßen, den äußeren Schein derartig zu wahren, wie man es dort zu jeder Zeit verstanden hat. Es wäre fair play, wenn ein Weltschiedsgericht spräche. Jedes einseitige Schuldurteil und Schuldanerkenntnis müssen wir ablehnen.
Meine Damen und Herren! Ich bedaure immer wieder, daß gegenüber dieser allmählichen Durchsetzung der Welt mit wirklichen Grundtatsachen, die doch letzten Endes uns zugute kommen, weil sie das Grundgebäude eines unerträglichen Friedens erschüttern, Hindernisse bereitet werden durch Anklagen aus dem eigenen Lager; es sei doch Versailles nichts anderes als der Frieden, den Deutsche gemacht hätten, wenn sie siegreich gewesen wären. Ich darf hinweisen auf das Urteil eines Mannes, der, soweit die Begriffe rechts und links politische Anschauungen widerspiegeln, so weit links steht, daß er hier ziemlich dicht an der Wand sitzen würde, das ist Lenin. Er hat erklärt, es sei geradezu lächerlich, den Frieden von Brest-Litowsk mit diesem Werk von Versailles in eine Parallele zu stellen. Wenn von dort dieser Vergleich zurückgewiesen wird, dann erübrigt es sich vielleicht, hier überhaupt darauf einzugehen. Wir, die wir damals die Einzelheiten, namentlich auch die wirtschaftlichen Bedingungen, hier erörterten, die wir die Rede des damaligen Dr. Simons im Ausschuß hörten, der ausdrücklich jede Kriegsentschädigung ablehnte, wir, die wir wissen, wie die wirtschaftliche Gleichberechtigung in diesem Frieden gewahrt wurde, – uns muß es seltsam berühren, wenn derartige Urteile hier gefällt werden. Schließlich wird die Wahrheit Sieger sein. Sie wird nicht dem Lloyd George vom 2. März dieses Jahres, sondern dem englischen Ministerpräsidenten vom 22. Dezember 1920 Gerechtigkeit widerfahren lassen, als er sich damals das Geständnis abrang, daß die größte Welttatsache der letzten Zeit nicht die Schuld eines einzelnen Volks, eines einzelnen Staatsmanns oder einer einzelnen Regierung gewesen wäre, und ich hoffe, daß Lloyd George sich zu dieser großen Tatsache und Auffassung zurückfinden und zu gegebener Zeit uns und seinen Verbündeten gegenüber die Folgerung daraus ziehen wird.
Damit verlasse ich dieses Gebiet und wende mich mit wenigen Ausführungen zu den wirtschaftlichen Fragen. Vorher geben mir einige Ausführungen des Herrn Kollegen Müller noch Veranlassung, einiges zu sprechen. Herr Kollege Müller, Sie haben den Stapellauf in Flensburg in die Debatte gezogen. Als Sie das sagten, standen Sie mir geistig in anderer Form vor Augen, nämlich wie Sie an jenem Tage sich zur Geschäftsordnung meldeten und sich mit Recht dagegen wandten, daß eine Tatsache wie der Generalstreik in Stettin in eine so großzügige weltpolitische Debatte hineingezogen würde. Ich glaube wirklich nicht, daß diese einzelne Tatsache heute von irgendwie entscheidender Bedeutung sei. (Abgeordneter Müller-Franken: Ein Stimmungsfaktor!) Meinen Sie damit, daß England zürne, weil aus dem Namen Tirpitz das »alte Deutschland« spricht? Darf ich noch einmal die Frage von vorhin stellen: Welches Entgegenkommen hat denn die Entente bisher auch gegenüber der deutschen Regierung praktisch durchgeführt, in der die Sozialdemokratie ganz überragenden Einfluß hatte? Dabei wird immer eins vergessen. England ist das alte England geblieben, und dieses alte England wird vielleicht durch jenen Lord Fisher charakterisiert, der erklärte, daß er Tirpitz in seiner Politik vollkommen zustimme, und so ist auch die psychologische Einstellung ganz falsch, die annimmt, daß die Londoner Verhandlungen dadurch gestört würden, daß der für die Erinnerungen an große Zeiten und an Vorkämpfer einer Idee in seinem Gemüte empfängliche Engländer an der Tatsache dieses Flensburger Stapellaufs irgendwie Anstoß nehmen könnte.
Aber ich wende mich damit kurz zu einer Betrachtung, von der mir scheint, daß sie mehr in den Mittelpunkt der weltpolitischen Erörterungen gestellt werden müßte: Die Gegenüberstellung der Wirtschaftskraft der Entente und Deutschlands. Beinahe sollte man meinen, wenn man die Reden von Briand liest, hier stände ein blühendes Deutschland und dort wären mindestens stagnierende Siegerstaaten. Gewiß, ich habe ein volles Verständnis dafür, daß die verwüsteten Provinzen in Frankreich Betrachtungen nahelegen, ob nicht Deutschland die Möglichkeit besitzt, weil ihm seine große Wirtschaftskraft geblieben sei, sich eher zu erholen, als das Frankreich möglich wäre; und daß sich Frankreich finanziell und wirtschaftlich in einer beinahe trostlosen Lage befindet, ist eine Tatsache, von der wir auch nichts wegstreichen sollten und die wir auch in Rechnung stellen müssen, wenn wir Reden französischer Staatsmänner verstehen wollen. Aber mit Recht ist von Rednern verschiedener Parteien die Frage aufgeworfen worden: Wenn alles für euch von dem Wiederaufbau Nordfrankreichs abhängt, warum lehnt ihr die Hilfe ab, die euch von uns angeboten worden ist? Man kann nicht gleichzeitig die Welt mit Klagen erschüttern über verwüstete Dörfer und deutsche Hilfe ablehnen, diese verwüsteten Dörfer aufzubauen. Daß Deutschland auf diesem Gebiete eine Organisationskraft und Leistungsfähigkeit besitzt, die vielleicht diejenige anderer Länder übersteigt, hat ja das Beispiel Ostpreußens gezeigt.
Im übrigen ist das Bild des blühenden Deutschlands ein Trugbild. Auf den Trümmern des Niederganges des geistigen und wirtschaftlichen Mittelstandes hat sich heute eine Schicht erhoben, die vielleicht infolge Überspannung des Prinzips der direkten Steuern das Sparen verlernt hat und die außerdem in der Art ihres Gehabens und Sichgebens allerdings das traurigste Beispiel für den Mangel an nationaler Würde bietet. Aber man soll doch nicht gegenüber dem, was sich an wirklicher Situation in Deutschland bietet, diese Großstadterscheinungen etwa als das Bild des wirklichen Deutschlands ansehen, und man sollte auch Verständnis dafür haben, daß erhitzten Perioden der Exporthausse die mangelnde Kaufkraft im Innern gegenübersteht.
Es war der große Irrtum der Pariser Beschlüsse, daß man Deutschland überhaupt als Objekt der Gesetzgebung der Entente behandeln zu können glaubte. Die Weltwirtschaft ist ein Ganzes und wird ewig ein Ganzes bleiben. Wer da glaubt, daß man große Quadersteine aus dieser Weltwirtschaft herausnehmen kann, ohne daß das ganze Gebäude ins Sinken gerät, der irrt sich. Heute stehen wir nicht bloß vor der Tatsache, daß das Deutsche Reich kaufarm geworden ist, heute stehen wir vor der Tatsache eines verelendeten Deutschösterreichs, vor der Tatsache eines bis zum Chaos heruntergewirtschafteten Rußlands. Mögen die Staaten der großen Rohstoffländer sich klar darüber sein, was dieses Fehlen einer europäischen Kaufkraft für Krisen im Gefolge hat für ihre eigene Volkswirtschaft, ihr eigenes Land und ihr eigenes Volk. Und wenn man etwa der niedergebrochenen Kaufkraft dieser Staaten neu geschaffene Staaten gegenübersetzen wollte, so glaube ich nicht, daß das Polen der Gegenwart ein Gegenwert sein wird für das Deutschland der Vergangenheit, das einstmals mit seiner Kaufkraft der Welt gegenüberstand. Ausgetauscht werden in der Welt, solange es Handel gibt, Rohstoffe gegen verarbeitete Ware. Wenn man uns nicht in die Lage setzt, die alte Stellung als Verkäuferland wieder einnehmen zu können, dann sind wir auch kein Kaufland mehr, und das wird der Baumwollfabrikant in den Vereinigten Staaten, das werden die Banken dort, die mit allen denjenigen großen Unternehmungen, die uns einst die Rohstoffe lieferten, in Verbindung stehen, genau so merken wie wir. Und wenn wir den Wahnsinn weitertreiben, hier uns künstlich verkümmern zu lassen, so werden wir vor der törichten Tatsache stehen, daß, weil dreihundert Millionen Menschen nichts kaufen können, andere dreihundert Millionen Menschen nichts verkaufen können, und daß dies das Ende, das Chaos und der Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft ist.
Wenn diejenigen recht haben – es gibt deren viele im Auslande –, die da glauben, daß kaum ein anderes Land so schnell wieder erstehen würde wie Deutschland – es ist ja seltsam, wie im Auslande beinahe eine Art Wunder in diesem Deutschland gesehen wird, wie an seine Kraft geglaubt wird –, wenn sie das glauben, wohlan, so stehe ich auf dem Standpunkt, daß an einer solchen Entwicklung Deutschlands auch der Gegner interessiert werden soll. Aber darüber sei man sich klar; nur im Zusammenhang mit dieser Weiterentwicklung ist Frankreichs Zukunft möglich, nur im Zusammenhang mit unserer eigenen Entwicklung kann sich eine gesunde Weltwirtschaft wieder entwickeln. An dieser Grundtatsache können keine Beschlüsse auf die Dauer etwas ändern, mögen sie in Paris, London oder anderwärts jetzt oder später gegen uns gefaßt werden.
Deshalb bedauere ich, daß man als Antwort auf Vorschläge, die soweit gehen, daß kein Vergleich in der Geschichte ein ähnliches Leistungsangebot aufweist, nur die eine Antwort hat, Strafmaßnahmen uns anzudrohen. Weder das Völkerrecht noch der Friedensvertrag berechtigen zu einer weiteren Besetzung deutschen Gebietes. Ich hoffe, daß das, wenn die Besetzung Tatsache werden sollte, auch von uns ausgesprochen werde. Wir dürfen es nicht als selbstverständlich hinnehmen, daß man über deutsches Gebiet verfügt, als wäre es herrenloses Gut und in seiner Gesamtheit nur Pfandobjekt für irgendwelche feindliche Willkür.
Ich darf das eine hier aussprechen. Wir wissen, wie die Deutschen im besetzten Gebiete bisher gelitten haben und weiter leiden werden durch die fünf bis fünfzehn Jahre hindurch; wir empfinden es mit um so dankbarerem Herzen, daß gerade diese schweren Tage, in denen wir stehen, die schönsten Treugelöbnisse und den heißesten Appell zum Festhalten aus dem besetzten Gebiet uns gebracht haben. Daß gerade die Städte, denen als wirtschaftliche Lebensadern das Schicksal bevorsteht, in Zukunft unter fremdem Joch zu stehen mit all dem, was eine Besetzung bedeutet, in diesen Stunden ihres deutschen Vaterlandes gedenken, das sei ihnen gedankt. Das wird, glaube ich, psychologisch mehr auf die Gegner wirken als alles Liebeswerben, von dem andere glauben, sich moralische Eroberungen versprechen zu können.
Und so meine ich: Wir wollen in Ruhe die Entscheidung von London abwarten, wollen dankbar sein, wenn es der Geschicklichkeit unserer Unterhändler gelingt, uns davor zu bewahren, daß wir noch länger in diesem Zustand der Erregung der Welt bleiben, wenn die Möglichkeit geboten wird, unter Ausnutzung aller Verhandlungsmöglichkeiten innerhalb der von der Reichsregierung gezogenen Grenzen zu einer Verständigung zu kommen. Gelingt das nicht, dann wird auch der Spruch von Paris und London nicht das Ende der Entwicklung sein. Der Tag der Verständigung wird kommen, weil er kommen muß.
Wenn vorhin Herr Dr. Breitscheid daran Anstoß nahm, daß von dem Kollegen Hergt von einem Tag gesprochen wurde, an dem es wieder ein freies Deutschland gäbe, so glaube ich nicht, daß er recht hat, wenn er annimmt, damit sei irgendwie der Tag eines Revanchekrieges und seiner Beendigung gemeint. So töricht ist kein Mensch, daß er daran zu denken vermöchte. Aber ein Sehnen geht durch uns alle, daß wir den Tag erleben möchten, wo wir durch Vernunft und Verständigung wieder auf freiem Grund mit einem freien Volke stehen. Wir sehen in Ruhe der Entscheidung von London entgegen, wie ich überzeugt bin, daß wir in der großen sittlichen Frage der Schuld am Kriege mit Ruhe dem dereinstigen Spruch des Weltgerichts entgegensehen können.